Trotz Klagen und EU-Sperre: Bundesregierung bewirbt weiter Corona-Impfstoff von Astrazeneca

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Entscheidung von Brüssel hatte sich länger abgezeichnet. Klagen vom Impfgeschädigten anhängig. Bundesregierung bewirbt umstrittenes Vakzin weiter.

Das Pharmaunternehmen Astrazeneca hat vor Gericht offenbar erstmals eingeräumt, dass sein Covid-Impfstoff eine seltene Nebenwirkung verursachen kann. Dies könnte den Weg für eine millionenschwere rechtliche Entschädigung ebnen, berichtet eine britische Zeitung.

Das Pharmaunternehmen sieht sich in Großbritannien derzeit mit einer Sammelklage konfrontiert, weil sein Impfstoff, der zusammen mit der Universität Oxford entwickelt worden war, in Dutzenden Fällen Tod und schwere Verletzungen verursacht haben soll. Anwälte argumentieren, dass der Impfstoff eine Nebenwirkung verursacht hat, die für eine Reihe von Geimpften verheerende Auswirkungen hatte.

Auch die EU-Kommission hat den Covid-19-Impfstoff Vaxzevria von AstraZeneca aus ihrem Register der zugelassenen Impfstoffe entfernt, die Zulassung also zurückgezogen. Dies geht aus einem Durchführungsbeschluss der Kommission hervor, der am 27. März erstellt und erst kürzlich veröffentlicht wurde. Die Entscheidung trat am gestrigen Dienstag in Kraft, wie es im Dokument heißt.

Offiziell steht diese Entscheidung nicht im Kontext der Debatte über Nebenwirkungen. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht.

In Deutschland fast 13 Millionen Mal verabreicht

In Deutschland wurde der Impfstoff Vaxzevria vor der Aussetzung durch die Bundesregierung im März 2021 insgesamt 12.803.142-mal verabreicht.

Der Impfstoff erhielt von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) am 29. Januar 2021 eine Notfallzulassung. Im November 2022 wurde diese Zulassung erneuert und Ende Oktober desselben Jahres wurde das Produkt zur Standardvermarktung zugelassen.

Nun wurden in Brüssel kommerzielle Gründe für die Streichung aus der Empfehlungsliste angeführt. Die Klagen in Großbritannien dürften aber zu der Entscheidung beigetragen haben. Die britische Tageszeitung Telegraph jedenfalls schreibt:

In dem Rechtsdokument, das dem High Court im Februar vorgelegt wurde, erklärte AstraZeneca jedoch:

"Es wird eingeräumt, dass der AZ-Impfstoff in sehr seltenen Fällen TTS verursachen kann. Der ursächliche Mechanismus ist nicht bekannt. Außerdem kann TTS auch ohne den AZ-Impfstoff (oder jeden anderen Impfstoff) auftreten. Die Verursachung in jedem einzelnen Fall muss von einem Experten nachgewiesen werden."

Keine Nachfrage mehr nach Vaxzevria

Astrazeneca teilte der italienischen Nachrichtenagentur Adnkronos mit, dass es aufgrund der Verfügbarkeit einer Vielzahl wirksamer Impfstoffe gegen neue Varianten von Covid-19 keine Nachfrage mehr nach dem Vaxzevria-Impfstoff gebe.

Daher sei dieser nicht mehr produziert oder verteilt worden. Das Unternehmen rechnete auch nicht mit weiterer Nachfrage nach dem Produkt.

Man habe sich daher entschieden, die Zulassung für die Vermarktung von Vaxzevria innerhalb der EU zurückzuziehen.

Nicht nur in Italien: Rücknahme nach Zwischenfällen

In Europa wurden offiziellen Angaben zufolge rund 68,8 Millionen Dosen des Vaxzevria-Impfstoffs an Bürger über 18 Jahren verabreicht. Ursprünglich wurde der Impfstoff als sicher und wirksam eingestuft. Doch nach dem Start der Impfkampagnen in Europa mehrten sich Berichte über schwere Nebenwirkungen, darunter Sinusvenenthrombosen, also Blutgerinnsel im Gehirn, vorwiegend bei jüngeren Menschen.

Offiziell ist man in Brüssel, bei EU-Regierungen und natürlich bei Astrazeneca bemüht, eine Verbindung zwischen dem Rückzug des Vakzins und den vor Gericht anhängigen Verfahren wegen mutmaßlicher Nebenwirkungen in Abrede zu stellen.

Doch für diese Verbindung gibt es nachhaltige Indizien. In Italien etwa löste der Tod der 19-jährigen Camilla Canepa nach der Impfung mit Vaxzevria große Besorgnis aus.

Sie erlitt eine Thrombose, die tödlich endete. In der Folge wurde der Impfstoff in Italien zunächst nur noch an Personen über 60 Jahren verabreicht und schließlich komplett ausgesetzt.

Auch in Deutschland wurde der Impfstoff im späteren Verlauf des Jahres 2021 nur noch Patienten über 60 Jahren verabreicht und dann ganz vom Markt genommen.

Im Dezember 2021 lieferte Astrazeneca noch 2,8 Millionen Dosen an Deutschland aus. Diese wurde jedoch in Deutschland nicht mehr verimpft, sondern gingen an die globale Impfstoffinitiative Covax – wurden also Menschen in ärmeren Staaten verabreicht – das alleine wäre einer medizinethischen Debatte würdig.

Bundesregierung bewirbt Impfstoff weiter

Nach Italien folgten auch andere europäische Länder diesem Beispiel und setzten die Verabreichung des AstraZeneca-Impfstoffs aus. Heute wird der Vaxzevria-Impfstoff in Europa nicht mehr verwendet.

Ungeachtet dieser Entwicklungen bewirbt die Bundesregierung weiterhin den umstrittenen Impfstoff. Auf einem speziell eingerichteten Portal, das Corona-Impfungen empfiehlt, heißt es in einer Serie zur Impfkampagne: "AstraZeneca: Sicherer und wirksamer Schutz vor Covid-19".

Bis heute online, ohne Einordnung.

Der entsprechende Artikel aus dem Mai 2021 wird bei einer großen Suchmaschine an erster Stelle angezeigt, wenn Patienten nun nach den Schlagworten "Astrazeneca" und "Bundesregierung" suchen. Eine Einordnung fehlt.

Werbevideo: "Überragend positives Nutzen-Risiko-Verhältnis"

Für den Impfstoff von AstraZeneca sei die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission zweimal geändert worden – was einige Menschen verunsichere, heißt es in dem schon älteren Beitrag, der vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung weiterhin verbreitet wird.

Zu Wort kommt darin die Allgemeinmedizinerin Eva Hummers, die auch im Namen der Ständigen Impfkommission erklärt, "warum das Vakzin von AstraZeneca tatsächlich ein sehr guter Impfstoff ist – und gerade bei den Menschen ab 60 Jahren ein überragend positives Nutzen-Risiko-Verhältnis hat".

Großbritannien: Erste Klage eingereicht

Zwar ist die EU-Entscheidung relativ neu, hat sich aber seit einigen Wochen abgezeichnet. Die Bundesregierung hätte an dieser Stelle also so reagieren können. Zudem war die erste Klage bereits im vergangenen Jahr von Jamie Scott, einem zweifachen Vater, eingereicht worden.

Scott erlitt einen dauerhaften Gehirnschaden, nachdem er im April 2021 nach der Impfung ein Blutgerinnsel und eine Gehirnblutung entwickelt hatte, die ihn arbeitsunfähig machten. Das Krankenhaus informierte seine Frau dreimal, dass ihr Mann offenbar im Sterben liege.

Astrazeneca bestreitet die Vorwürfe, habe jedoch in einem im Februar beim High Court eingereichten Rechtsdokument akzeptiert, dass sein Covid-Impfstoff "in sehr seltenen Fällen TTS verursachen kann", so der Telegraph.

Schadenersatzforderungen von bis zu 100 Millionen Pfund

In Großbritannien wurden bisher 51 Fälle beim High Court eingereicht, in denen Opfer und trauernde Angehörige Schadenersatzforderungen stellen. Diese Forderungen werden auf eine Gesamtsumme von 100 Millionen Pfund geschätzt.

Astrazenecas Erklärung – die laut Telegraph im Verfahren gegen Scott vor dem High Court aktenkundig wurde – könnte zu konkreten Zahlungsverpflichtungen führen, wenn das Arzneimittelunternehmen akzeptiert, dass der Impfstoff in spezifischen Fällen die Ursache für schwere Gesundheitsschäden oder gar Todesfälle war.

Die Rücknahme des Vakzins in Mitgliedstaaten und gegebenenfalls auch in der EU dürfte konkret monetäre Interesse haben: Nach Angaben des Telegraph übernimmt die britische Regierung, die Kosten des Rechtsstreits. In Deutschland werden die Kosten für Impfschäden grundsätzlich vom Staat getragen.

Astrazeneca stellt Zusammenhang mit Schäden in Abrede

In einem Antwortschreiben, das im Mai 2023 an die Anwälte von Mr. Scott gesendet wurde, erklärte AstraZeneca, dass "wir nicht akzeptieren, dass TTS prinzipiell durch den Impfstoff verursacht wird".

TTS steht für das Krankheitsbild "Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom". Dieses führt zur Bildung von Blutgerinnseln an seltenen Stellen wie den Gehirn- oder Bauchgefäßen und zu einer geringeren Blutplättchenzahl.

Telepolis hat bei der Bundesregierung angefragt, ob und wie der umstrittene Wirkstoff von Astrazeneca weiterhin empfohlen wird.