Arbeitslosengeld II: Kinder bleiben weiterhin die Verlierer
Wieder einmal musste ein zusätzlicher Bedarf für Lernförderung mühsam gerichtlich erstritten werden - das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2010 ist in Vergessenheit geraten
Vor 8 Jahren: Bundesverfassungsgericht kritisiert den Regelbedarf für Kinder
In seinem Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09 - Rn. (1-220) hat das Bundesverfassungsgericht bezüglich des Regelbedarfs im Sinne des Sozialgesetzbuches (Arbeitslosengeld II, im weiteren ALG II genannt) deutliche Worte gefunden. Zwar sah das Gericht es als legitim an, dass der monatliche Bedarf durch eine Pauschalleistung abgegolten wird, es stellte jedoch auch fest, dass die Möglichkeit für Sonderzahlungen bei einmaligen bzw. höheren Bedarfen gegeben sein muss.
Wichtig war weiterhin, dass nicht nur eine transparente Neuberechnung des Bedarfes gefordert wurde, sondern auch der Regelbedarf für Kinder als falsch errechnet angesehen wurde. Vereinfacht ausgedrückt, betonte das Gericht, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Beides ignoriert die Bundesregierung seitdem geflissentlich und speist die ALG II-Bezieher stattdessen mit gelegentlichen minimalen Erhöhungen ab:
Der Gesetzgeber hat weder für das Sozialgesetzbuch Zweites Buch noch für die Regelsatzverordnung 2005 das Existenzminimum eines minderjährigen Kindes, das mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft zusammen lebt, ermittelt, obwohl schon Alltagserfahrungen auf einen besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarf hindeuten. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Ihr Bedarf, der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist. Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen hierzu unterlassen. Sein vorgenommener Abschlag von 40 % gegenüber der Regelleistung für einen Alleinstehenden beruht auf einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung.
(Urteil des BverfG vom 9.2.2010)
Um von der Tatsache abzulenken, dass eine solche Neuberechnung der Regelbedarfe für Kinder nicht politisch gewollt war, schuf die damalige zuständige Bundesministerin, Ursula von der Leyen, ein "Bildungspaket", dem damals nicht nur Telepolis die Note Mangelhaft erteilte.
Eine schillernde Seifenblase als Ablenkung
Frau von der Leyen gelang es vortrefflich, das Bildungspaket als großen Wurf zu verkaufen, der den hilfebedürftigen Kindern nicht nur beim Schulessen, sondern auch bei Klassenfahrten, Nachhilfe oder der Teilnahme am Musikunterricht neue Chancen eröffnen würde. Die Realität stellte sich anders dar: der jährliche Betrag von 100 Euro war nicht nur gering, er wurde auch an neue bürokratische und gesetzliche Hürden gekoppelt. Dies zeigte sich schon am Beispiel der Nachhilfe. Die Kosten hierfür wurden nur übernommen, wenn die Versetzung in die nächste Klasse bereits gefährdet war, außerdem musste bereits ersichtlich sein, dass die Nachhilfeleistung nur vorübergehend notwendig wäre.
Hinzu kam eine gerade beim Thema Nachhilfe absurd anmutende Regelung, die die Erstattung der Kosten an den Erfolg knüpfte. Schaffte es der Schüler trotz der Nachhilfe nicht in die nächste Klasse, wurde die Kostenerstattung abgelehnt. Während Frau von der Leyen schon von der Bildungschipkarte träumte und sich in gewohnter Manier als "Macherin" präsentierte, blieb die Diskussion darüber, wann eine verfassungsgerechte Berechnung der Regelsätze (nicht nur) für Kinder erfolgen würde, auf der Strecke.
Mühsames Erstreiten von Extrageldern
Acht Jahre später hat sich nichts verändert. Die Kritik bezüglich ALG II auf die SPD zu konzentrieren, ist leicht und angesichts der Rolle von Gerhard Schröder auch korrekt, doch sie nur auf die SPD zu lenken ist nicht angemessen. Weder die SPD noch die anderen im Bundestag vertretenen Parteien haben sich, was ALG II angeht, mit Ruhm bekleckert oder versucht, die Missstände zu beheben, die das Bundesverfassungsgericht anprangerte. Lediglich die Linke versuchte noch, das Thema aufzugreifen, den Medien war es meist jedoch lieber, über interne Streitereien oder vermeintliche Skandale bei der Partei zu berichten. So blieb das Thema Arbeitslosengeld II (und Bildungspaket) ein Thema, das es nicht mehr in die Nachrichten schafft.
Derweil erstreiten sich diejenigen, die ALG II erhalten, mühsam Gelderfür Schulbücher oder Lernförderung. Bereits das Urteil zu den Schulbüchern zeigt auch deutlich, wie realitätsfremd ein Bildungspaket in Höhe von 100 Euro jährlich ist. Bei der klagenden Schülerin ging es um 135,65 Euro allein für die Schulbücher. Der grafikfähige Taschenrechner, so entschied das Gericht, sei aus dem Regelbedarf zu zahlen. Für Nachhilfe, Klassenfahrten oder ähnliches wäre insofern kein Geld aus dem Bildungspaket mehr vorhanden da dies bereits durch die Schulbücher aufgebraucht ist.
Und auch das jüngste Urteil des Bundessozialgerichtes in Kassel macht deutlich, dass ALG II-Bezieher weiterhin mühevoll vor Gericht ziehen müssen damit, wie im vorliegenden Fall, beispielsweise ein Kind mit einer Lese-Rechtschreibschwäche auch dauerhaft gefördert wird. Das Jobcenter hatte eine solche Förderung verweigert, weil die Übernahme der Nachhilfekosten nur bei einer Gefährdung der Versetzung zugebilligt werden könnte. Das Bundessozialgericht sah dies anderes, es differenzierte zwischen Nachhilfe und Lernförderung. Ziel der Förderung sei hier nicht eine Versetzung in eine nächsthöhere Klasse, sondern das Erlernen der Kulturtechniken Lesen und Schreiben.
Dieses Urteil dürfte nicht das letzte seiner Art sein, denn seit Jahren liegt das Thema "kindesgerechter Regelbedarf" brach. Wie ironisch, dass im Koalitionsvertrag ausgerechnet die Parteien, die das Urteil des BverfG geflissentlich ignorieren, beim Thema Kinderrechte konstatieren: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen." Wenn es um Transferleistungen geht, sieht man dies wohl anders.