Arbeitsmarkt im Umbruch: Droht jetzt die "postindustrielle Nicht-Leistungsgesellschaft"?

Gewerkschaften im Aufwind: Die Machtverschiebung am Arbeitsmarkt könnte die Industrielandschaft verändern. Manche Unternehmer kontern mit radikalen Forderungen.

Das Wirtschaftssystem in Deutschland und anderen reichen Industriestaaten steckt in einer Krise. Der demografische Wandel in den westlichen Gesellschaften lässt allerorten die Klagen über einen Mangel an Fachkräften erklingen. Die Zahl der Arbeitslosen geht zurück, was zunehmend die Verhältnisse am Arbeitsmarkt in Richtung der Beschäftigten verschiebt.

In Deutschland streikt die IG Metall inzwischen für eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Vor Jahren war das noch eine Forderung, die höchstens von radikalen Splitterparteien erhoben wurde – heute ist sie in den Tarifverhandlungen angekommen.

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann begründete den Vorstoß seiner Gewerkschaft damit, dass die Arbeitsbedingungen zum Leben passen müssen. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) sagte er kürzlich:

Und das Leben und die Lebensentwürfe der Menschen haben sich geändert. Mehr Singlehaushalte, mehr Wunsch nach partnerschaftliche Aufgabenteilung. Da ist es notwendig, auch Arbeitszeiten anzubieten, die dies ermöglichen, damit Industrie- und Handwerksunternehmen in Zukunft noch junge Fachkräfte gewinnen.

Jörg Hofmann

Ab 2026 könnte die Arbeitszeit auf 32 Stunden in der Woche begrenzt werden, so Hofmann. Die Forderung gilt momentan zwar in erster Linie für die Stahlindustrie, aber mittelfristig soll die Vier-Tage-Woche auch in anderen Bereichen Gegenstand der Tarifverhandlungen werden.

Dass sie durchsetzbar sein könnte, sieht Hofmann mit den veränderten Bedingungen am Arbeitsmarkt als gegeben an. "Der Arbeitsmarkt hat sich nun mal gedreht", sagte er. "In der Frage, wer über Arbeitsbedingungen bestimmt, ist insbesondere für junge Arbeitskräfte die Verhandlungsmacht deutlich gewachsen."

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in den USA ab. Dort bestreikt die Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) Fabriken der drei größten Autobauer. Dort kämpfen die Arbeiter für eine Lohnerhöhung von fast 40 Prozent, eine Vier-Tage-Woche, leistungsorientierte Renten und eine vom Unternehmen finanzierte Gesundheitsversorgung im Ruhestand.

Den deutlichen Lohnzuwachs fordert die UAW, weil sich das Management in den vergangenen Jahren üppige Gehaltssteigerungen gönnte. Laut Washington Post sagte UAW-Präsident Shawn Fain in der Sendung "Face the Nation":

Und der Grund, warum wir 40 Prozent Lohnerhöhungen gefordert haben, ist, dass allein in den letzten vier Jahren das Gehalt der Vorstandsvorsitzenden um 40 Prozent gestiegen ist.

Shawn Fain

Die Konzerne boten allerdings nur eine Lohnerhöhung von 21 Prozent über vier Jahre an, was nach Meinung von Fain "definitiv ein No-Go" ist. Aus Sicht der Unternehmen ist das Angebot eines der besten in der Geschichte. Man könne nicht alle Forderungen erfüllen, wolle man weiterhin profitabel bleiben.

In Deutschland sind ähnliche Aussagen aus den Führungsetagen zu vernehmen. Die Diskussion um die Vier-Tage-Woche sei nicht nachvollziehbar, sagte Michael Traub, Vorstandsvorsitzender des Familienunternehmens Stihl, dem Handelsblatt. "Diese Diskussion über eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich kommt in einer Situation, in der schon viele Nachteile gegen den Standort Deutschland sprechen und wir in einer Rezession stecken."

Die Forderung sei indiskutabel und sie wäre das Ende des Industriestandorts Deutschland. "Nicht gleich, aber mit Sicherheit auf Dauer", so Traub. Man müsse aufpassen, dass sich Deutschland "nicht zur Wohlfühloase in der postindustriellen Nicht-Leistungsgesellschaft" entwickle. Und wenn sich die Gewerkschaft durchsetzen solle, dann werde man das internationale Produktionsnetzwerk verstärkt nutzen und anderswo produzieren.

Traubs Argumentation klingt harmlos im Vergleich mit den Äußerungen des australischen Immobilienmoguls Tim Gurner. Bei einem Immobiliengipfel sagte er kürzlich, der Wandel hin zu einem arbeitnehmerfreundlichen Klima habe zu einer Arroganz auf dem Arbeitsmarkt geführt.

Die Menschen hätten durch die Coronapandemie beschlossen, nicht mehr so viel arbeiten zu wollen. In den vergangenen Jahren hätten sie viel Geld für wenig Arbeit bekommen – und das müsse sich nun ändern. Damit dies gelinge, müsse die Arbeitslosenquote um 40 bis 50 Prozent gesteigert werden.

"Meiner Meinung nach müssen wir den Schmerz in der Wirtschaft sehen. Wir müssen die Menschen daran erinnern, dass sie für den Arbeitgeber arbeiten und nicht umgekehrt", sagte er. Und weiter:

Wenn es einen systematischen Wandel gibt, bei dem die Arbeitnehmer das Gefühl haben, dass der Arbeitgeber froh ist, sie zu haben, und nicht umgekehrt, dann ist das eine Dynamik, die sich ändern muss. Wir müssen diese Einstellung beseitigen.

Tim Gurner

Nach Kritik von Politikern und Gewerkschaftern ruderte Gurner zurück und erklärte, seine Äußerungen zu bedauern. Seine Worte seien gegenüber den Menschen in Australien zutiefst unsensibel gewesen, sagte er laut BBC.

Seine Worte sind allerdings auch Ausdruck von einem tiefen Konflikt in der australischen Gesellschaft. Dort streiten sich viele Unternehmen – wie in anderen westlichen Staaten – mit ihren Mitarbeitern über Themen wie Fernarbeit und die Bezahlung. Und insofern spiegeln sie nur eine gewisse Radikalisierung der Unternehmerschaft wider, die auch in anderen Ländern aufkeimen könnte.

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