Arbeitszeiterfassung: Ein Jahr nach Gerichtsurteil fehlt noch immer ein Gesetz

(Bild: Susanne Plank, Pixabay)

Bundesarbeitsgericht forderte Zeiterfassung für alle Unternehmen. Bundesregierung scheint untätig, die Wirtschaft mauert. Warum es noch immer keine klaren Vorgaben gibt.

Vor einem Jahr fällte das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine bahnbrechende Entscheidung: Unternehmen haben die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten zu dokumentieren. Da der Beschluss offen lässt, wie diese Zeiten zu erfassen sind, per Personal-Software, über Excel-Dateien, mit Papier und Kugelschreiben, ist der Gesetzgeber gefordert.

Direkt nachdem die Richter ihre Entscheidung bekannt gegeben hatten, kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ein Gesetz dazu an. Obwohl es inzwischen einen ersten Entwurf Heils gibt, fehlt ein Beschluss des Bundeskabinetts.

In den Betrieben herrscht deshalb weiterhin Unsicherheit, da viele Unternehmen eine Absicherung der Belegschaften durch Arbeitszeitdokumentation ablehnen. Als Argument nennen Manager häufig, dass ein Gesetz dazu fehle. Dass gerade Unternehmensfunktionäre für ein Ausbleiben dieser Regelung sorgen, bleibt dabei unerwähnt. Dabei bezeichnet Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf den Entwurf Heils als "Affront".

Ein Blick auf die Entwicklung der Managementstrategien zeigt, warum die Zeiterfassung ein so umstrittenes Thema ist. Zu Beginn der Industrialisierung drängten die Unternehmer auf eine akribische Kontrolle der Arbeitszeiten aller Beschäftigten. Leistung sollte gemessen, einzelne Arbeitsschritte etwa in Henry Fords Produktionshallen auf die Sekunde genau vorgegeben werden, um den Profit pro zusammengeschraubtem Auto zu steigern.

Heute lassen sich viele Arbeitsprozesse dank neuer Technologien nicht mehr zentral steuern. Bisher klare Anweisungen für einzelne Arbeitsabläufe oder Genehmigungsverfahren beim direkten Vorgesetzten werden durch ein neues Führungskonzept abgelöst. Das Prinzip der "indirekten Steuerung" ist in vielen Unternehmen bestimmend. Insbesondere die IT-Branche gilt als Paradebeispiel für diesen Ansatz.

Aber auch in anderen Branchen lassen sich Elemente dieses Steuerungskonzeptes erkennen. Indirekte Steuerung findet dort statt, wo sich Beschäftigte in eigener Verantwortung direkt am Markt gegenüber dem Kunden orientieren müssen.

Auf den ersten Blick ist die indirekte Steuerung für die Beschäftigten positiv. Sie können eigenverantwortlich arbeiten und eigene Ideen entwickeln. Problematisch wird das Konzept jedoch, wenn die Ziele – wie allzu oft – zu hoch gesteckt werden. Denn dann ist nicht "der Weg" entscheidend, sondern der Mitarbeiter entscheidet selbst, wie er ein Ziel erreicht.

Die Konsequenz: Die Unternehmensleitung verzichtet auf die Erfassung von Zeiten, auf die Kontrolle von Höchstarbeitszeiten, denn entscheidend ist das "Ergebnis", unabhängig von der benötigten Arbeitszeit. Erschwert wird dieses Geschäftsmodell durch die Pflicht zur Zeiterfassung – was die massiven Proteste vieler Unternehmen gegen eine solche Pflicht im Sinne des Arbeitsschutzes erklärt.

Die Entscheidung des BAG vom 13.09.2022 (Az.: 1 ABR 22/21) ist eine klare Vorgabe für jedes Unternehmen: Der Unternehmer ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System zur Erfassung der von den Beschäftigten geleisteten Arbeitszeit einzuführen. Es kann nicht an die Beschäftigten delegiert werden, ein solches System selbst einzurichten, etwa indem Mitarbeiter A alles auf Papier aufschreibt, B eine Excel-Tabelle verwendet und C eine App nutzt.

Für die Richter ist klar: Die Messung der tatsächlichen Arbeitszeit wird dazu beitragen, dass die gesetzlichen Höchstarbeitszeiten und die vorgeschriebenen Ruhezeiten besser als bisher eingehalten werden. Verstöße gegen die gesetzlichen Arbeitszeitregelungen kommen die Unternehmen allerdings teuer zu stehen: Ergibt die Zeiterfassung, dass Beschäftigte über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus arbeiten, können sie Zeitausgleich oder Überstundenzuschläge verlangen.

Die Folgen entgrenzter Arbeit ohne Zeiterfassung und mit Ausdehnung in den privaten Bereich beschreibt der DGB regelmäßig in seinem "Index Gute Arbeit".

Die Entscheidung des BAG vom 13.09.2022 kam nicht überraschend. Denn bereits im Jahr 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einem Urteil für Schlagzeilen gesorgt: Beginn und Ende der Arbeitszeit müssen systematisch erfasst werden.

Die Praxis sieht anders aus: Nur 59 Prozent der Unternehmen kommen ihrer Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nach, ergab eine Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom. Insgesamt hat ein Drittel der befragten Unternehmen bereits vor dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter erfasst, ein Viertel hat danach damit begonnen.

Die fehlende gesetzliche Regelung führt dazu, dass Gewerkschaften und Betriebsräte in einer Art "Häuserkampf" versuchen, die Zeiterfassung in einzelnen Betrieben durchzusetzen. Das Landesarbeitsgericht München hat beispielsweise mit seiner Entscheidung vom 22.05.2023 den Betriebsräten eine wichtige Unterstützung gegeben. Danach hat der Betriebsrat ein Initiativrecht für die Ausgestaltung der Zeiterfassung. Das Unternehmen kann sich "nicht darauf berufen, noch nicht entschieden zu sein, ob er sich rechtmäßig verhalten und der Pflicht zum Handeln nachkommen möchte", so die Richter.

Solange die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zu diesem wichtigen Thema schuldig bleibt, bleibt den Arbeitnehmervertretern wohl nur der Gang vor Gericht.

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