Architektur ohne Architekten: Zurück in die Zukunft des Bauens
Alte Konzepte neu gedacht. Impulse für eine zukunftsfähige Architektur. Was wir vom traditionellen Bauen weltweit lernen können.
Dem englischen Philosophen und Humanisten Thomas Morus wird der schöne Satz zugeschrieben, dass Tradition nicht das Halten der Asche sei, sondern das Weitergeben der Flamme. Wenn man diesen Satz auf die Architektur bezieht, dann scheint das Feuer freilich erloschen.
Das Bauen gleicht einem technokratischen Akt und ist eher zum Gegenstand allgemeinen Unbehagens geworden. Verloren ist ein Habitat, das sich als Gedächtnis der Wohnwünsche der Menschen begreift, als Speicher für das Wissen darum, wie man sich in der Welt verortet.
Lebenswerte Bedingungen
Umso mehr scheint es angeraten, einen Blick darauf zu werfen, wie und welche Wege der Mensch gefunden hat, sich mittels Architektur lebenswerte Bedingungen zu schaffen. Worauf Bernard Rudofsky einmal den Begriff "Architecture without Architects" prägte, also das anonyme, tradierte Bauen, ist kulturgeschichtlich wieder von Belang.
Ob auf den Kykladen, in der Sahelzone oder in Japan – man sollte nach jenen anthropologischen Konstanten forschen, die für das moderne Bauen fruchtbar gemacht werden können.
"Mashrabia" und das Licht
In Vorderasien verfügen die Häuser über Holzbalustraden in den oberen Stockwerken, die Fensteröffnungen sind durch ein fein gedrechseltes Kunstwerk aus Holz versehen, das das helle Licht gut absorbiert.
Diese Holzgitter werden "Mashrabia" genannt. Man kann zwar von innen hinaussehen, aber niemand kann hineinschauen. Sie sind nicht (nur) Dekor, sondern funktionaler Teil der Architektur – wie auch sternförmige Öffnungen in der Gewölbedecke; die in ihrem Zusammenspiel wunderbare Lüftung im heißen und extremen Klima mit gleißendem Sonnenlicht bringen.
Rundhäuser in Südchina
In der südchinesischen Provinz Fujian hat die ethnische Minorität der Hakka eine so prägnante wie wehrhafte Architektur entwickelt: Festungsgleiche Rundhäuser, bis zu 70 Meter im Durchmesser und mit 10 Meter hohen Lehmmauern, nur ein paar winzige Fenster weit oben, die eher Scharten gleichen.
Die Suche nach Parallelen ist vergeblich, allenfalls bietet die Stierkampfarena ein Behelfsbild. Innen überwiegt Holz; sonnenverbrannt, fast schwärzlich, kleidet es die Bauten mit Holzbalkonen aus, auf denen die einzelnen Zimmer zu erreichen sind.
Nicht horizontal, sondern vertikal sind die Wohnsegmente angeordnet, wie Tortenstücke also, so dass eine Familie vom Erdgeschoss bis unters Dach wohnt.
Windtürme
Oder die Technik des Windturms, wie sie sich am arabischen Golf etabliert hat – sie ist ein anderes, wirkmächtiges Beispiel: Denn damit lassen sich ganz ohne Kompressoren und ohne Kältemitteleinsatz die Temperaturen in Innenhöfen und Räumen auf ein erträgliches Niveau drücken.
Neue Leitfragen
Die Moderne und ihre gestalterische Revolution war ohne die technischen Errungenschaften der Industrialisierung nicht vorstellbar. Das Hochhaus aus Glas und Stahl mag zwar noch immer eine prägende Manifestation unserer Konsumkultur darstellen, spiegelt aber keineswegs zeitgenössische Leitfragen, wie Angemessenheit oder das Nachdenken über Suffizienz.
Zwischen Baustoff, Bauweise und Bauform besteht ein wechselseitiger Zusammenhang. Das industriell erzeugte Produkt sieht deshalb anders aus als das handwerklich hergestellte.
Zwischen einer massiven Ziegelmauer und einer mit Abstand vor Betonwand und Isolierschicht gesetzten Ziegelvorsatzschale ist der Unterschied auch in der Erscheinung fundamental, das qualitative Gefälle unübersehbar.
Ein anderer Aspekt ist ästhetischer Natur. Er betrifft das Verhältnis von Innovation und Konvention. Im Zeichen der Avantgarden gewann das Kriterium des Neuen hohen Stellenwert. (Mit großem Pathos ist ja etwa eine "neue Architektur" für den "neuen Menschen" beschworen und postuliert worden).
Die Entfremdung mit dem Neuen Bauen
Die Informationsästhetik erklärte uns, was wir längst wissen konnten, dass Neues nur im Kontext mit Bekanntem die Chance hat, verstanden zu werden. Wenn das Maß des Neuen zu groß ist, tritt Entfremdung ein. Und das war mit dem Neuen Bauen zweifellos der Fall.
Diese Entfremdung gibt es nach wie vor. Doch unser zeitgenössisches Bauen ist von einer Vielzahl an Defiziten und strukturellen Unzulänglichkeiten geprägt. Zumindest zweierlei lässt sich aus diesem Problemkonvolut als Essenz herausfiltern:
1. Wenn man Evolution als ständig gesteigerte Differenzierung, als Entfaltung von Unverwechselbarkeit versteht, dann steht das, was man heute beobachten muss – nämlich einen kontinuierlichen Prozess der Vermischung, Nivellierung, einen kontinuierlicher Verlust von Unverwechselbarkeit – dem diametral entgegen.
Mit Blick auf die Architektur wäre daraus zu folgern, dass Unverwechselbarkeit eben nicht Einmaligkeit und Novität um jeden Preis bedeutet. Wenn alle auf dem Individualitätstrip sind, ist dies ein Verlust von Individualität: Überall das gleiche Gemisch extremer Unikate.
2. Im Kern ist das architektonische Entwerfen zu einer eigenartigen Mischung aus Konservatismus und Kreativität verdammt. Es ist konservativ in dem Sinn, dass es auf Lösungen zurückgreift, die sich in langen Prozessen stillschweigenden Austestens bewährt haben. Zugleich ist es zur Kreativität verdammt, weil die Lösungen an einen ständigen Wandel von Bedingungen angepasst werden müssen.
Denn Kultur setzt sich nicht aus Elementen zusammen, die beliebig auseinandergenommen und wieder zusammengefügt werden können; sie muss gelebt werden. Sie ist mehr als eine objektbezogene, externe und feststehende Realität, die bewusst umgesetzt und gestalterisch ausgedrückt werden kann.
Sie ist eine Einheit, die aus Fakten besteht und aus dem, was wir glauben, aus der Geschichte, aus der Gegenwart, aus materiellen Realitäten und geistigen Abbildern.
Die Wiederverwendbarkeit einzelner Stoffe
Wenn man das in die Architektur übersetzt, dann bedeutet das beispielsweise: Einen Schwerpunkt zukunftsgewandter Entwicklung wird die Wiederverwendbarkeit einzelner Stoffe und somit die Reversibilität von Baukonstruktionen und Baustoffen sein.
Ein gutes Beispiel sind historische Holzbau-Konstruktionen, die vielfach um- und nachgenutzt bzw. recycelt wurden. In Zukunft wird Rohmaterial teurer werden und der intelligente Einsatz bzw. qualifizierte Handwerklichkeit in den Vordergrund treten.
Klimagerechtes Bauen
Mehr noch: In vorindustrieller Zeit war die Architektur zwangsläufig klimagerecht. Dies ist ablesbar an den regional unterschiedlichen Bauweisen. Ein Gebäude in Griechenland war anders strukturiert als eines in Skandinavien. In den Bergen baut man anders als am Meer.
Geometrie, Farbgebung, Fensterflächen, Dachformen, aber auch Grundrissgestaltung waren an die herrschenden Klimabedingungen so weit wie möglich dergestalt angepasst, dass mit möglichst geringem Energieeinsatz ein möglichst hoher Komfort für die Gebäudenutzer erwuchs.
Traditionelle oder autochthone Alltagsarchitektur, wie sie überall auf der Welt bis tief in unser Jahrhundert hinein existierte, wird äußerlich von der Form und den örtlich verfügbaren Baustoffen geprägt.
Meister des Energiesparens
Betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt des Energiesparens, so entpuppt sie sich in der Regel als meisterhaft durchdacht und wirkungsvoll. So weist etwa die Halbkugel des Iglu, der Schneehütte der Eskimos, die kleinste Oberfläche bei gegebenen Rauminhalt auf und somit den geometrisch geringstmöglichen Wärmeverlust.
Aber auch der alpine Bauernhof manifestiert sich als Musterbeispiel für solches, dem lokalen Klimaerfordernissen angepasstes Bauen.
Es gehorcht einer breiten Palette an Anforderungen, indem es Topographie, Vegetation und Gewohnheiten einbezieht: nach Süden gerichtet (für passive Solarnutzung), oft in einen Hang eingebettet, kleine und gedrungene Hausform bevorzugend, wärmedämmender Heuboden, Nadelbäume und Hügel als Windbrecher, Vorratsräume vielfach im Erdboden.
Der Blick auf ein Ganzes
Damit soll nun weder einem romantisierenden Traditionsverständnis das Wort geredet noch der Eindruck erweckt werden, dass dies unmittelbar übertragbar wäre. Was man indes zur Kenntnis nehmen sollte, ist, dass der Blick auf ein Ganzes in unserer zur (Über-) Spezialisierung neigenden Welt tendenziell verloren geht.
Viele zeitgenössische Ikonen der Architektur sind mit einem Übermaß an Technologie ausgestattet, um etwa den Energiebedarf zu reduzieren. Doch bei zunehmender Technisierung nimmt das Fehlerrisiko ebenso zu wie ein inadäquates Nutzerverhalten. High-tech-Gebäude verbrauchen in der Realität oftmals weit mehr Energie als auf dem Papier geplant und errechnet.
Liegt es da nicht auf der Hand, auf eine Architektur zu setzen, die sich wieder stärker in ihren gesellschaftlichen Kontext rückbindet? Die sich regionalisiert in Bauweisen, Formen und Konstruktionen? Die sich besinnt auf einfache, möglichst wenig technisierte, gut durchdachte Konzepte?
Exemplarische Entwicklungen
Wie etwa das Khudi Bari – das "kleines Haus" –, das die bangladeschische Architektin Marina Tabassum entwickelt hat. Es handelt sich um eine zweistöckige Grundkonstruktion aus Bambus und Holz, die von Metallelementen verbunden und mit Leichtmetall und Schilf verkleidet wird.
Klingt banal, ist aber angesichts der immer heftiger auftretenden und zugleich schwieriger vorherzusagenden Fluten im Ganges-Delta von eminenter Bedeutung. Denn der Clou besteht darin, dass die Khudi Baris im Vergleich zu den tradierten Behausungen der Deltabevölkerung wesentlich leichter zu transportieren sind, dass sie sich schneller auf- und abbauen lassen und weniger kosten.
Marina Tabassum versteht Architektur und Bauen als kollektive Tätigkeit, die immer im Dialog stattfinden müsse. Und die simple modulare Bauweise führt zu vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, die eine ständige Adaption an Umweltbedingungen erlaubt.
Tradition und Wissen
Es ist wenig fruchtbar, Tradition schon deshalb mit überholten konservativen Wertvorstellungen gleichzusetzen, weil es zwangsweise zu ihrem Wesen gehört, älter als wir zu sein. Das adressiert weniger ein überkommenes Stil- und Formenrepertoire als vielmehr haushaltendes Wissen und kongeniale Kreativität im Umgang mit Ort, Klima und Material.
Implizit verbindet er damit die Botschaft, dass wir den Begriff "Tradition" zum besseren Gebrauch von seinen assoziativen Verunreinigungen befreien und bewusst reduziert als das Herbeischaffen und Ausliefern von historischem Tatsachenmaterial verstehen sollten. Nicht mehr und nicht weniger.