Argentinien war schon vor Corona bankrott
Produktion und Konsum befinden sich seit den Corona-Maßnahmen im freien Fall, die Steuereinnahmen brechen ein, die Ausgaben explodieren
Eigentlich hatte sich Präsident Alberto Fernández strikt an die Empfehlungen der Weltgesundheits-Organisation (WHO) halten wollen und am 12. März eine rigorose Ausgangssperre verhängt, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige an Corona erkrankt waren, Reisende aus Europa. Bis heute sind in Argentinien 61 - Covid-19-Positive verstorben.
Fernández begründete das mit den Argumenten der WHO: Ansteckungskurve verlangsamen und Krankenhäuser auf den Ansturm vorbereiten! Die VR China hatte mit diesen Maßnahmen das Virus unter Kontrolle gebracht, und fast alle Staaten des globalen Nordens folgten diesem Beispiel, mehr oder minder erfolgreich. Doch Argentinien liegt auf der südlichen Halbkugel. Kann dort mit den Ratschlägen der WHO Covid-19 gestoppt werden? Die Bedingungen sind gänzlich andere. Das Land war schon vor Corona praktisch bankrott. Wird die Therapie - das Einsperren der Bevölkerung, der Einsatz der Militärs und das Lahmlegen der Wirtschaft - schlimmere Folgen haben als das Virus?
Schulen, Kindergärten und Universitäten wurden geschlossen, Veranstaltungen, Kino, Theater. Geschäfte und Fabriken sind zu, ebenso Restaurants, Kneipen und Parks. Vor den großen Supermärkten bilden sich lange Schlangen, Einkaufswagen werden vollgepackt mit Nudeln, Mate-Tee und Putzmitteln. Aber die kleinen Supermärkte, meist in Hand von Chinesen, sind leer und die Regale voll. Wein und Spirituosen im Überfluss, Konserven, Kekse. Klopapier, soweit das Auge reicht. In den meisten argentinischen Badezimmern steht, neben der Toilette, ein Bidet. Diese Ängste haben seine Kunden nicht, sagt der Mann an der Kasse. Aber sie haben kein Geld.
Die verordneten Preiskontrollen greifen wenig, nicht einmal im eigenen Ministerium für Soziale Wohlfahrt. Dort wurden zu weit überhöhten Preisen Grundnahrungsmittel eingekauft, 15 politische Beamte wurden entlassen.
Wegen der Schließung der Banken wurde das Geld knapp. Nicht alle Argentinier haben ein Bankkonto und Scheckkarte. Deshalb musste die Geldhäuser wieder geöffnet werden, um wenigstens die Rentner zu bedienen. Es kam, was kommen musste: Aus Angst, das Geld würde knapp, bildeten sich schon Stunden vor Öffnung lange Schlangen, und dort standen dann die Alten - Risikogruppe Nr. Eins - eng gedrängt. "Lächerlich" - so die Schlagzeile einer Reuters-Meldung, die um den Globus ging.
Erst am 10. Dezember hatte der Peronist Fernández die Amtsgeschäfte übernommen. Er dachte, dass sein Hauptproblem die gewaltigen Auslandsschulden seien, die sein Vorgänger aufgetürmt hatte. Der IWF saß und sitzt ihm im Nacken, und noch aggressiver sind die Vermögensverwalter BlackRock und Templeton, die argentinische Titel halten. Argentinien befand sich im Dezember am Rande des Staatsbankrotts und schlimmer, hoffte Fernández, konnte es nicht mehr kommen.
Und dann kam Corona. Produktion und Konsum befinden sich seitdem im freien Fall, die Steuereinnahmen brechen ein. Die Ausgaben explodieren: Beamte und Angestellte müssen weiterbezahlt werden, Fabriken fordern Subventionen und der Mittelstand und die Freiberufler Unterstützung. Ein großer Teil der Ökonomie ist Schattenwirtschaft. Leute arbeiten schwarz und leben von der Hand in den Mund.
Jetzt sollen die Bezieher der Mindestrente von 150 Euro einen Zuschlag erhalten, etwa 40 Euro. Im Monat. Selbständige der unteren Kategorie sollen 110 Euro bekommen. Steuervorauszahlungen und Kreditraten können gestundet, Mieterhöhungen und Wohnungsräumungen ausgesetzt werden. In den Vorstädten werden Lebensmittel verteilt, Volksküchen und Tafeln arbeiten auf Hochtouren. Doch das sind Tröpfchen auf den heißen Stein. Kellner, Verkäufer und Handwerker haben keine Ersparnisse. Die, die auf der Straße leben, sowieso nicht.
Der IWF könnte mit Milliarden-Finanzspritzen aushelfen. Tut er aber nicht. Die Weltbank stellte kümmerliche 300 Millionen Dollar für die Unterstützung der Ärmsten in Aussicht. Für die Einrichtung von elf Gesundheitszentren erhielt die Regierung weitere 15 Millionen des regionalen Investitionsfonds Fonplata. Das wird nicht reichen.
Auf der nördlichen Halbkugel hingegen wird jetzt Geld wie Heu verteilt. Böse Zungen sagen, dass sich die Konzerne mit öffentlichen Finanzmitteln über die bereits im letzten Jahr begonnene Rezession retten wollen. Die Europäische Zentralbank will ihre umstrittenen Anleihekäufe fortsetzen und Milliarden an die Konzerne verteilen. Und der US-Kongress hat zwei Billionen Dollar locker gemacht.
Diese Hilfsprogramme lösten an den Börsen des globalen Nordens Begeisterung aus. Jetzt sei der richtige Moment, Aktien zu kaufen, wissen Insider. Argentinien wehrte sich schon VOR Corona nicht gegen die Übernahme ihrer in Wall Street gelisteten Konzerne durch US-Vermögensverwalter. Jetzt sind diese Übernahmen besonders günstig, und die Regierung in Buenos Aires unternimmt nichts, um die neue Konzentration und den Ausverkauf zu verhindern. Dass riesige Ländereien der fruchtbaren Feuchten Pampa im Besitz von ausländischen Fondsgesellschaften sind, ist nach wie vor kein Thema.
In Buenos Aires kontrollieren Polizisten die Ausnahmegenehmigungen und fischen Unberechtigte aus den Bussen. 6000 Personen wurden in 10 Tagen verhaftet, 1000 Autos beschlagnahmt. Noch ist es ruhig in Argentinien, die Menschen haben Angst. Die Schockstarre verhindert Fragen nach dem Sinn mancher Maßnahmen: Warum wurden die Parks geschlossen und Jogger festgenommen? Wie wirkt es sich auf die Gesundheit aus, wenn Leute wochenlang auf wenigen Quadratmetern festsetzt werden? Trinken sie ihre Einsamkeit weg? Nehmen Herz- und Kreislaufbeschwerden und Diabetes zu? Werden sie depressiv und nehmen sich gar das Leben?
In Argentinien wird statistisch jeden Tag eine Frau von ihrem Mann oder ihrem Ex totgeschlagen. 24 Stunden eingesperrt sein, wird die häusliche Gewalt und den sexuellen Missbrauch der Kinder noch anfachen. Diese Meldungen finden derzeit selten den Weg in die Schlagzeilen, und vermutlich werden diese Todesfälle, die im Zusammenhang mit den Restriktionen stehen, nicht separat erfasst werden.
Die Sicherheitskräfte sind in den armen Stadtvierteln omnipräsent. Dort leben viele Familien in einem einzigen Raum, drei Generationen. Wie soll dort Abstand gewahrt werden? "Es kommt zu Menschenrechtsverletzungen", so Rechtsanwalt Marcos Filardi. "Gleichzeitig wird uns eingetrichtert: bleib zu Hause, misch dich nicht ein. Um die Krise zu bewältigen, sollten wir auf die Gemeinschaft und die Solidarität setzen - statt auf Individualismus, Rette-sich-wer-kann und Repression." Obwohl die Verfassung den Einsatz des Militärs im Inneren verbietet, verteilen in manchen Vorstädten Soldaten in Kampfuniform Lebensmittelpakete und Suppe.
Anfangs schienen die Wohlhabenden schuld an Covid-19 zu sein. Sie hatten es aus Europa eingeschleppt. Und die "Schönen und Reichen" können gut mit den Beschränkungen leben. Ihre Wohnzimmer wurden in Gymnastikräume umgewandelt. Viele packten Kind und Kegel ins Auto und fuhren aufs Land, in ihre Villen in den privaten Vierteln vor den Toren der Hauptstadt, wo sie ihr Weekend verbringen, mit Swimmingpool und Tennisplatz. Dort kontrolliert sie auch in Corona-Zeiten keiner. Die Behörden erteilten sogar den dort angestellten Gärtnern eine Ausnahmegenehmigung. Schließlich müssten die privaten Parks gepflegt werden, um die Mückenplage zu bekämpfen, erklärten sie.
Die Vizepräsidentin Cristina Kirchner setzte sich einen Tag nach der Verhängung der Ausgangssperre in eine Maschine der kubanischen Airline und flog nach Havanna. Nach einer Woche Karibik kam sie mit ihrer 29-jährigen Tochter nach Buenos Aires zurück. Gegen beide Frauen ermittelt die Justiz wegen Geldwäsche. In den Umfragewerten fällt ihre Popularität seitdem. Ihr früherer Vizepräsident, Amado Boudou (verurteilt wegen Korruption), wurde gestern aus der Haft entlassen, wie zuvor andere Mitglieder ihrer früheren Regierung.
Die Regierung will Zeit gewinnen und die Quarantäne bis zum 23. April verlängern, Ende offen. Doch Verbote und Repression allein sind kein Plan. Und die Zeit spielt gegen sie. Die fortgesetzte Ausgangssperre wird das Land endgültig in den Ruin treiben, mit Plünderungen und Hungerrevolten ist zu rechnen. In Europa wird es ab April warm. In Argentinien fängt dann der Herbst an. Ab Mai wehen eisige Winde aus Patagonien. Jedes Jahr erkälten sich die Menschen, da ihre Wohnungen schlecht oder gar nicht isoliert und vernünftige Heizungen selten sind. Mai und Juni sind Grippe-Monate. Und wenn dann - in einer Atmosphäre der Panik - Corona hinzukommt - weiß niemand, was passieren wird.
Über die Situation in Buenos Aires hat die Autorin einen Film (22 Min.) gedreht. Der Film entstand ohne Finanzierung von dritter Seite; Spenden über Paypal: gaby.weber@gmx.net oder über Comdirect: IBAN DE53 2004 11550192 074300 - BIC COBADEHD055