Arme an den Stadtrand?
Das Deutsche Institut für Urbanistik warnt vor der zunehmenden sozialen Spaltung in deutschen Großstädten
Dass Arm und Reich zwar in einer Stadt wohnen, aber zunehmend unterschiedliche oder gar strikt getrennte Lebensbereiche bevölkern, ist seit langem bekannt. Um der sozialen Spaltung, die die Fachwissenschaft Segregation nennt, entgegenzuwirken, wurde bereits 1996 ein bundesweites Aktionsprogramm mit dem schönen Namen "Gemeinschaftsinitiative Soziale Stadt" ins Leben zu rufen. Es sollte "einzelsektorale Versuche der Problemlösung, die angesichts der komplexen Situationen vor Ort als unzureichend betrachtet wurden, hinter sich lassen" und die Situation ganzheitlich betrachten, also auch "integrierte Ansätze zur Entwicklung der benachteiligten Stadtteile erproben".
Der Rotstift in der sozialen Stadt
Seit 1999 gibt es nun das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt, für das Bund, Länder und Kommunen bis 2011 insgesamt 3 Milliarden Euro bereitstellten. Sie flossen in rund 600 Programmgebiete in 375 Städten und Gemeinden.
2012 beteiligt sich der Bund allerdings nur noch mit 40 Millionen Euro - die drastischen Kürzungen im Bereich der Städtebauförderung treffen auch und vor allem das Programm "Soziale Stadt". Sollte sich dieser Trend fortsetzen, werden die Folgen bald vielerorts zu spüren sein, meint die Kampagne "Soziale Stadt retten!", die eine potenzielle Streichliste veröffentlicht hat.
Auch Vertreter der Kommunen, etwa Freiburgs grüner Oberbürgermeister Dieter Salomon, weisen nachdrücklich darauf hin, "wie existentiell bedeutsam die Gelder aus der Sanierungsförderung für Projekte der Stadtgestaltung und sozialen Stabilisierung von ganzen Stadtquartieren sind." Solche Schlagzeilen sind bedenklich fürs politische Geschäft. Das fiel auch Angela Merkel auf, als sie Ende März die 7. Integrationsministerkonferenz besuchte:
Es ist darauf hingewiesen worden, dass das Bundesprogramm "Soziale Stadt" eine große Bedeutung für die Integration hat, insbesondere für die Investition in Wohnquartiere. Hier ist der Wunsch geäußert worden, dass die finanziellen Ausstattungen eher etwas besser werden. Ich werde mir das in der Bundesregierung noch einmal anschauen.
Angela Merkel
Die Initiatoren einer Petition an den Deutschen Bundestag machten sich deshalb einige Hoffnungen, dass ihr von mehr als 7.000 Bürgerinnen und Bürgern unterstütztes Anliegen Erfolg haben könnte. Doch das Anschauen der Kanzlerin änderte nichts. Anfang letzter Woche lehnte die Regierungsmehrheit im Petitionsausschuss eine Rücknahme der Kürzungen ab.
Lebenschancen im Wohnviertel
Dabei hat sich die soziale Schieflage der deutschen Städte keineswegs begradigt. Das beweist nicht nur der Umstand, dass das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung eine Konferenz zum Thema "Gespaltene Stadtgesellschaften" veranstaltet, auf der unter anderem der Frage nachgegangen werden soll, welche Quartiere bereits als "Heimstatt der Privilegierten" und welche als "Heimstatt der Ausgegrenzten" definiert werden müssen.
Auch ein Großteil der mittlerweile umfangreichen Forschungsliteratur oder politische Lageeinschätzungen - wie das im März 2012 veröffentlichte Konzeptpapier der Friedrich-Ebert-Stiftung - kommen zu dem Schluss, dass den deutschen Städten eher eine soziale als die viel zitierte ethnische Spaltung droht.
Nicht die Segregation von Einwanderern - ethnische Parallelgesellschaften sind glücklicherweise eine Fiktion - sondern die Segregation von Menschen mit prekärem Einkommen und niedriger Bildung auf der einen Seite und die zunehmende Herausbildung von Villen- und Oberschichtsvierteln auf der anderen Seite sind das Problem für die soziale Integration der Städte. Die Lebenschancen von Menschen werden nicht nur über Einkommen und Bildung nachhaltig bestimmt, sondern auch verstärkt oder geschwächt über die soziale Struktur ihres Wohnviertels.
Heiner Brülle: Eine soziale Spaltung der Städte droht! Anforderungen an eine sozialraumsensible Landespolitik
Autor Heiner Brülle kann die Auswirkungen des Problems bis in die Kindertagesstätten und Grundschulen der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden nachweisen.
So besuchen 58 Prozent der armen Kinder Kindertagesstätten, in denen "Armut der Normalzustand ist" oder zumindest deutlich "überdurchschnittliche Armutsanteile" (> 33 Prozent) anzutreffen sind. Ähnliche Verteilungen sind in Grundschulen zu beobachten, hier besuchten 64 Prozent der Kinder aus Familien mit armen oder prekären Einkommenslagen Grundschulen, in denen mehr als 40 Prozent der Kinder aus armen oder prekären Lebenslagen stammen.
Heiner Brülle
Die schwierige bis ausweglose Situation von Kindern aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien steht auch im Blickpunkt einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu). Die Untersuchung, die als Städtevergleich im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde, kommt zu dem Schluss, dass sich Kinderarmut in bestimmten Stadtteilen überdurchschnittlich konzentriert.
Mehr noch: Die betroffenen Regionen werden entwicklungstechnisch und räumlich von den kommunalen Zentren abgekoppelt. "Eine Verdrängung der von Armut betroffenen Haushalte mit Kindern in die Großwohnsiedlungen am Stadtrand ist mittlerweile nachweisbar", heißt es in der Auswertung des Difu.
Die Gentrifizierung ist in vollem Gange, und es darf bezweifelt werden, dass es sich hierbei einfach nur um "vitale Umschichtungsprozesse" handelt.
"Innenstadt-Stadtrand-Gefälle"
Berlin, Bremen, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Halle, Hamburg, Heidelberg, Karlsruhe, Köln, Koblenz, Leipzig, Mainz, Mannheim, München, Nürnberg, Oberhausen, Saarbrücken und Stuttgart standen auf dem Prüfstand des Difu - verglichen wurde ihre Entwicklung in den Jahren 2007 bis 2009. Arbeitslosigkeit, Kinderarmut und der Migrantenanteil galten den Forscher als Schlüsselfaktoren, um den Grad der sozialen Spaltung innerhalb einer Stadt zu klassifizieren. In Frankfurt/Main, München, Stuttgart, Karlsruhe, Oberhausen und Mainz war die Segregation vergleichsweise am geringsten ausgeprägt. Ganz anders sah die Situation in Berlin, Bremen, Dortmund, Hamburg, Halle, Köln und Leipzig aus, während sich Düsseldorf, Heidelberg, Koblenz, Mannheim, Nürnberg und Saarbrücken im Mittelfeld der Studie platzierten.
Während die Städte insgesamt vom positiven Trend beim Rückgang der Arbeitslosigkeit profitierten, ermittelten die Stadtforscher, zu denen auch der im Oktober 2011 verstorbene Soziologe Hartmut Häußermann gehörte, im Bereich der Kinderarmut "ein deutliches Innenstadt-Stadtrand-Gefälle" und vermehrte Hinweise auf eine Verschärfung der sozialen Spaltung. So stieg in Mannheim während des Untersuchungszeitraums (2007-2009) sowohl der Anteil der Stadtviertel mit sehr niedriger Kinderarmut als auch der Anteil der Stadtteile mit besonders hoher Kinderarmut.
Aufwertungsprozesse vollziehen sich demnach überwiegend in zentralen Lagen, und soziale Probleme verlagern sich sukzessive an den Stadtrand - mit 68 Prozent befindet sich die Mehrzahl der Gebiete mit überdurchschnittlichem Anstieg der Kinderarbeit dort.
Difu-Studie
Das Thema konnte zu Beginn des Jahrtausends auch schon unter umgekehrten Vorzeichen diskutiert werden, aber dem aktuellen Befund entspricht die Analyse der Baustrukturen in den einzelnen Stadtquartieren. In unsanierten Bauten des Innenstadtrands, die in den 20er/30er-Jahren und der Nachkriegszeit entstanden, konzentrieren sich nach Einschätzung des Difu "zunehmend einkommensschwächere Familien mit Kindern".
Stadtrandlagen mit steigender Kinderarmut umfassen häufig Wohnungsbestände der 1950er/60er-Jahre, sowie Großwohnsiedlungen oder andere Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, in denen sich Kinderarmut im Untersuchungszeitraum zunehmend konzentriert. Hervorzuheben sind zuletzt Großwohnsiedlungen in Schrumpfungsgebieten, in denen soziale Entmischungsprozesse eine zunehmende Dynamik entfalten.
Difu-Studie
Untersuchungen in einzelnen Städten, etwas das "Monitoring Soziale Stadtentwicklung" für die Bundeshauptstadt Berlin, kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
Bei den Absteigern, also bei Gebieten die zuvor zu einer höheren Entwicklungsindexgruppe gehörten, ergab sich ein stadträumlich relativ einheitliches Bild. Die Mehrzahl dieser Gebiete ist baustrukturell durch den Großsiedlungsbau geprägt. (…) Empfohlen wird, standortspezifische Leitbilder für die nachhaltige Entwicklung der einzelnen Großsiedlungen und ihrer Quartiere weiter zu entwickeln.
Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2010 (Berlin)
Der politische Auftrag
Beobachtung und Prophylaxe lautet der Auftrag des Difu an die Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik. Gebiete, in denen der Anteil benachteiligter Menschen konstant hoch sein oder kontinuierlich ansteige, benötigten "eine dauerhafte Förderung", schreiben die Forscher und verweisen dabei namentlich auf das Projekt "Soziale Stadt". Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gebietsentwicklung und den diversen stadtpolitischen Interventionsmaßnahmen sei aufgrund der defizitären Datenlage und des begrenzten Beobachtungszeitraums bis dato allerdings noch nicht erwiesen.
Soziale, demographische und wirtschaftliche Entwicklungen müssten im Kontext betrachtet werden und zu einer Wohnungspolitik führen, die der fortschreitenden Segregation entgegenwirkt. "Bezahlbaren Wohnraum für benachteiligte Bevölkerungsgruppen bereitzustellen, ist eines der wichtigsten Instrumente, um der Konzentration von Armut in einzelnen Stadtteilen sowie der Verdrängung armer Menschen an den Stadtrand entgegenzuwirken", heißt es vom Difu.
Auch das Konzeptpapier der Friedrich-Ebert-Stiftung plädiert für eine "vernetzte soziale Infrastruktur" sowie eine "wirkungsorientierte und ressortübergreifende Programmbildung und -steuerung" und fordert die möglichst zeitgleiche Konzentration auf eine Vielzahl unterschiedlichster Aspekte:
- "Kompensation herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung;
- Programme zur Bildung systematischer Präventionsketten und Netzwerke zur Kompensation von Armutsfolgen;
- Lebensbegleitendes Lernen und Teilhabe an existenzsichernder Erwerbsarbeit insbesondere für Geringqualifizierte;
- Integration von Einwanderinnen und Einwanderern und interkulturelle Kompetenzentwicklung, Umgang mit Diversität;
- Soziale Teilhabe, Partizipation und bürgerschaftliches Engagement."
Von einer Lösungsstrategie, und gar einer komplexen und vernetzten, ist die deutsche Politik momentan allerdings denkbar weit entfernt.