Armut und Reichtum: Sind wir nicht alle irgendwie Mittelschicht?
Studie der Uni Konstanz zeigt verzerrte Wahrnehmung. Viele verorten sich laut "Ungleichheitsbarometer" in der falschen Schicht. Das hat Folgen für die politische Willensbildung.
Nur wenige Menschen in Deutschland bekennen sich offen dazu, arm oder reich zu sein. Vielen, die in eine dieser Kategorien fallen, ist das vielleicht auch selbst nicht bewusst. Arm zu sein, das gilt tendenziell als persönliches Versagen – so will es das neoliberale Dogma "Jeder ist seines Glückes Schmied".
Trotzdem hat sich auch herumgesprochen, dass es nicht immer so ganz auf eigener Leistung beruht, richtig reich zu sein. Im Gegenteil: Erben ist immer noch der sicherste Weg; Unterstützung durch gutverdienende Akademiker-Eltern zumindest eine Erleichterung. Deshalb wird Reichtum auch gerne heruntergespielt – vor allem wohlhabende Politiker tun das gerne, wenn sie unter den "kleinen Leuten" nicht als zu abgehoben gelten wollen.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat sich darüber lange Zeit keine Gedanken gemacht – ihm selbst, seiner Gattin und den Gästen brachte Lindners Luxus-Hochzeit auf Sylt im vergangenen Jahr die stern-Schlagzeile "Die Abgehobenen" ein.
Zur "gehobenen Mittelschicht" zählt sich aber sogar CDU-Chef Friedrich Merz, der im Privatflugzeug zur Hochzeit des Finanzministers angereist und vor seinem politischen Comeback jahrelang Vorstandschef der Vermögensverwaltung Blackrock gewesen war.
Für ein Ungleichheitsbarometer hat die Universität Konstanz Daten erhoben, die zeigen, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ihren Wohlstand entweder überschätzt oder unterschätzt. Dadurch ordneten sich mehr Menschen der Mittelschicht zu, als ihr tatsächlich angehören.
Skepsis in Sachen Umverteilung beruht auf Missverständnis
Die Forschenden des Exzellenzclusters "The Politics of Inequality" haben Deutsche sowohl zur Vermögensverteilung befragt, als auch dazu, wo sie sich selbst verorten.
Ergebnis: Wie bereits bei der ersten Erhebung 2020 ist die Wahrnehmung besonders im Bereich der Einkommens- und Vermögensungleichheit stark verzerrt. Die meisten Befragten schätzten ihre finanzielle Situation im Vergleich zur Gesamtbevölkerung falsch ein.
Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erzielt ein Single-Haushalt in der Mittelschicht ein Nettoeinkommen zwischen 1.500 und 4.000 Euro im Monat. Ein Paar mit zwei Kindern benötigt 3.000 bis 8.000 Euro für einen Platz in der Mittelschicht.
Die verzerrte Wahrnehmung hat Auswirkungen auf die politische Willensbildung: "Bei den politisch aufgeladenen Debatten über Erbschafts- und Vermögenssteuer etwa zeigt sich: Viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft glauben offenbar fälschlicherweise, sie seien von solchen Steuern direkt betroffen", erklärte dazu am Donnerstag die Co-Autorin der Studie, Sharon Baute.
"Sie unterschätzen, wie viel vermögender andere im Vergleich zu Ihnen selbst sind", betont sie. Fehleinschätzungen wie diese machen es unwahrscheinlicher, dass sich Menschen für eine stärkere Umverteilungspolitik mobilisieren lassen.
Besonders verzerrt ist die Wahrnehmung bei der Vermögensungleichheit: Obwohl das Vermögen noch ungleicher als das Einkommen zugunsten der Oberschicht verteilt ist, nehmen es nur wenige Deutsche so wahr.
Eine vergleichende Studie zu Vermögens- und Einkommensungleichheit zeigte nach Angaben der Uni Konstanz, dass in Deutschland den "oberen fünf Prozent" 41,6 Prozent des gesamten Vermögens (Immobilienvermögen, Wertpapiere und weitere Finanzanlagen) gehören, aber "nur" 15,8 Prozent des gesamten Einkommens. Ein Großteil der Befragten schätzte die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen aber in etwa gleich groß ein.
In einem "Policy Paper" empfehlen die Forschenden eine Sensibilisierung der Bevölkerung für das Ausmaß der Ungleichheit. Millionäre aus der politischen Klasse dürften daran eher wenig Interesse haben.
Die zweite Runde der Umfrage des Ungleichheitsbaromters wurde zwischen November und Dezember 2022 durchgeführt. Insgesamt nahmen rund 6.300 Befragte teil, die die erwachsene Wohnbevölkerung in Deutschland repräsentieren. Im Durchschnitt dauerte ein Interview 20 Minuten.
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