Armutsforschung: ein Armutszeugnis

Seite 2: Nicht mehr arbeiten müssen oder andere für sich arbeiten lassen

Reich sind die meisten Deutschen nun einmal nicht. Damit ist nicht eine bestimmte Gehaltsstufe gemeint. Vielmehr bedeutet Reichtum in einer kapitalistischen Wirtschaft, genügend Geld zu besitzen, um nicht mehr arbeiten zu müssen beziehungsweise andere für sich arbeiten zu lassen.

Die Sorgen solcher Leute drehen sich um die Bedingungen für ihre Geschäftemacherei, auf dass sie möglichst viel Gewinn herausschlagen können – der möglichst wenig geschmälert werden sollte durch hohe Gehälter und Steuern oder Auflagen für Arbeits- und Umweltschutz.

In diesem Sinne sind die in der Hans-Böckler-Studie geschätzten acht Prozent "reiche Haushalte" sicher zu hoch gegriffen. In der Durchschnittsrechnung der Einkommen sind auch die Vermögen der Reichen, die nicht arbeiten müssen, gar nicht einberechnet.

Was den Maßstab senkt: So fallen deutlich weniger Personen in die Armutskategorie. Außerdem nutzt selbst einem gut verdienenden Haushalt das Monatseinkommen von vielleicht 5.000 Euro nichts, wenn die Haushaltsangehörigen nicht mehr von den wirklich Reichen beschäftigt werden.

Dann haben diese Menschen trotz ihres Hans-Böckler-Reichtums auch bald dasselbe Problem wie die Mittel- und Unterschicht: Das gewiss mehr gesparte Geld und Vermögen reicht auf Dauer auch für diese Leute nicht. Arbeitslosengeld verhindert zunächst das Schlimmste, aber das Bürgergeld droht schon am Horizont...

Bahnbrechende Erkenntnis: Armut stresst und macht krank

In letzter Zeit haben sich nun einige Armutsforscher mit den Auswirkungen von Armut auf die psychische Verfassung der Betroffenen beschäftigt. Wie sehr drücken Geldprobleme und prekäre Lebensverhältnisse aufs Gemüt? Erkranken solche Menschen öfter, beispielsweise an Depression?

Leiden deren Kinder häufiger an ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizitstörungen? Eine Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis: Ja.

Wies jedes zehnte Kind aus Familien mit hohem Einkommen Anzeichen von seelischen Problemen auf, war es in den Familien mit wenig Einkommen fast jedes vierte Kind. Diagnose ADHS beispielsweise wird bei Kindern aus ärmeren Verhältnissen doppelt so häufig gestellt wie bei denen, die in gut verdienenden Familien aufwachsen.

Jana Hauschild: Wenn Armut auf die Seele drückt, in: Süddeutsche Zeitung, 1.12.2023

Psychotherapeutin Helen Niemeyer, die an der Freien Universität Berlin unter anderem zu Armutsthemen forscht, sieht Bedarf nach weiteren Untersuchungen:

Es braucht noch mehr Studien dazu, aber möglicherweise erleben Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status viel mehr Stressereignisse. Einerseits begegnen ihnen im Alltäglichen eher viele kleine belastende Situationen, andererseits sind sie Studien zufolge auch häufiger von größeren, sogenannten kritischen Lebensereignissen betroffen wie Wohnungsnot oder Jobverlust.

SZ, ebenda

Was auch nicht gut ist:

Man wisse, dass körperliche und kulturelle Aktivitäten die psychische Gesundheit fördern. Doch wer begrenzte finanzielle Möglichkeiten hat, beziehe weniger körperliche und kulturelle Aktivitäten in seinen Alltag ein. Die Betroffenen würden zum Beispiel weniger lesen, gingen seltener schwimmen oder ins Kino.

SZ, ebenda

Die aktuelle Armutsforschung ist offenbar tief in die Realität ihres Forschungsgegenstands eingedrungen. Arme Leute erleben öfter "kritische Lebensereignisse", haben "begrenzte finanzielle Möglichkeiten" und einen "niedrigen sozioökonomischen Status". Das liest sich natürlich viel wissenschaftlicher als "kein Geld, um halbwegs vernünftig zu leben und an der Gesellschaft teilzunehmen".

Wie kann man diesen Menschen bloß helfen? Zumal eine andere Untersuchung des Berliner Universitätsklinikums Charité eine weitere Schwierigkeit herausgefunden hat:

In ärmeren Gegenden seien Belastungen wie Lärm und Luftverschmutzung häufig – was nachweislich die seelische Gesundheit beeinträchtigen kann. Es mangele zudem an grünen Oasen, und viele fühlten sich in den eigenen Vierteln nicht sicher.

SZ, ebenda

Halbtaub von der Hauptstraße vor der Haustür und Dreck in der Lunge – da bleibt auch ein Schaden im Kopf nicht aus. Knifflig, was kann man da nur tun?

Eine Analyse von 18 Studien mit 42.000 Teilnehmern, veröffentlicht vergangenes Jahr im Fachjournal The Lancet ergab, "dass es schon einen Effekt hat, das Einkommen von Menschen nur so weit anzuheben, dass sie nicht mehr unter der Armutsgrenze lebten." Eine solche Maßnahme sei etwa halb so wirksam wie Antidepressiva und ein Viertel so effektiv wie kognitive Verhaltenstherapie.1

Auf welcher Rechenart diese Erkenntnis beruht, erschließt sich dem Laien nicht. Desgleichen nicht, wie man eine Einkommensgröße mit der Wirkung von Antidepressiva und Verhaltenstherapie in eine Beziehung setzen kann.

Irgendwie hat die Statistik ergeben: Etwas mehr Geld für Arme wirkt! Ob man sich damit wirklich Medikamente und Therapie zum Teil sparen könnte, wäre sicherlich eine weitere atemberaubende Studie wert. Denn damit könnte das Gesundheitswesen ja von Kosten entlastet werden!

Selbstverständlich müsste der finanzielle Aufwand für das anzuhebende Einkommen über die Armutsgrenze hinaus gegengerechnet werden. Nachher kostet die Veranstaltung mehr als sie einbringt...

Einstweilen konzentrieren sich die Armutsforscher auf begleitende Maßnahmen.

Kinder von benachteiligten Familien sollten Unterstützung bei Schulaufgaben und in ihrer Freizeit erhalten. Mehr Stadtteiltreffs, wo Arme für wenig Geld einen Kaffee trinken könnten und sie aus ihrer Isolation herauskämen, ist ein weiterer Vorschlag von Gerhard Traubert, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden.

Vergünstigte Kultursozialtickets, Schuldnerberatungen und auch eine bessere Stadtplanung mit mehr Grün in den Armenvierteln lauten weitere Empfehlungen der Armutsforscher.2

Kurzum: Den Armen ihr Los erträglicher machen. Denn von ihrem Los wegzukommen, ist nicht das Thema der Armutsforschung.