Armutsforschung: ein Armutszeugnis

Weihnachten steht vor der Tür. Hochkonjunktur auch für eine ganz eigene Spezies Wissenschaftler – die Armutsforscher. Jetzt haben sie herausgefunden: Wer arm ist, hat Stress. Ach was.

Wie fühlt man sich wohl, wenn man Miete, Strom und Heizung kaum bezahlen kann, die Kinder nur mit billigem Essen ernährt und ihnen erklären muss, warum sie die Klassenfahrt nicht mitmachen können?

Wenn man den kaputten Kühlschrank nicht mal eben gegen einen neuen auszutauschen vermag, ein Urlaub einmal mehr nicht drin ist, ebenso wenig wie neue Schuhe oder Kleidung? Ganz zu schweigen von einem ordentlichen Auto. Die Antwort liegt auf der Hand: ziemlich schlecht.

In schöner Regelmäßigkeit widmen sich sogenannte Armutsforscher diesem Teil der Bevölkerung, verstärkt vor den Feiertagen zum Ende des Jahres. So auch aktuell.

Dieses Mal geht es um die spannende Frage, wie sich Armut auf das Gemüt auswirkt. Um die überraschende wissenschaftliche Erkenntnis vorwegzunehmen: Sie tut es, und zwar heftig.

Zu Zeiten der Corona-Pandemie hatten diese Wissenschaftler noch vor einem generellen Anstieg der Armut in Deutschland gewarnt, befürchteten eine weitere Spaltung der Gesellschaft und dass immer mehr Menschen aus der Mittelschicht in die Unterschicht abdrifteten.

Sie hatten einen unerwarteten Befund zutage gefördert: Die finanziellen Einbußen durch die Pandemie trafen Personen mit geringem Einkommen tatsächlich deutlich stärker als die mit den höchsten! Wer hätte das gedacht?

Also plädierten die Forscher für ein paar Euro Mindestlohn mehr und bessere Sozialleistungen. Auch deshalb, weil sonst die armen Leute womöglich falsche Schlüsse zögen, sich radikalisierten und gar extreme Parteien wählten.

Merke: Wer in seiner trostlosen Lage auf die Idee kommt, das habe auch etwas mit der herrschenden Politik zu tun, denkt verkehrt, gefährdet damit nichts Geringeres als die Demokratie – und das geht gar nicht. Da sind die paar Cent mehr für die Unterschicht doch gut investiertes Geld.

Muss man erst mal drauf kommen: Mit den Lebenshaltungskosten steigt die Armut

Die Pandemie ist nun zur Endemie geworden, Corona zu einem Krankheitserreger unter vielen. Die Geschäfte laufen wieder ohne Einschränkung durch außer Kontrolle geratene Viren. Kein Rausschmiss zusätzlich zu den normalen Entlassungen, keine besondere Kurzarbeit.

Der spezielle Einflussfaktor Pandemie auf die Armut hat nun einem anderen Platz gemacht: den steigenden Kosten für Energie, Lebensmittel und viele andere Dinge des täglichen Bedarfs.

Für viele Menschen in Deutschland ist ein warmes Zuhause nicht selbstverständlich. Im vergangenen Jahr lebten 5,5 Millionen Menschen in Deutschland in Haushalten, die nach eigener Einschätzung ihr Haus oder ihre Wohnung aus finanziellen Gründen nicht angemessen warmhalten konnten.

Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) auf Basis der Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) mitteilt, betraf dies rund 6,6 Prozent der Bevölkerung.

Der Anteil hat sich gegenüber dem Jahr 2021 verdoppelt. Damals hatte er bei 3,3 Prozent gelegen. Grund für den Anstieg dürften vor allem die höheren Energiepreise im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine gewesen sein.

Statistisches Bundesamt (Destatis)

Insgesamt habe die Armut in Deutschland zugenommen, schreibt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie:

Im Jahr 2022 lebten demnach fast 17 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, rund zehn Prozent sogar in strenger Armut. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,5 beziehungsweise knapp acht Prozent. Als arm definieren die Fachleute dabei Menschen, deren Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt.

Sehr arm sind jene, die nicht einmal 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Für einen Singlehaushalt entspricht das demnach maximal 1.200, beziehungsweise 1.000 Euro im Monat. Als reich gelten Menschen, die mehr als das Doppelte dieses Betrags zur Verfügung haben. Der Anteil der reichen Haushalte schwanke in den vergangenen Jahren der Studie zufolge um acht Prozent.

Als regelrecht arm gelten demnach Personen mit Einkommen deutlich unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt. Umgekehrt bedeutet dies: Wer diesen Durchschnitt zu mehr als 60 Prozent erreicht, gilt in wirtschaftlicher Hinsicht als ausreichend ausgestattet, als nicht arm.

Mieten und Nebenkosten können wohl irgendwie bezahlt werden, ebenfalls genügend Lebensmittel wie auch die Klassenfahrten der Kinder, für einen neuen Kühlschrank kann Geld zusammengekratzt werden.

Und selbstverständlich reicht es für einen Kleinwagen und einen Urlaub. Fertig ist das Glück des "kleinen Mannes" (und natürlich auch der "kleinen Frau"): Die Grundausstattung steht zur Verfügung, mit der man seinen Pflichten als Arbeitnehmer, Familienmensch und Bürger nachkommen kann. So kann der weniger bis gar nicht statistisch Arme sein Glück machen.

Ein sehr bescheidenes Glück, noch dazu ziemlich unsicher. Das bemerken Betroffene spätestens dann, wenn sie am Ende des Monats kein Geld mehr auf ihr Konto überwiesen bekommen.

Es passiert bekanntermaßen den meisten Leuten, wenn sie als abhängig Beschäftigte ihren Job verlieren. Zur erwähnten Corona-Pandemie-Zeit kam diese Sorge sehr massiv auf. Selbst die damals verbreitete Kurzarbeit hätte viele Haushalte in Verlegenheit gebracht, wenn nicht staatlicherseits die Gehaltsverluste teilweise kompensiert worden wären.

Nicht mehr arbeiten müssen oder andere für sich arbeiten lassen

Reich sind die meisten Deutschen nun einmal nicht. Damit ist nicht eine bestimmte Gehaltsstufe gemeint. Vielmehr bedeutet Reichtum in einer kapitalistischen Wirtschaft, genügend Geld zu besitzen, um nicht mehr arbeiten zu müssen beziehungsweise andere für sich arbeiten zu lassen.

Die Sorgen solcher Leute drehen sich um die Bedingungen für ihre Geschäftemacherei, auf dass sie möglichst viel Gewinn herausschlagen können – der möglichst wenig geschmälert werden sollte durch hohe Gehälter und Steuern oder Auflagen für Arbeits- und Umweltschutz.

In diesem Sinne sind die in der Hans-Böckler-Studie geschätzten acht Prozent "reiche Haushalte" sicher zu hoch gegriffen. In der Durchschnittsrechnung der Einkommen sind auch die Vermögen der Reichen, die nicht arbeiten müssen, gar nicht einberechnet.

Was den Maßstab senkt: So fallen deutlich weniger Personen in die Armutskategorie. Außerdem nutzt selbst einem gut verdienenden Haushalt das Monatseinkommen von vielleicht 5.000 Euro nichts, wenn die Haushaltsangehörigen nicht mehr von den wirklich Reichen beschäftigt werden.

Dann haben diese Menschen trotz ihres Hans-Böckler-Reichtums auch bald dasselbe Problem wie die Mittel- und Unterschicht: Das gewiss mehr gesparte Geld und Vermögen reicht auf Dauer auch für diese Leute nicht. Arbeitslosengeld verhindert zunächst das Schlimmste, aber das Bürgergeld droht schon am Horizont...

Bahnbrechende Erkenntnis: Armut stresst und macht krank

In letzter Zeit haben sich nun einige Armutsforscher mit den Auswirkungen von Armut auf die psychische Verfassung der Betroffenen beschäftigt. Wie sehr drücken Geldprobleme und prekäre Lebensverhältnisse aufs Gemüt? Erkranken solche Menschen öfter, beispielsweise an Depression?

Leiden deren Kinder häufiger an ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizitstörungen? Eine Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis: Ja.

Wies jedes zehnte Kind aus Familien mit hohem Einkommen Anzeichen von seelischen Problemen auf, war es in den Familien mit wenig Einkommen fast jedes vierte Kind. Diagnose ADHS beispielsweise wird bei Kindern aus ärmeren Verhältnissen doppelt so häufig gestellt wie bei denen, die in gut verdienenden Familien aufwachsen.

Jana Hauschild: Wenn Armut auf die Seele drückt, in: Süddeutsche Zeitung, 1.12.2023

Psychotherapeutin Helen Niemeyer, die an der Freien Universität Berlin unter anderem zu Armutsthemen forscht, sieht Bedarf nach weiteren Untersuchungen:

Es braucht noch mehr Studien dazu, aber möglicherweise erleben Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status viel mehr Stressereignisse. Einerseits begegnen ihnen im Alltäglichen eher viele kleine belastende Situationen, andererseits sind sie Studien zufolge auch häufiger von größeren, sogenannten kritischen Lebensereignissen betroffen wie Wohnungsnot oder Jobverlust.

SZ, ebenda

Was auch nicht gut ist:

Man wisse, dass körperliche und kulturelle Aktivitäten die psychische Gesundheit fördern. Doch wer begrenzte finanzielle Möglichkeiten hat, beziehe weniger körperliche und kulturelle Aktivitäten in seinen Alltag ein. Die Betroffenen würden zum Beispiel weniger lesen, gingen seltener schwimmen oder ins Kino.

SZ, ebenda

Die aktuelle Armutsforschung ist offenbar tief in die Realität ihres Forschungsgegenstands eingedrungen. Arme Leute erleben öfter "kritische Lebensereignisse", haben "begrenzte finanzielle Möglichkeiten" und einen "niedrigen sozioökonomischen Status". Das liest sich natürlich viel wissenschaftlicher als "kein Geld, um halbwegs vernünftig zu leben und an der Gesellschaft teilzunehmen".

Wie kann man diesen Menschen bloß helfen? Zumal eine andere Untersuchung des Berliner Universitätsklinikums Charité eine weitere Schwierigkeit herausgefunden hat:

In ärmeren Gegenden seien Belastungen wie Lärm und Luftverschmutzung häufig – was nachweislich die seelische Gesundheit beeinträchtigen kann. Es mangele zudem an grünen Oasen, und viele fühlten sich in den eigenen Vierteln nicht sicher.

SZ, ebenda

Halbtaub von der Hauptstraße vor der Haustür und Dreck in der Lunge – da bleibt auch ein Schaden im Kopf nicht aus. Knifflig, was kann man da nur tun?

Eine Analyse von 18 Studien mit 42.000 Teilnehmern, veröffentlicht vergangenes Jahr im Fachjournal The Lancet ergab, "dass es schon einen Effekt hat, das Einkommen von Menschen nur so weit anzuheben, dass sie nicht mehr unter der Armutsgrenze lebten." Eine solche Maßnahme sei etwa halb so wirksam wie Antidepressiva und ein Viertel so effektiv wie kognitive Verhaltenstherapie.1

Auf welcher Rechenart diese Erkenntnis beruht, erschließt sich dem Laien nicht. Desgleichen nicht, wie man eine Einkommensgröße mit der Wirkung von Antidepressiva und Verhaltenstherapie in eine Beziehung setzen kann.

Irgendwie hat die Statistik ergeben: Etwas mehr Geld für Arme wirkt! Ob man sich damit wirklich Medikamente und Therapie zum Teil sparen könnte, wäre sicherlich eine weitere atemberaubende Studie wert. Denn damit könnte das Gesundheitswesen ja von Kosten entlastet werden!

Selbstverständlich müsste der finanzielle Aufwand für das anzuhebende Einkommen über die Armutsgrenze hinaus gegengerechnet werden. Nachher kostet die Veranstaltung mehr als sie einbringt...

Einstweilen konzentrieren sich die Armutsforscher auf begleitende Maßnahmen.

Kinder von benachteiligten Familien sollten Unterstützung bei Schulaufgaben und in ihrer Freizeit erhalten. Mehr Stadtteiltreffs, wo Arme für wenig Geld einen Kaffee trinken könnten und sie aus ihrer Isolation herauskämen, ist ein weiterer Vorschlag von Gerhard Traubert, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden.

Vergünstigte Kultursozialtickets, Schuldnerberatungen und auch eine bessere Stadtplanung mit mehr Grün in den Armenvierteln lauten weitere Empfehlungen der Armutsforscher.2

Kurzum: Den Armen ihr Los erträglicher machen. Denn von ihrem Los wegzukommen, ist nicht das Thema der Armutsforschung.

Bahnbrechende Erkenntnis, zweiter Teil: Mehr Geld hilft

Ähnliche Hilfen und Projekte gibt es seit längerem einige. Verschiedene Untersuchungen zu deren Wirksamkeit hat ein Team der Alice-Salomon-Hochschule zusammen mit dem Robert-Koch-Institut und der Charité vergangenes Jahr analysiert:

Für Maßnahmen, die direkt Unterstützung beispielsweise in Form von Geldleistungen bieten, zeigen sich eher positive Wirkungen auf die psychische Gesundheit.

SZ, ebenda

Man könnte es also bei dem Befund belassen: Mehr Geld hilft. Dann wäre die Armutsforschung jedoch rasch am Ende angelangt.

Schlimmer, sie käme vielleicht auf die Ursachen der Armut zu sprechen. Und landete so bei der harten wie schlichten Erkenntnis, dass ein auf Geld und Gewinn basierendes Wirtschaftsgefüge systematisch Sieger und Verlierer produziert.

Potenziell arm sind hier all jene, die Monat für Monat darauf angewiesen sind, dass ihre Arbeit bezahlt wird. Unternehmen tun das indes nur, wenn sich diese Arbeit für sie lohnt; und sie knausern damit, wo sie können.

Bei Betrieben in staatlicher Hand, bei Behörden und Verbänden läuft es nicht anders: Der Kostenfaktor Arbeit soll so gering wie möglich gehalten werden – sowohl seiner schieren Menge nach als auch nach dem damit verbundenen finanziellen Aufwand.

Die zitierte Armutsdefinition ist daher willkürlich: Sie legt einen Wert fest, der ein Minimum an normalem Leben ermöglichen soll. Die Vorstellung dieses "normalen Lebens" ist sehr niedrig angesiedelt – eine ausreichend große Wohnung, ein fahrtüchtiges Auto, gut ernährte und angezogene Kinder oder mehrere Urlaube im Jahr, nicht nur im Sauerland, zählen nicht dazu.

Die Armutsgrenze "60 Prozent vom Durchschnittseinkommen" kommt als exakte Zahl daher. Sie zeigt aber nur eines an: Ab welchem Einkommen nach staatlicher Auffassung und wissenschaftlicher Einschätzung die Armut beginnt. Warum es nicht 50 oder 70 Prozent sind, kann nicht begründet werden – und wird es auch nicht.

Was die 60 Prozent allerdings suggerieren: Es gäbe so etwas wie eine objektive Armutsgrenze – was sie nicht ist. Was sie außerdem nicht ist, aber so erscheint: Sie sei ökonomisch hergeleitet.

Die Prozentzahl ist eine schlichte Setzung. Sie hat nichts damit zu tun, aufgrund welcher wirtschaftlicher Verhältnisse Armut zustande kommt. Sonst läge die Armutsgrenze weit höher. Nämlich so hoch, wie Menschen ihre Existenz nur dadurch bestreiten können, dass sie für ihre abhängige Beschäftigung regelmäßig von den sie Beschäftigenden Geld überwiesen bekommen.

Wie viel sie erhalten oder eben auch nicht, entscheidet dann Monat für Monat, ob sie zu den offiziell Armen gehören – oder sie in der Lage sind, den täglichen Anforderungen von Staat und Wirtschaft zu genügen.