Armutsforschung: ein Armutszeugnis

Seite 3: Bahnbrechende Erkenntnis, zweiter Teil: Mehr Geld hilft

Ähnliche Hilfen und Projekte gibt es seit längerem einige. Verschiedene Untersuchungen zu deren Wirksamkeit hat ein Team der Alice-Salomon-Hochschule zusammen mit dem Robert-Koch-Institut und der Charité vergangenes Jahr analysiert:

Für Maßnahmen, die direkt Unterstützung beispielsweise in Form von Geldleistungen bieten, zeigen sich eher positive Wirkungen auf die psychische Gesundheit.

SZ, ebenda

Man könnte es also bei dem Befund belassen: Mehr Geld hilft. Dann wäre die Armutsforschung jedoch rasch am Ende angelangt.

Schlimmer, sie käme vielleicht auf die Ursachen der Armut zu sprechen. Und landete so bei der harten wie schlichten Erkenntnis, dass ein auf Geld und Gewinn basierendes Wirtschaftsgefüge systematisch Sieger und Verlierer produziert.

Potenziell arm sind hier all jene, die Monat für Monat darauf angewiesen sind, dass ihre Arbeit bezahlt wird. Unternehmen tun das indes nur, wenn sich diese Arbeit für sie lohnt; und sie knausern damit, wo sie können.

Bei Betrieben in staatlicher Hand, bei Behörden und Verbänden läuft es nicht anders: Der Kostenfaktor Arbeit soll so gering wie möglich gehalten werden – sowohl seiner schieren Menge nach als auch nach dem damit verbundenen finanziellen Aufwand.

Die zitierte Armutsdefinition ist daher willkürlich: Sie legt einen Wert fest, der ein Minimum an normalem Leben ermöglichen soll. Die Vorstellung dieses "normalen Lebens" ist sehr niedrig angesiedelt – eine ausreichend große Wohnung, ein fahrtüchtiges Auto, gut ernährte und angezogene Kinder oder mehrere Urlaube im Jahr, nicht nur im Sauerland, zählen nicht dazu.

Die Armutsgrenze "60 Prozent vom Durchschnittseinkommen" kommt als exakte Zahl daher. Sie zeigt aber nur eines an: Ab welchem Einkommen nach staatlicher Auffassung und wissenschaftlicher Einschätzung die Armut beginnt. Warum es nicht 50 oder 70 Prozent sind, kann nicht begründet werden – und wird es auch nicht.

Was die 60 Prozent allerdings suggerieren: Es gäbe so etwas wie eine objektive Armutsgrenze – was sie nicht ist. Was sie außerdem nicht ist, aber so erscheint: Sie sei ökonomisch hergeleitet.

Die Prozentzahl ist eine schlichte Setzung. Sie hat nichts damit zu tun, aufgrund welcher wirtschaftlicher Verhältnisse Armut zustande kommt. Sonst läge die Armutsgrenze weit höher. Nämlich so hoch, wie Menschen ihre Existenz nur dadurch bestreiten können, dass sie für ihre abhängige Beschäftigung regelmäßig von den sie Beschäftigenden Geld überwiesen bekommen.

Wie viel sie erhalten oder eben auch nicht, entscheidet dann Monat für Monat, ob sie zu den offiziell Armen gehören – oder sie in der Lage sind, den täglichen Anforderungen von Staat und Wirtschaft zu genügen.