Aserbaidschan gegen Armenien: Angriffskrieg? Welcher Angriffskrieg?

Deutscher MilitÀr bei Angriffskriegern. Bild: mod.gov.az
Themen des Tages: Wie Verteidigungsministerium und Nato den Schulterschluss mit einem Aggressor suchen. Mit wem Venezuelas PrĂ€sident NicolĂĄs Maduro demnĂ€chst GeschĂ€fte macht. Und was Telepolis heute fĂŒr Sie bereithĂ€lt.
Liebe Leserinnen und Leser,
einen ĂŒbleren Job noch als der Chef der Bundesnetzagentur vor einer möglichen Energiekrise im Winter 2022/23 hat ein Vize-AuĂenamtssprecher in der Bundespressekonferenz angesichts des Angriffskriegs eines energiepolitischen Partnerstaates. (Russland ist da ja gerade ausgefallen.) Venezuelas PrĂ€sident NicolĂĄs Maduro kann dieser Tage in Ruhe eine Cohiba Behike 56 rauchen und auf Erdölangebote aus den USA warten. Und Telepolis startet ins Wochenende.
Doch der Reihe nach.
Das AuswÀrtige Amt kennt nur einen Angriffskrieg
Ungeachtet eines Sturmangriffs mit Artillerie und schweren Waffen und trotz gut hundert toter Soldaten wollen Bundesregierung und EuropÀische Union nichts von dem Angriffskrieg des aserbaidschanischen Autokraten Ilham Alijew auf das benachbarte Armenien wissen.
Na gut, dass Völkerrecht und Humanismus in der bundesrepublikanischen AuĂenpolitik nie eine groĂe Rolle gespielt haben, ahnen wir seit dem WilhelmstraĂenprozess und Franz Josef StrauĂâ PortrĂ€t im groĂen Versammlungsraum der deutschen Nazi-, PĂ€dophilen- und Foltersekte Colonia Dignidad in Chile. Unter anderem. Da gĂ€be es so einiges.
Aber der Anspruch im Hause Baerbock ist eben ein anderer, vermeintlich höherer. Vor allem dieser Tage, in denen moralinschwer "Waffen, Waffen und noch mal Waffen" fĂŒr die Ukraine gefordert werden, weil die sich ja â hört, hört! â gegen den russischen Angriffskrieg wehren können muss.
Das ist richtig. Aber andererseits ist es eben auch irgendwie blöd fĂŒr die Armenier, dass sie sich mal wieder gegen zwei gröĂenwahnsinnige Turk-Herrscher wehren mĂŒssen, die dieser Volksgruppe mitsamt Frauen und Kindern von 1915 bis 1923 bekanntlich schonmal mehr als ĂŒbel mitgespielt haben.
Dass das Fragen aufwerfen wird, hat man im AuĂenamt wohl geahnt â und einen Vizesprecher mit dem Charme und der Redegewandtheit eines SteuerprĂŒfers in die verlorenen Schlacht geschickt. Der erklĂ€rte das den Mitgliedern der Bundespressekonferenz so:
Die Bundesregierung ist zutiefst besorgt ĂŒber die Berichte ĂŒber Kampfhandlungen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, darunter auch Angriffe auf zivile Infrastruktur und Wohnorte. Wir fordern Aserbaidschan und Armenien auf, umgehend jegliche Handlungen einzustellen, (âŠ) und wir fordern beide LĂ€nder vor allen Dingen auch auf, den Dialog unbedingt fortzusetzen. (âŠ) Ich habe Ihnen dargelegt, dass wir in der Frage, wer da jetzt angefangen hat oder wer schuld ist, zumindest im Moment wegen der UnabhĂ€ngigkeit unabhĂ€ngiger Beobachter nicht bestĂ€tigen oder darlegen können, wie die Lage vor Ort genau ist.
Ein Pressesprecher des AuswÀrtigen Amtes, Bundespressekonferenz, 14.09.2022 [1]
Wir hatten es gestern an dieser Stelle schon erwÀhnt [2]: Die EU will vom Aggressor Aserbaidschan bis 2027 mindestens 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr kaufen und die Importmenge damit verdoppeln.
Mehr noch: In der vergangenen Woche war ein Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) in Baku, um mit, wie es von dort hieĂ [3], Vertretern der Abteilung fĂŒr internationale militĂ€rische Zusammenarbeit des Verteidigungsministeriums Aserbaidschans zu sprechen:
Beide Seiten trafen sich zu einem detaillierten Meinungsaustausch ĂŒber den aktuellen Stand und die Aussichten fĂŒr die Entwicklung der Zusammenarbeit im militĂ€rischen Bereich zwischen den LĂ€ndern sowie ĂŒber Fragen der regionalen und internationalen Sicherheit.
Angriffskriegsministerium, pardon: Verteidigungsministerium der Republik Aserbaidschan
Die Nato war ĂŒbrigens kurz zuvor schon da [4].
Informationen dazu lagen dem BMVg-Sprecher in der Bundespressekonferenz diese Woche leider nicht vor, sollen aber schriftlich nachgereicht werden. Man kann davon ausgehen, dass die nÀchsten Treffen mit den aserbaidschanischen Aggressoren in Baku oder Berlin ohne Fototermin stattfinden. Lohnt sich Àsthetisch ohnehin nicht, wie Sie oben sehen können.
Merke: Die deutsche AuĂenpolitik ist wertegeleitet. Von welchen Werten aber, das können die Ministeriumssprecher gerade nicht sagen. Vielleicht reichen sie uns diese Information aber nach.
Artikel zum Thema:
Elke Dangeleit: TĂŒrkei: das verbotene Gedenken an den Völkermord an den Armeniern [5]
Florian Rötzer: Autonome Killerdrohnen kommen nicht erst, es gibt sie schon [6]
Roland Benedikter: Berg-Karabach: Der endlose Konflikt im "schwarzen Garten" [7]
Christoph Marischka: Der "erste echte Drohnenkrieg", Europas Anteil und deutsche AufrĂŒstung [8]
Ulrich Heyden: Sichert 40-Milliarden-Pipeline den Frieden in Berg-Karabach? [9]
USA wollen Erdöl aus Venezuela
Apropos wertegeleitete AuĂenpolitik. Die wird von den EU-EuropĂ€ern nicht nur mit Blick auf Aserbaidschan neu ausgerichtet, sondern auch in SĂŒdamerika, konkret: Venezuela. Sie erinnern sich: Dort war die EuropĂ€ische Union massiv auf Distanz zum linksgerichteten Staatschef NicolĂĄs Maduro gegangen, der das progressive Projekt seines VorgĂ€ngers Hugo ChĂĄvez geerbt hat, selber aber mehr auf Steak und Zigarren steht als auf Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
Die Bundesregierung hatte Anfang Februar 2019 sogar einen damals noch und heute wieder irrelevanten Oppositionspolitiker namens Juan GuaidĂł als "ĂbergangsprĂ€sidenten" anerkannt [10], nachdem die damalige US-FĂŒhrung unter Donald Trump ihre UnterstĂŒtzung signalisiert hatte.

Forciert wurde dieser im AuswĂ€rtigen Amt nicht unumstrittene Tabubruch [11] â Bundesregierungen erkannten bis dahin lediglich Staaten, jedoch keine Regierungen an â vom damaligen AuĂenminister Heiko Maas (SPD). Den kennt heute ja auch niemand mehr. Er soll aber eine Schauspielerin zur Frau haben.
Das alles war völkerrechtlich, gelinde gesagt, kreativ â und geht gerade komplett den Bach runter. Nach EU-Protokollen, die Telepolis vorliegen, pfeift die energiehungrige EU auf deutsche Nation-Building-Experimente am Orinoco und hat eilends eine Normalisierung der Beziehungen mit dem Erdöl-, Erdgas und auch sonst ressourcenreichen Venezuela eingeleitet.
"Wir wiederholten unsere Forderung an den EAD, keine konkreten Schritte in Richtung Normalisierung der Beziehungen mit VEN ohne substanzielle Gegenleistungen durch das Regime zu unternehmen", moserten deswegen deutsche Diplomaten Ende Juli in BrĂŒssel. Vergebens allerdings, denn das Treffen eines EU-Diplomaten mit dem GeschĂ€ftstrĂ€ger Washingtons in Caracas habe bestĂ€tigt, "dass die USA sehr stark an einem neuen Vertrag zur Ălförderung fĂŒr den US-Markt interessiert seien".
Das riecht ein wenig nach Aserbaidschan in Amerika. Und es zeigt, dass, ganz nĂŒchtern betrachtet, die Abkehr von russischem Gas auch eine Abkehr einer tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen menschenrechtsgeleiteten AuĂenpolitik bedeutet, und zwar unter jeglichen politischen Vorzeichen.
Artikel zum Thema:
Harald Neuber: Bundestagsgutachten: GegenprÀsident in Venezuela ohne Legitimation [12]
Harald Neuber: So kĂ€mpft Venezuelas "GegenprĂ€sident" um sein politisches Ăberleben [13]
Bernd MĂŒller: Ersatz fĂŒr russisches Ăl: US-Regierung lockert Sanktionen gegen Venezuela [14]
Florian Rötzer: Putin: Strategische Partnerschaft mit Kuba und Venezuela [15]
Und das lesen Sie bei Telepolis zum Ende der Woche
Telepolis widmet sich heute noch einmal den Folgen des Klimawandels fĂŒr Deutschland. Dort habe man in den vergangenen zwei Jahrzehnten so viel Wasser verloren, wie der gröĂte See, der Bodensee, fassen kann, schreibt Wolfgang Pomrehn [16]: "Das ist das Ergebnis von Satellitenbeobachtungen, ĂŒber die die deutsche Ausgabe von National Geographic dieser Tage schreibt." Das Wasser fehle in den FlĂŒssen und Seen sowie im Grundwasser.
Eine recht prĂ€gnante Rede hielt EU-Parlamentarier Martin Sonneborn am Mittwoch, an EU-KommissionsprĂ€sidentin Ursula von der Leyen gewandt. Auszug: "Als Sie Ihren Dienst hier antraten, dachte ich, Sie seien lediglich unfĂ€hig und ein bisschen kriminell, inzwischen weiĂ ich, dass Sie auch beeindruckend moralfrei sind: An den AuĂengrenzen sterben tĂ€glich FlĂŒchtlinge, Fracking-Gas und Atomkraft sind nachhaltig, und Sie löschen Ihre SMS zu den Milliarden-Zahlungen an Pfizer."
In die ihm zugestandene eine Minute hat Sonneborn so einiges reingepackt. Auch das lesen Sie heute bei Telepolis.
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7265699
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2552088
[2] https://www.heise.de/tp/features/Nach-Scholz-Telefonat-Internationales-Rotes-Kreuz-widerspricht-Wladimir-Putin-7264377.html?seite=3
[3] https://mod.gov.az/en/news/bilateral-talks-were-held-between-the-defense-ministries-of-azerbaijan-and-germany-42051.html
[4] https://mod.gov.az/en/news/nato-training-course-is-being-held-in-baku-42192.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-das-verbotene-Gedenken-an-den-Voelkermord-an-den-Armeniern-7070547.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Autonome-Killerdrohnen-kommen-nicht-erst-es-gibt-sie-schon-6057359.htmlseite=all
[7] https://www.heise.de/tp/features/Berg-Karabach-Der-endlose-Konflikt-im-schwarzen-Garten-6037742.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Der-erste-echte-Drohnenkrieg-Europas-Anteil-und-deutsche-Aufruestung-6014986.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Sichert-40-Milliarden-Pipeline-den-Frieden-in-Berg-Karabach-5019562.html
[10] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundesregierung-erkennt-uebergangspraesidenten-an-1576740
[11] http://v
[12] https://www.heise.de/tp/features/Bundestagsgutachten-Gegenpraesident-in-Venezuela-ohne-Legitimation-5061010.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/So-kaempft-Venezuelas-Gegenpraesident-um-sein-politisches-Ueberleben-6050230.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Ersatz-fuer-russisches-Oel-US-Regierung-lockert-Sanktionen-gegen-Venezuela-7102405.html
[15] https://www.heise.de/tp/features/Putin-Strategische-Partnerschaft-mit-Kuba-und-Venezuela-6338449.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Alarmierender-Befund-Deutschland-trocknet-aus-7265105.html
Copyright © 2022 Heise Medien