Asyl, Datenschutz, Gesundheit

Vernachlässigte Themen und Nachrichten im Jahr 2004

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Die Jury der Initiative Nachrichtenaufklärung wählte an diesem Wochenende wieder zehn Themen und Nachrichten aus, die von den Medien im letzten Jahr gar nicht oder nur vereinzelt aufgegriffen wurden - obgleich sie relevant gewesen wären.

Der Klassiker: Themen rund um Asyl

Das Klassikerthema der vernachlässigten Nachrichten setzte die Jury in diesem Jahr sogar auf Platz 1: "Aus Deutschland abgeschoben - und dann?" Beispielhaft stellt die Initiative das Schicksal einer kurdischen Mutter vor, deren älteste Tochter nach der Rückkehr in die Heimat zwangsverheiratet wurde. Bekannt wurde das Schicksal nur deshalb, weil die Journalistin Birgit Mittwoch die Familie mit einem Fernsehteam im März 2003 besuchte und die schwierige Lebenssituation der Familie in einer Reportage im ORB zeigte. Mittwoch war nur zufällig auf die Familie gestoßen, als sie für einen Bericht über die Stimmung der kurdischen Bevölkerung im türkisch-irakischen Grenzgebiet am Vorabend des Krieges gegen den Irak im März 2003 recherchierte.

Im Jahr 2003 wurden nach Angaben von Pro Asyl 4.062 in die Türkei abgeschoben - aus diesem Land kommen auch die meisten Asylbewerber nach Deutschland. Zwar erleidet die beispielhaft vorgestellte kurdische Familie in der Türkei keine politischen Repressalien, doch ihr Schicksal zeigt, dass Menschen mitunter auch durch die gesellschaftlichen Strukturen ihrer Heimat gefährdet werden können.

Seit Jahren haben Berichte rund um Asylbewerber in deutschen Medien Seltenheitswert, deshalb sind Asyl-Themen immer wieder auf der Top-Ten-Liste der Initiative Nachrichtenaufklärung zu finden. In diesem Jahr hat es sogar ein zweites Asyl-Thema in die Liste geschafft: Dass Asylbewerber mitunter ganz bewusst gegen die Residenzpflicht verstoßen, um durch das anschließende Gerichtsverfahren auf ihre Situation aufmerksam zu machen, wählte die Jury auf Platz 7. Osaren Igbinoba, Aktivist von "The Voice" bezeichnete die Residenzpflicht als "rassistisches Sondergesetz und einmalig in Europa" (Asyl in Deutschland).

Ein Thema, das bislang ebenfalls von eher links gerichteten Zeitungen aufgegriffen wurde, ist die schleichende Militarisierung der Europäischen Union (s. Soll die Türkei in die EU?). Dass sich in der neuen EU-Verfassung die Mitgliedsstaaten aber sogar dazu verpflichten, ihre militärischen Kapazitäten zu steigern sowie ihre militärische Präsenz zu erhöhen, war allen überregionalen Medien aber nur eine Randbemerkung wert, da zumeist Verfahrensfragen zur neuen Verfassung sowie andere Inhalte die öffentliche Diskussion bestimmten.

Vernachlässigte Informationstechnologien

Gleich drei IT-Themen belegten in diesem Jahr die Ränge 2 bis 4. Auf Rang 2 setzte die Jury die technischen Mängel des virtuellen Arbeitsmarktes der Bundesagentur für Arbeit. Nahezu unbemerkt blieb, dass Programmier- bzw. Designfehler dazu führten, dass viele Arbeitslose nicht auf den kompletten Stellenmarkt zugreifen konnten. So konnte das System, wie der unabhängige Experte Manfred Müller aufzeigte, lange Zeit ausgerechnet Postleitzahlen, die mit einer 0 beginnen, nicht richtig verarbeiten. Über diesen Missstand berichtete jedoch nur die "Leipziger Volkszeitung" unter dem Titel "Der Job-Vernichter". Noch immer führt die uneinheitliche Pflege der gespeicherten Daten durch die regionalen Geschäftsstellen dazu, dass der virtuelle Arbeitsmarkt Mängel aufweist. Zwar berichteten die Medien vereinzelt über einen Bericht des Bundesrechnungshofs, der ebenfalls die mangelhafte Vermittlungsleistung des virtuellen Arbeitsmarkts kritisierte, doch den fatalen Postleitzahlen-Fehler führte dieser nicht auf.

Auf Platz 3 setzte die Jury das Thema der mangelhaft gepflegten Kundendatenbanken. So führt der Jurybericht zahlreiche Unternehmen auf, die ihre Datenbanken offensichtlich nicht im Griff haben:

Nach einem Umzug war es einem Kunden der Telekomtochter T-Mart Web-Services jahrelang nicht möglich, seine neue Adresse in die bei T-Mart registrierte Webdomain eintragen zu lassen. Andere Telekomkunden versuchten jahrelang, Telefonbucheinträge oder Anschlüsse zu löschen oder zu ändern. Ähnlich Probleme gibt es bei Arcor. Auch Premiere ignoriert regelmäßig Kündigungen. Nach telefonischen Vertragsabschlüssen werden falsche Daten eingetragen, die sich dann gar nicht oder nur nach intensivem Briefverkehr korrigieren lassen. Unternehmen, die ihre Kundendatenbank durch Adresshandel erstanden haben oder vom Adresshandel leben, bieten Kunden gar keine Möglichkeit, die über sie gespeicherten Daten einzusehen, zu ändern oder zu löschen. Es fehlt der Ansprechpartner. Auch in der Schufa-Datenbank stehen laut einer Untersuchung von "Finanztest" massenhaft falsche Einträge.

Als ebenfalls wichtiges, aber vernachlässigtes Datenschutzthema nominierte die Jury auf Platz 4 die geplante Einführung des so genannten Morbiditätsfaktor im Rahmen der Gesundheitsreform. So sollen Patientendaten von 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten nach einem Plan des Bundesgesundheitsministeriums ab 2007 zentral gespeichert werden. Aus diesen Daten wird die Lebenserwartung jedes Versicherten individuell berechnet: der so genannte Morbiditätsfaktor. Dieser soll als Grundlage für einen neuen finanziellen Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen dienen. Ein Gutachten "Zur Wirkung des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung" von Jürgen Wasem und Peter Reschke vom Institut für Gesundheit und Soziales (IGES) für das Bundesgesundheitsministerium zeigt, dass nur die übergeordnete Prüfstelle der Krankenkassen des Bundes und der Länder als staatliche Stelle auf die pseudonymisierten Daten im Klartext zugreifen darf - doch Datenschützer befürchten, dass dieser Zugriff dauerhaft nicht der Prüftstelle allein vorbehalten sein wird.

Gesundheit

Ein weiteres Gesundheit-Technik-Thema schaffte es knapp auf Platz 10. Da es mit einem gewissen Ekelfaktor verbunden ist, liegt der Grund für seine Vernachlässigung nahe, gleichwohl ist es nicht zu unterschätzen: So sterben durch Vermischung von Fäkalien und Wasser in der Dritten Welt jährlich fünf Millionen Menschen, zumeist Babys und Kinder unter fünf Jahren. Wenn Fäkalien jedoch durch bestimmte sanitäre Einrichtungen getrennt vom Schmutzwasser abgeleitet würden, wäre dies nicht der Fall. Spezialisten der International Water Association (IWA) kämpfen seit Jahren für das Prinzip Ecological Sanitation, dessen Einführung sowohl mit Low-cost- wie auch mit modernen Hightech-Systemen möglich ist. Bestandteil dieses Abwasserprinzips ist beispielsweise die Vakuum- oder Trockentoilette.

Auf Rang 6 ebenfalls ein Gesundheitsthema: Unicef hatte in einer Pressemitteilung auf den "versteckten Hunger" durch Mangelernährung hingewiesen - damit jedoch wenig Presseresonanz gefunden. So leidet ein Drittel der Weltbevölkerung unter Vitamin- und Mineralstoffmangel, der zu schweren gesundheitlichen Schäden und vielfach zum Tod führt. Allein an den Folgen dauerhaften Vitamin-A-Mangels sterben jährlich weltweit eine Million Kinder, schätzen Experten. Viele Frauen in Entwicklungsländern sterben an Eisenmangel während der Schwangerschaft.

Erstaunlich ist es schon wieder, dass trotz der jahrelangen Auseinandersetzungen um das tschechische Atomkraftwerk Temelin die von der Europäischen Kommission vorgelegte EU-Richtlinie, die sich um eine Standardisierung der Sicherheitsstandards bemühte, im Sommer 2004 nahezu stillschweigend beerdigt wurde. Aus dem grünen Bundesumweltministerium, das die Richtlinie abgelehnt hatte, hieß es lediglich, dass man "keine tatsächliche Verbesserung der Sicherheit in den europäischen Atomanlagen" erwartet habe. Die Presse griff dies nicht auf, wohl weil die Sicherheit von AKWs im Rahmen der Osterweiterung der Europäischen Union immer wieder behandelt worden war.

An das Thema Lebenslänglich vergessen aus dem Jahr 2002 knüpft schließlich die diesjährige Nummer 9 an: "Zu hohe Hürden für Wiederaufnahmeverfahren." Verurteilte in Deutschland erreichen nur selten eine Wiederaufnahme ihres Strafprozesses. Sie müssen nämlich nicht nur außerordentliche rechtliche Anforderungen erfüllen, sondern auch die damit verbundenen hohen finanziellen Kosten bewältigen. Weder versucht sich die Rechtsliteratur an einer Reformdiskussion, noch führen die Justizministerien Statistiken darüber, wie viele Anträge auf Wiederaufnahmeverfahren es überhaupt gibt. Holm Putzke, wissenschaftlicher Assistent im Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum kommentierte dazu treffend: "Es wäre beschönigend, den Weg eines Wiederaufnahmeverfahrens nur als 'steinig' zu bezeichnen - 'vermint' wäre schon zutreffender."

Hintergrund der Initiative

Die Initiative veröffentlicht jährlich eine Top-10-Liste der vernachlässigten Themen und Nachrichten. Die Wirkung der Liste auf die Medienberichterstattung lässt sich nur schwer abschätzen - wissenschaftlich wurde sie noch nicht untersucht. Gleichwohl haben einige Themen der vergangenen Jahre eine Art Belebung erfahren, so etwa 2001 die Themen Monopolisierung der Trinkwasserversorgung und Innenminister Otto Schily behindert Informationsfreiheitsgesetz

1997 hatte der Bremer Medienwissenschaftler Peter Ludes die Initiative Nachrichtenaufklärung gegründet. Sie soll vernachlässigte Themen von allgemeinem Interesse einer breiten Öffentlichkeit kenntlich und zugänglich machen. Gleichzeitig will sie damit investigativen Journalismus fördern und unterstützen. Ein Motiv, das 2001 das Netzwerk Recherche dazu brachte, sich als Kooperationspartner zu engagieren.

Federführend wird die Initiative Nachrichtenaufklärung seit 2000 von Professor Horst Pöttker vom Institut für Journalistik der Universität Dortmund betreut. Ein studentisches Rechercheseminar bearbeitet über das Jahr die eingegangenen Themenvorschläge. Seit dem Wintersemester 2004 findet zusätzlich ein Rechercheseminar an der Universität Münster statt, ab dem Sommersemester 2005 wird auch das Zentrum für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Bonn die Initiative mit Rechercheleistungen unterstützen. Für die Liste 2004 prüften die Rechercheseminare 128 Vorschläge.

Die studentischen Rechercheure nehmen zur Überprüfung Kontakt zu den Verfassern der eingereichten Vorschläge auf. Sie versuchen das Motiv des Einreichers festzustellen und weitere Quellenhinweise zu erhalten. Um den dargestellten Sachverhalt zu prüfen, sprechen sie mit Experten sowie Vertretern von Firmen und Behörden. Sie erschließen das thematische Umfeld über eine umfangreiche Pressedatenbank sowie Informationsangebote im Internet. Kontakte zu einschlägigen Autoren und Experten helfen ebenfalls, zu einer zuverlässigen Einschätzung zu kommen.

Die Qualität der Liste hängt vor allem aber von der Anzahl und Qualität der eingereichten Vorschlägen ab. Immer wieder erreichen die Initiative leider Vorschläge, die dem Einreicher zwar sehr wichtig sind, die jedoch keineswegs vernachlässigt sind. Auch gibt es hin und wieder Vorschläge, deren Sachverhalt sich gar nicht bestätigen lässt. Stoßen die Studierenden während der Recherche auf neue, vernachlässigte Themen, werden auch diese weiter überprüft. In 2005 soll erstmals ein Jahrbuch der Initiative erscheinen, das die Themen, ihre Hintergründe und die Initiative genauer beleuchten soll.

Vorbild Project Censored

Vorbild der Initiative ist das Project Censored, das der Soziologe und Medienwissenschaftler Peter Philipps 1976 an der kalifornischen Sonoma State University gründete. Hier bewerten jährlich knapp 100 freiwillige Juroren 25 Nachrichten aus über 200 Einsendungen.

Die Top-25-Liste wird in einem international bekannten Jahrbuch mit Gastbeiträgen renommierter Journalisten vorgestellt. Finanziell ist das amerikanische Projekt weit besser gestellt als sein deutsches Schwesterprojekt: Mehrere hundert Spender unterstützen die Initiative, der größte Sponsor ist Anita Roddicks Body Shop.

Die Liste von Project Censored für das Jahr 2004:

  1. The Neoconservative Plan for Global Dominance
  2. Homeland Security Threatens Civil Liberty
  3. US Illegally Removes Pages from Iraq U.N. Report
  4. Rumsfeld's Plan to Provoke Terrorists
  5. The Effort to Make Unions Disappear
  6. Closing Access to Information Technology
  7. Treaty Busting by the United States
  8. US/British Forces Continue Use of Depleted Uranium Weapons Despite Massive Evidence of Negative Health Effects
  9. In Afghanistan: Poverty, Women's Rights, and Civil Disruption Worse than Ever
  10. Africa Faces Threat of New Colonialism

Christiane Schulzki-Haddouti ist seit 2000 Mitglied der Jury und leitet seit 2002 das Rechercheseminar in Dortmund. Ab dem Sommersemester 2005 betreut sie das Bonner Rechercheseminar.