Atatürk Telecom

Tücken des Ethno-Marketing

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Neu in Europa ist das Ethno-Marketing, das sich auf bestimmte ethnische Gruppen richtet. In den USA ist das bereits eine normale Praxis, auch wenn der Ausschluß von Juden aus der Mailingliste des German Tourist Office in Deutschland selbst für einen kleinen Skandal sorgte.

Die US-Vermarktung behandelt ethnische Gruppen als stereotype Blöcke: Juden erhalten Mail über Chanukah-Kerzen, aber nicht über Urlaubsmöglichkeiten in Deutschland. In Europa, wo die ethnische Identität sogar noch politisierter ist als in den USA, bringt dieser Ansatz allerdings einige Risiken mit sich. Die privatisierte niederländische Telecom KPN ließ das Ethno-Marketing in der gefährlichen Arena der türkischen Politik stattfinden. Sie gab eine Telefonkarte mit dem Portrait von Atatürk heraus, um das 75-jährige Jubiläum der türkischen Republik zu würdigen.

Doch hat offensichtlich niemand im Management der KPN irgendein Gespür für Geschichte oder Politik. Das Unternehmen richtete vor zwei Jahren eine Abteilung für Ethno-Marketing für die drei großen Minoritäten in Holland ein: für Menschen aus der Karibik, Marokkaner und "Türken". Die Marketing-Entscheidungen für die "türkische" Kampagne wurden von Eray Ergec, einem türkischen Ethno-Vermarkter, getroffen, und als guter patriotischer Türke gab er die Telefonkarte zum 75. Jahrestag der Republik heraus. Auf ihr sieht man das Portrait von Atatürk, das Symbol der offiziellen türkischen Feierlichkeiten (die Zahl 75, einen Halbmond und einen Stern) und auch das Logo der KPN Telecom. Dieselbe Kombination erscheint auf Plakaten, die für die Karte in türkischen Geschäften und Banken werben. Es gibt einen türkischsprachigen Telefonservice, bei dem man die Karte bestellen kann.

Nach Eray Ergec war Atatürk ein "progressiver Mensch, der viel für sein Land geleistet hat", und es gibt keinen Grund, ihn nicht auf einer Telefonkarte abzubilden. Bei der KPN gehorcht offensichtlich alles Stereotypen: alle Türken sind Türken, alle Türken lieben Atatürk und niemand hat etwas von Kurden gehört.

In Wirklichkeit sind viele der Einwanderer aus der Türkei in Holland Kurden. Sie haben keinen Grund, die 75 Jahre bestehende türkische Republik zu feiern, aber gute Gründe, Mustafa Kemal Atatürk zu hassen. Das ist bei vielen anderen Gruppen wie den Albanern, Bulgaren, Griechen, Georgiern, Armeniern, Assyrern und Arabern genau dasselbe. Gegen alle kämpfte Atatürk, aber auch gegen Großbritannien, Frankreich, Italien, das zaristische Rußland und die Sowjetrepublik Armenien. In der Türkei unterdrückte er die Ottomanische Monarchie, Islamisten, Bolschewiken, sezessionisische Bewegungen und, am Ende seines Lebens, besonders die Kurden.

Hier eine kurze Chronik der Ereignisse, die vorwiegend auf David McDowalls "A Modern History of the Kurds" und einer offiziellen Biographie von Atatürk basiert:

  1. 1909: Atatürk unterdrückt als ottomanischer Offizier Mustafa Kemal die albanischen Aufstände in Albanien und im Kosovo
  2. 1916: aktiver Offizier während des "armenischen Genozids" in der Osttürkei
  3. um 1920: repressive Feldzüge gegen armenische Rebellen
  4. 1925: armenische Verschwörung zur Ermordung Atatürks
  5. 1920/21: während des Krieges mit Griechenland stand Atatürk an der Spitze einer Kampagne, um die griechische Bevölkerung aus der Region um Smyrna (Izmir) zu vertreiben
  6. nach dem Friedensschluß mit Griechenland weist Atatürk die verbliebene griechische Minderheit aus dem Land, während die griechische Regierung ihrerseits die eigene türkische Minderheit vertreibt
  7. 1924: Atatürk verbietet die kurdische Sprache und beginnt mit der Assimilationspolitik an die türkische Kultur
  8. 1925-1938: Atatürk gab den Befehl für 17 militärische Einsätze gegen Kurdenaufstände
  9. 1934: offizielle Politik der Deportation einer ganzen Bevölkerung in einigen kurdischen Regionen
  10. 1930: Atatürk beginnt mit der Zerstörung kurdischer Dörfer als wichtigster Taktik in kurdischen Gebieten

Ein Unternehmen wäre dumm, offiziell einen solchen Menschen zu ehren. Offensichtlich ist die KPN dumm. Die Öffentlichkeitsabteilung der KPN behauptete, daß "Atatürk der Gründer des türkischen demokratischen Rechtsstaates war, und daß die Türkei Mitglied der NATO ist." Die Reaktion des KPN-Sprechers Bartels auf die Anti-Kurden-Aktionen Atatürks: "Das wußten wir nicht. Das wurde in den holländischen Medien nicht berichtet. Sie müssen den Einsatz von Giftgas nach den Gegebenheiten der Zeit beurteilen. Auch die KPN litt unter der deutschen Besetzung. Wir können als Telekom-Unternehmen nicht geschichtliche Persönlichkeiten beurteilen. Daher zogen wir keine historischen Forschungen für die Herausgabe der Atatürk-Telefonkarte heran."

Wahrscheinlich steckt hinter dieser Haltung der Rassismus des KPN-Managements. Sie betrachten Minderheiten als einen Markt für Telefonkarten, aber schließen sie von höheren Positionen aus. Sie nehmen sie, in anderen Worten, nicht ernst. Und offensichtlich hat niemand der gegenwärtigen Manager etwas über die Türkei gelesen. So haben sie jetzt die KPN mit dem repressiven türkischen Staat und seinem nationalistischen Gründer verbunden. Ich vermute, daß andere Telekoms (und auch andere Unternehmen) ähnliche Fehler in ihrer Jagd nach dem Ethno-Markt begehen werden. Das ist der Preis für stereotypes Ethno-Marketing.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer