Atomdebatte: Friedrich Merz setzt auf Technik aus den 1970er Jahren
Energie und Klima – kompakt: Von Rekordtemperaturen und rissigen deutschen Atomreaktoren, die zu den modernsten der Welt gehören.
Der Juli war im globalen Mittel einer der drei bisher wärmsten Juli-Monate in der Geschichte der Wetteraufzeichnungen, und zwar annähernd um 0,4 Grad Celsius wärmer als der Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020. Nur der Juli 2016 und der Juli 2020 waren ähnlich warm.
Besonders über den Kontinenten auf der Nordhalbkugel waren die Temperaturen meist überdurchschnittlich, so das Copernicus-Programm des Europäischen Zentrums für Mittelfristige Wettervorhersagen (European Center for Midrange Weather Forcast, ECMWF) im britischen Reading in seiner Monatsbilanz für den Juli.
Finanziert von der EU, dient Copernicus vor allem der Klimabeobachtung. Das ECMWF ist eine gemeinsame Initiative der europäischen Wetterdienste, die seit vielen Jahrzehnten die Wetterbeobachtung koordiniert und schon frühzeitig ein hochwertiges Vorhersagemodell entwickelt hat.
Geht man in der Zeit weiter zurück und zieht zum Vergleich die vom Goddard-Zentrum der NASA errechneten globalen Mittelwerte heran, so ergibt sich, dass der Juli 2022 rund 1,2 Grad Celsius wärmer war, als der durchschnittliche Juliwert der Jahre 1880 bis 1909. Oder mit anderen Worten: Die globale Erwärmung ist bereits erheblich fortgeschritten, sodass nur noch wenig Zeit bleibt, die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, wie es in Paris 2015 verabredet wurde.
Weitverbreitete Dürre
Die Folgen sind derzeit überall in Europa zu spüren. Für fast die Hälfte des EU-Territoriums wird gemeldet, dass zu wenig Wasser im Boden ist, für 15 Prozent wurde eine Warnstufe ausgerufen. Hierzulande herrscht in weiten Teilen des Landes die höchste oder zweithöchste Dürrestufe – ähnlich übrigens, wie in den USA – und Niederschlag ist bis zum Ende der Woche nicht in Sicht.
Bei wieder steigenden Temperaturen, die die Verdunstung exponentiell zunehmen lassen, verschärft sich die Situation damit weiter. Erst ab Anfang der kommenden Woche könnte es mehr Wolken und ein wenig Niederschlag geben.
Seit Mitte Juli wurde Europa von mehreren Hitzewellen durchzogen. Hier eine Animation von Copernicus, die dies veranschaulicht. Vielerorts wurden neue Temperaturrekorde aufgestellt, unter anderem in Portugal, Irland, England und Schweden. (Über die hiesigen Hitze-Rekorde hatte Telepolis bereits letzte Woche berichtet.)
Einfluss des Menschen
In England kletterte das Thermometer erstmalig in der Geschichte der dortigen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden Aufzeichnungen über 40 Grad Celsius. Der bisherige landesweite Rekord hatte bei 38,7 Grad Celsius gelegen. Ein derartiger Sprung in den Rekorden sei äußerst außergewöhnlich, heißt es beim britischen Wetterdienst (Met Office).
Die Meteorologen von der Insel sprechen von einem Meilenstein in der Veränderung des Klimas. An 46 englischen Stationen sei der bisherige landesweite Rekord gebrochen worden. Auch in Wales und Schottland habe es neue Rekorde gegeben.
In der Geschichte der britischen Wetteraufzeichnungen seien bisher nur am 10. August 2003 und am 25. Juli 2019 Temperaturen über 38 Grad Celsius registriert worden. Nun wurde die Schwelle gleich an zwei Tagen in Folge, am 18. und 19. Juli 2022, überschritten. Eine Animation veranschaulicht den Vergleich mit bisherigen Hitzewellen auf den britischen Inseln und zeigt eindringlich, dass die jüngste auch von Dauer und räumlichen Ausmaßen einzigartig war.
Die britischen Meteorologen sind sich ziemlich sicher, dass die Ursache beim durch menschliche Aktivitäten verursachten Anstieg der Treibhausgase in der Atmosphäre zu suchen ist: "Die Klimamodellierung zeigt, dass Temperaturen von Grad Celsius in einem nicht von Menschen beeinflussten Klima im Vereinigten Königreich praktisch unmöglich sind", so Met Office Chef-Wissenschaftler Stephen Belcher.
Sollten die Emissionen weiter wie bisher zunehmen, so würden sich die Hitzewellen häufen. Temperaturen von 40 Grad Celsius würden auf den britischen Inseln in den Szenarien mit sehr hohen Emissionen alle drei Jahre auftreten.
Würden die Emissionen reduziert, blieben die extremen Hitzewellen seltener, könnten sich aber wegen der bereits eingetretenen Klimaveränderungen immer noch wiederholen. Großbritannien müsse sich daher auf diese Extremereignisse vorbereiten.
Besonders schlimm ist die aktuelle Dürre unter anderem in Frankreich. Dort sind derzeit über 100 Dörfer ohne fließendes Wasser, weil ihre Trinkwasserreservoirs ausgetrocknet sind. Auch die französischen Atomkraftwerke haben wegen Wasserknappheit und zu hoher Temperaturen in den Kühlwasser spendenden Flüssen erhebliche Probleme, wie hier auf Telepolis bereits berichtet.
Anderswo gibt es hingegen zu viel des Nasses. Österreich wurde zum Ende der letzten Woche von schweren Unwetter heimgesucht, die für reichlich Verwüstungen sorgten. Schwere Überschwemmungen mit desaströsen Folgen gab es vergangene Woche unter anderem auch im südlichen China, wo 26 Menschen starben, im pakistanischen Belutschistan, wo bei verschiedenen Unwettern mindestens 90 Menschen ums Leben kamen, und Uganda.
Faktenfreie Debatten
Die Schwierigkeiten der französischen AKW-Flotte hätten derweil hierzulande ein wenig mehr Aufmerksamkeit verdient, und zwar nicht nur, weil Frankreich ihretwegen auf deutschen Solarstrom zurückgreifen muss. Im Juli wurden zum Beispiel 1,6 Milliarden Kilowattstunden nach Frankreich exportiert, aber nur 0,19 Milliarden Kilowattstunden von dort eingeführt, wie die Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme zeigen.
Auch würde man sich wünschen, dass die diversen Vertreter der politischen Rechten, die immer lauter nach einer Verlängerung der Laufzeiten für die drei verbliebenen AKW (Emsland A in Niedersachsen, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Isar 2 in Bayern) in Interviews öfter mit derlei Realitäten konfrontiert würden.
Es leiden nämlich nicht nur französische Ströme unter niedrigen Pegelständen und damit die Atommeiler unter Kühlwassermangel, sondern auch die deutschen Flüsse. Dies so sehr, dass einige am Rhein gelegene Steinkohlekraftwerke inzwischen Probleme mit der Versorgung haben, wie hier auf Telepolis am gestrigen Dienstag zu lesen war.
Doch derlei würden eine Ideologie getrieben Kampagne nur belasten, in der der CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz das bayerische AKW Isar 2 besichtigt, um im Anschluss zu verkünden, er habe "eines der modernsten Kernkraftwerke der Welt besichtigt".
Die Anlage ist übrigens seit April 1988 in Betrieb, Baubeginn war 1982, die Pläne stammen aus den 1970er Jahren. Aber was soll man vom Vorsitzenden einer Partei halten, für dessen Vorgängerin das Internet noch 2013 Neuland war?
Sicherheitsüberprüfung überfällig
13 Jahre ist es her, dass der von Merz so über den Klee gelobte Reaktor zuletzt einer umfassenden Sicherheitsüberprüfung unterzogen wurde, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) weist man darauf hin, dass auch die andere beiden noch laufenden Meiler zuletzt 2009 auf Herz und Nieren überprüft wurden, "nach Sicherheitsanforderungen aus den 1980er Jahren".
Eigentlich haben diese in etwa alle zehn Jahre stattgefunden, wurden jedoch bei den letzten Anlagen wegen der baldigen Stilllegung nicht mehr verlangt. Nach dem geltenden Atomgesetz (Paragraph 7) müssen sie nämlich spätestens am 31. Dezember dieses Jahres vom Netz gehen.
Ein Weiterbetrieb bräuchte also eine Gesetzesänderung, neue Brennstäbe, die nicht von heute auf morgen zu beschaffen sind, schon gar nicht, wenn man sie nicht in Russland einkaufen will, und vor allem einen umfassenden Sicherheitscheck.
Doch für den müssten eigentlich die Anlagen zunächst abgeschaltet werden. Eigentlich. Und man müsste sich etwas wegen der Risse an Rohren und Dampferzeuger des Reaktors Neckarwestheim 2 einfallen lassen. Eigentlich.
Die Betreiber scheinen allerdings wenig Neigung zu haben, sich diese Unkosten und Unwägbarkeiten aufzuhalsen. Die Süddeutsche Zeitung zitiert an anderer Stelle aus einem Protokoll einer Diskussion der Betreibergesellschaften mit Regierungsvertretern, darunter Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), über eine etwaige Laufzeitverlängerung.
Demnach habe man festgehalten, dass ein Weiterbetrieb "nur sinnvoll (sei), wenn entweder die Prüftiefe der grundlegenden Sicherheitsanalyse verringert würde und/oder auf weitreichende Nachrüstungsmaßnahmen (...) verzichtet würde". (Zitiert nach SZ.)
Das bekommt ein besonderes Geschmäckle angesichts der zahlreichen Risse in Rohren und am Dampferzeuger des Reaktors Neckarwestheim 2. Jedes Jahr seit 2017 wurden bei den turnusgemäßen Inspektionen neue entdeckt, zuletzt gleich 35 bei der Revision im Juni 2022. Die von "linearen Wanddickenschwächungen" betroffenen Rohre seien einfach außer Betrieb genommen worden, schrieb im Juli der Sender SWR auf seiner Seite.
Wie es aussieht, können wir also froh sein, wenn der baden-württembergische Reaktor noch bis zum Dezember durchhält, aber mit den vorhandenen Brennstäben könnte er ohnehin nur maximal zwei Monate länger laufen.
Vor diesem Hintergrund fällt die Kritik der Umweltverbände an der nuklearen Geisterdebatte fast etwas zu zahm aus:
Die Forderungen nach einem Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke sind populistisch. Energie aus Atomkraft ist unsicher, unrentabel und unnötig. Wer angesichts der drohenden Gasengpässe behauptet, nur mit Atomkraft einen warmen Winter ermöglichen zu können, führt eine Scheindebatte und rechnet die Leistungsfähigkeit der AKW schön.
Olaf Bandt, BUND-Vorsitzender
Übrigens: Netto hat Deutschland in diesem Jahr bisher 18,5 Milliarden Kilowattstunden exportiert, davon 9,7 Milliarden nach Frankreich. Die drei letzten deutschen AKW haben in dieser Zeit 19,6 Milliarden Kilowattstunden ins Netz eingespeist, liefen also fast ausschließlich für den Export, wie die Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme zeigen.