Atomkrieg am Bildschirm
Introversion Software gelingt im Strategiespiel "Defcon" mit ästhetischem und spielerischem Minimalismus ein Meisterwerk des Bedroom-Programming. Das Thema und Dilemma des Spiels: globaler thermonuklearer Krieg
„The last of the bedroom programmers“, so bezeichneten sich bisher die drei Briten Chris Delay, Mark Morris and Thomas Arundel, die als Introversion Software in den letzten fünf Jahren mit drei PC-Spielen bewiesen, dass im Multimillionenbusiness Computerspiele auch kleine Entwickler fast ohne Budget hervorragende Spiele programmieren und selbst vermarkten können. Schon das erste Spiel, „Uplink“ (2001), verband auf neuartige Weise grafisch und spielerisch minimalistisches Gameplay mit großer Handlungsfreiheit und extrem reduzierter Grafik und Benutzeroberfläche.
Der Spieler, so suggeriert die vom 8-bit-Klassiker „Hacker“ übernommene Ausgangssituation des Spiels, loggt sich – über das schlichte Dateninterface des Spiels – in ein weltweites „Internet“ ein, symbolisiert durch eine reduzierte Weltkarte, die eines der wenigen grafischen Elemente und Hauptspielfläche darstellt. Hier übernimmt der Spieler für die „Uplink Corporation“ kriminelle Aufträge, fremde Datenbanken und Server zu „hacken“. Die Simulation geht so weit, dass nicht nur weltweite Verbindungen zur Täuschung der Abwehrmechanismen und behördlicher Verfolger angelegt werden müssen, sondern sogar die Logfiles auf den verwendeten Servern nach erfolgreichem Einbruch gelöscht werden sollen. Der Spieler muss Daten entwenden, sabotieren oder zum Beispiel Sozialversicherungseintäge fälschen, ohne erwischt zu werden.
Die Achtzigerjahre als Vorbild
„Uplink“, das nur auf der Homepage der Hersteller gekauft werden konnte, entwickelte sich durch pure Mundpropaganda zu einem der Geheimtipps der Spieleszene abseits des großen Business. Das Kultspiel, das eine fast fanatische Fanbasis mit zahlreichen Moddern erlangte, wird noch heute, fünf Jahre nach seinem Erscheinen und dem späteren Verkauf an einen Publisher, über die Downloadplattform Steam verkauft und hat nichts von seinem zeitlosen Reiz verloren.
Schon hier zeigte sich eine der Hauptinspirationsquellen der Programmierer, der Film „War Games“ (1983), in dem ein jugendlicher Hacker (Matthew Broderick) via Akustikkoppler in fremde Computersysteme einbricht und dabei unabsichtlich im Computer des amerikanischen Verteidigungsministeriums den Countdown zum Dritten Weltkrieg auslöst. „War Games“ nimmt offenbar einen besonderen Stellenwert im kreativen Schaffen von Introversion Software ein - „Defcon“ ist dies überdeutlich anzumerken -, doch für das zweite Spiel „Darwinia“ stand ein anderer Achtzigerjahrefilmklassiker Pate: „Tron“ (1982).
„Darwinia“ (2005) simuliert eine aus den Fugen geratene künstliche Welt, die im Inneren eines riesigen Computernetzwerks zum Leben erwacht ist. Die Aufgabe des Spielers besteht darin, dieses durch einen Virenausbruch bedrohte Universum und seine Bewohner, die abstrahiert als zweidimensionale Sprites in Szene gesetzten Abertausenden „Darwinians“, in einer Mischung aus „Cannonfodder“ und simpler Echtzeitstrategie zu retten. Die wunderschöne, deutlich an die Ästhetik von „Tron“ angelehnte Grafik, das simple, an 8-bit-Klassiker erinnernde Gameplay und die mit liebevollen Details gestaltete Spielwelt verleiteten vor allem die britische Presse zu Jubelstürmen. Besonders die Atmosphäre des Spiels, die künstlerisch anmutende, ästhetisch minimalistische Neongrafik und der hervorragende, dichte Ambientsoundtrack lassen „Darwinia“ zu einem Ausnahmespiel werden, das zahlreiche Kritikerpreise gewann und von machen Rezensenten sogar als „digitale Skulptur“ und Kunstwerk gewürdigt wurde.
Defcon – Everybody dies
Defcon ist das dritte, aktuelle Spiel von Introversion Software, und es kann seine Herkunft nicht verhehlen: Wie bei „Uplink“ ist das Spielfeld eine Weltkarte, wie bei „Darwinia“ erinnert der grafische Stil an die reduzierte, ästhetisch minimalistische Computerwelt von „Tron“. Das Thema des Spiels ruft hingegen wieder „War Games“ in Erinnerung: In direkter Anlehnung an die Handlung und Ausstattung dieses Films stellt das Spielfeld einen digitalen militärischen Sandkasten dar, in dem der Dritte Weltkrieg ausgefochten wird – zuerst mit regulären, dann mit atomaren Waffen. Eine voll spielbare Demo des nur 60 MB großen Spiels (mit leicht eingeschränktem Mehrspielerpart) sowie der moderate Verkaufspreis von lediglich 15€ sollten Strategiespezialisten und Freunde ungewöhnlicher Spielideen aufhorchen lassen.
Bis zu sechs Spieler treten in der Rolle verschiedener Kontinente gegeneinander an. Die Eskalation beginnt bei Spielstart bei „Defcon 5“ mit der Verteilung der Ressourcen auf dem eigenen Gebiet: Radartürme, Flughäfen, Raketensilos und Flotten werden verteilt. Hier zeigt sich bereits der spielerische Minimalismus: Während bei anderen Echtzeitstrategiespielen Basenbau betrieben wird, gibt es hier für jede Spieler dieselbe Anzahl von Einheiten, die wohlüberlegt platziert werden müssen. Nach dieser ersten Phase – die Spielgeschwindigkeit kann jederzeit erhöht werden – folgen Defcon 4 bis 3, in denen erste reguläre Kampfhandlungen zwischen Flotten und Luftkräften erfolgen. Dabei verwendet „Defcon“ das bekannte Schere-Stein-Papier-Prinzip, um bei den insgesamt lediglich fünf verschiedenen Einheitentypen für strategische Tiefe zu sorgen.
Ist schließlich Defcon 1 erreicht – je nach Spielgeschwindigkeit kann dies zwischen 15 Minuten und mehreren Stunden dauern -, beginnen die atomaren Schläge. Gewinner ist, wer am Schluss des Spiels in einer nüchternen Abrechnung die höchste Punktezahl erreicht – getötete Feinde werden mit eigenen Verlusten gegengerechnet. Was simpel klingt, erweist sich im Spiel als fordernde Nervenprobe, denn trotz nur weniger Einheitentypen und nur einer einzigen Karte als Spielfeld bietet „Defcon“, auch dank der Möglichkeit, mit anderen Mitspielern Allianzen zu schmieden und diese wieder zu brechen, wie sein Brettspiel-Verwandter „Risiko“ fast endlose Spielmöglichkeiten und bei aller Einfachheit große strategische Herausforderungen.
Schlechte Entscheidungen
Als ebenso große Herausforderung erweist sich aber eben auch die Beurteilung des Sujets und der Grundlagen des Spiels. „Everybody dies“, lautet der Slogan, und weiter: „It's Global Thermonuclear War, and nobody wins. But maybe - just maybe - you can lose the least.“ Das erinnert – neben Anklängen an Stanley Kubricks Meisterwerk „Dr. Strangelove or How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb“ - an einen weiteren Spieleklassiker, an „Nuclear War“ (1991), in dem der Spieler in der Rolle eines im Stile von „Spitting Image“ karikierten Staatenlenkers – darunter „Infidel Castro“ und „Ronnie Raygun“ - ebenso einen Atomkrieg gewinnen musste. Während „Nuclear War“ dem Thema aber durch völlige Überzeichnung die Spitze nahm – so springt der jeweilige Gewinner mit einem kindischen „I won! I won!“ am Siegesbildschirm auf einem verkohlten und verstrahlten Planeten herum -, geht „Defcon“ einen anderen Weg.
Denn überraschenderweise zwingt ausgerechnet die völlige und bewusst eingesetzte Abstraktion des Spiels dazu, die mögliche Realität des Szenarios auf dem Bildschirm mitzudenken. „Defcon“ zwingt den Spieler mit subtilen Mitteln förmlich dazu, die moralische und ethische Dimension seines Handelns im Hinterkopf zu behalten. Beim Einschlag von Atombomben in Großstädte in der Schlussphase des Spiels erscheint etwa als Textnachricht ein schlichtes „Los Angeles: 3.2 M dead“, während der außergewöhnlich gelungene Soundtrack mit schwebenden Chören und sparsam eingesetzten Soundeffekten einen verstörenden Konterpunkt zur nüchternen, unfassbaren Statistik des simulierten Krieges darstellt.
Dieser schwebende orchestrale Ambientsoundtrack, der sparsam mit leisem Weinen, elektronischen Warnsirenen und anderen evokativen Soundschnipseln unterlegt wird, lässt gemeinsam mit der absurd nüchternen Spieloberfläche und der fast nihilistischen Zwangssituation des unaufhaltsam am Spielende herannahenden Atomkriegs die Atmosphäre des Spiels beklemmend und den Spieler nachdenklich werden. „Its influence is subtle. [Defcon] forces you to make choices that are all bad. There is no reveling in glory. There is only the dissociative reality of the blue glow, the somber music, and the flashes of white“, schrieb Julian Murdoch zum Thema der Gewaltdarstellung in „Defcon“.
Die Tatsache, dass der tatsächliche Ernstfall Atomkrieg, wie er im Verlauf des Kalten Krieges strategisches Szenario sein musste, auf äußerlich und von der Funktionsweise her ähnlichen Bildschirmen und Systemen strategisch geplant und ausgeführt worden wäre, verlangt vom Spieler auch eine Auseinandersetzung mit der historischen und realen Möglichkeit atomarer Konflikte und lässt ihn – wie auch zahllose Einträge im Forum zum Spiel belegen – unabhängig von Sieg oder Niederlage „traurig“, „nachdenklich“, „mit einem Gefühl der Zerbrechlichkeit“ zurück. „Defcon“ schafft, was die physikalisch korrekten, fotorealistischen Ragdoll-Morde in anderen Titeln nicht schaffen: die Reflexion der spielerischen Gewalt im Spieler selbst. Dies ist keine
geringe Leistung und spricht für die gelungene Gratwanderung der Hersteller, ein Spiel, in dem Millionen Menschen getötet werden, zu einem Statement gegen den Krieg werden zu lassen. „Defcon“ ist wie seine Vorgänger ein Titel, der durch seine Reduktion, seine spielerische Tiefe und seine Eleganz ernsthafte, durchaus auch erfahrenere Spieler abseits des Mainstreams ansprechen wird. Soweit ein derartiges Spiel überhaupt als „Antikriegsspiel“ bezeichnet werden kann, schafft „Defcon“ in seiner Radikalität die prekäre Balance zwischen Zynismus und Abschreckung hervorragend – obwohl diese Interpretation sowie das Spiel selbst mit Sicherheit auch heftige (reflexhafte) Kritik auf den Plan rufen wird. Wie den anderen großen (post-)apokalyptischen Titeln der Spielegeschichte (kurz erwähnt seien nur „Wasteland“ und die „Fallout“-Reihe) kann „Defcon“ im schlimmsten Fall zynischer Nihilismus, aber nicht Gewaltverherrlichung vorgeworfen werden – schon allein das unterscheidet es von der großen Menge fast aller anderer Computerspiele, die in der einen oder anderen Form kriegerische Konflikte thematisieren. Die Geschmacklosigkeit und Menschenverachtung, die man dem Titel – in der Regel meist, ohne diesen selbst gespielt zu haben – vorwerfen mag, wird durch die Präsentation des Spiels selbst thematisiert und aufgezeigt: als Menschenverachtung und Wahnsinn des Krieges im Allgemeinen und des Atomkriegs im Besonderen. Diese Erkenntnis kann in Zeiten wieder zunehmender Atomwaffenproliferation und des zurückkehrenden nuklearen Säbelrasselns nicht schaden.