Atomwaffen: Was, wenn die nukleare Abschreckung scheitert?
Seite 2: Atomwaffen: Widerspruch zwischen Gleichgewicht und Überlegenheit
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Nun ist es bis heute nicht gelungen, das angestrebte Gleichgewicht dauerhaft zu stabilisieren. Indem man Gleichgewicht forderte, suchte man stets die eigene Überlegenheit, den eigenen Vorteil. Die Chancen für eine geopolitische Balance sind gering, zumal sich innerhalb des gültigen Paradigmas Gegner ständig misstrauen und sich erst dann sicher fühlen, wenn sie stärker sind als der andere.
Die sich ständig aufschaukelnden Bedrohungsängste führen in der Folge zu einem unbegrenzten Rüstungswettlauf. Falls die Abschreckung versagt, muss verteidigt werden.
Verteidigung ist nur dann sinnvoll, wenn das, was verteidigt wird, nicht zerstört wird. Die militärische Verteidigung im westlichen Bündnis ist eng mit dem Begriff der Vorneverteidigung verbunden.
Für die Bundesrepublik bildet die grenznahe und gemeinsame Verteidigung die eigentliche "Geschäftsgrundlage" im NATO-Bündnis. Es gilt, den Schaden für die eigene Bevölkerung so gering wie möglich zu halten.
Damit sind rasche Konfliktbeendigung und Schadensbegrenzung im Rahmen der Vorneverteidigung die Bestimmungsgrößen einer glaubwürdigen Verteidigungsoption.
In Anbetracht der gesteigerten Zerstörungswirkung konventioneller Waffen ist die lebenswichtige Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland bereits durch einen länger dauernden konventionellen Krieg gefährdet.
Mit hohen Verlusten der Zivilbevölkerung wäre zu rechnen. Wie soll ein Verteidigungskrieg, der sich nicht auf die Kampfzone einschränken lässt, räumlich und zeitlich begrenzt werden? Einziges Mittel zur raschen Konfliktbeendigung wäre für die Nato der begrenzte Einsatz von Atomwaffen.
Den Krieg damit zu beenden, scheint eher ein von Hoffnung getragenes Wunschdenken zu sein. Die heutige Sicherheitspolitik fußt auf einem auf einen Gegner ausgerichteten Sicherheitsverständnis, um möglicher machtpolitischer Expansion begegnen zu können.
Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzt die Nato auf Stärkung ihrer strategischen und operativen Einsatzfähigkeit. Die Mitgliedsstaaten haben umfangreiche Rüstungsmaßnahmen beschlossen, um ihre Armeen zu "ertüchtigen".
Die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik sollen in den kommenden Jahren auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes gesteigert werden: Das bedeutet konkret einen Anstieg von rund 50 auf über 80 Milliarden Euro jährlich.
Die "Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023" benennen Russland als die größte Bedrohung für den Frieden in Europa und weltweit. Die Bundeswehr und die Gesellschaft müsse wieder kriegstauglich werden.
"Wir wollen diese Auseinandersetzung nicht nur gewinnen, sondern wir müssen", so die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023.
Des Weiteren wird ausdrücklich betont, dass je nach Lageentwicklung die Bundeswehr auch international einsatzfähig sein müsse.
Die Nato ist das größte Militärbündnis, das Russland konventionell überlegen und atomar ebenbürtig ist. Militärstrategisch besteht keine Notwendigkeit zu einer so gewaltigen Aufrüstung aller Nato-Streitkräfte. Auch die jährlichen Rüstungsausgaben der Nato mit über einer Billion US-Dollar liegen weit über denen Russlands.
Immer wieder im Rüstungswettlauf
Diese Entwicklung zeigt sehr deutlich, dass immer wieder die gleichen Muster der Krisenbewältigung zur Anwendung kommen. Aus einer vermeintlichen Bedrohung entwickelt sich ein Rüstungswettlauf.
Der durch Abschreckung erkaufte Sicherheitszustand ist nicht mehr stabil. Die Atomwaffenstaaten fürchten stets durch die wachsende Treffgenauigkeit der gegnerischen Trägersysteme um den Verlust ihrer Fähigkeit zum Zweitschlag.
Zudem beinhaltet die "Nukleare Teilhabe" europäischer Nato-Staaten konkrete atomare Kriegführungsoptionen mit weitreichenden Konsequenzen:
- Nuklearwaffen könnten "chirurgisch" gezielt und begrenzt eingesetzt werden.
- Rüstungstechnisch führt diese Entwicklung zur Miniaturisierung der Atomwaffen mit hoher Zielgenauigkeit sowie sicherheitspolitisch zu einer Herabstufung der "Nuklearen Schwelle".
Hier zeigt sich, dass Abschreckung weder politisch noch technisch stabil ist. Mit ihr verbinden sich kontinuierlich neue Rüstungsschübe, um die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit aufrechterhalten zu können.
Die Folgen dieser Strategie sind Krisenanfälligkeit, Konfrontation, und Ressourcenverschwendung. Auf der politischen Handlungsebene ist der Preis dieser Sicherheit eine ständige gefährliche Grenzsituation, deren Überschreiten katastrophale Folgen für die Menschheit hätte.
Das Streben nach Sicherheit, das auf Militärpolitik fokussiert ist, trägt nicht zur Lösung der globalen Probleme bei. Der menschengemachte Klimawandel gefährdet den Fortbestand des Lebens auf unserem Planeten. Das Abholzen der tropischen Regenwälder, das Fortschreiten der Wüsten sowie die Erwärmung der Atmosphäre sind nur ein kleiner Ausschnitt der Folgen unserer Lebensweise.
Es ist festzustellen, dass die gewohnten Denkschemata der tradierten Sicherheitspolitik nicht nur einer Ergänzung und Erweiterung bedürfen. Vielmehr wäre eine neue Strategie notwendig, die zur Überwindung der atomaren Abschreckung beitragen könnte. Auf diesem Weg wären folgende Zwischenschritte denkbar:
- Der Aufbau einer nuklearen "Minimalabschreckung" mit einer zahlenmäßig begrenzten Anzahl von Atomwaffen, der alle Atomwaffenstaaten vertraglich zustimmen müssten. .
- Verhandlungen mit dem Ziel der Einrichtung atomwaffenfreier Zonen.
- Rüstungskontrollverhandlungen über nukleare Abrüstung und Reduzierung konventioneller Streitkräfte.
Eine vertraglich vereinbarte "Minimalabschreckung" scheint bei der aktuellen Weltlage zwar unrealistisch zu sein. Der Atomwaffensperrvertrag ermöglichte aber, darüber zu verhandeln.
Die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien verpflichteten sich als Unterzeichnerstaaten in dem Vertrag, über die vollständige Abschaffung aller Atomwaffen zu verhandeln.
Dass dies durchaus gelingen könnte, belegen eine Reihe von Abkommen, die durch die UN-Vollversammlung beschlossen wurden. Etwa das Verbot von Antipersonenminen und Streumunition von 1999 oder auch die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes 2002; prominent und von großer Relevanz sind ebenso das Pariser Abkommen zum Klimaschutz von 2015 und der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), der am 22.01.2021 in Kraft trat.
Krisenprävention, Verständigung und Kooperation wären das Fundament einer zukunftsweisenden Sicherheitspolitik. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker warnte schon vor über 40 Jahren, dass die atomare Abschreckung der Menschheit nur ein kurzes Zeitfenster einräume, um dem Frieden auf der Welt eine Chance zu geben.
Rolf Bader, Kaufering (Obb). 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr; ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte*innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)
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