Attentäter von Nizza: Kein einsamer Wolf

Monatelange Vorbereitungen widersprechen "schneller Radikalisierung"; auch al-Qaida im Maghreb schreibt sich den Anschlag auf seine Fahnen

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Der ermittelnde Staatsanwalt François Molins präsentierte gestern mehrere Indizien, wonach Mohamed Lahouaiej Bouhlel den Anschlag in Nizza schon seit längerem im Sinn hatte und ihm dabei von Komplizen geholfen wurde. Das Projekt sei über Monate gereift, so François Molins.

Soweit bekannt stützen sich die Hinweise vor allem auf Fotos und Nachrichten im Mobiltelefon Bouhlels, dazu auf eine Facebook-Nachricht und auf Kommunikationsdaten. Erstaunlich ist Offenheit der Botschaften. Sie lassen keine Vorsichtsmaßnahmen erkennen, was im Gegensatz zu Aussagen von Geheimdienst-Vertretern steht, die von einer zunehmenden Raffinesse der IS-Netzwerke beim Verschlüsseln ihrer Kommunikation sprechen.

"Belade deinen Lastwagen mit 2.000 Tonnen Eisen und fick sie"

In der letzten SMS, die Bouhlel an einen der Komplizen abgeschickt hatte, ist laut Staatsanwalt zu lesen: "Ich möchte mich bei dir für die Pistole bedanken, die du mir gestern gebracht hast; das war sehr gut, nun holen wir noch weitere 5 bei deinem Freund. Für Chokri und seine Freunde."

Die SMS war an Ramzi A, einen Franko-Tunesier, adressiert, Chokri C. ist ebenfalls ein Tunesier und beide gehören zu den 5 Verdächtigen, welche die Polizei in Nizza sehr rasch nach dem Anschlag am vergangenen Donnerstag festgenommen hatte. Zu diesem Kreis gehört auch der Franko-Tunesier Mohammad Wali G sowie ein Ehepaar aus Albanien. Allesamt tauchen sie in den Kommunikationsdaten des Mobiltelefons auf - häufig in einschlägigem Zusammenhang. Man hat es der Polizei bei der Spurensuche nicht gerade schwer gemacht, so der Eindruck.

Auch die öffentlichen Bekundungen sind deutlich. So soll Chokri C. dem Attentäter von Nizza am 4. April dieses Jahres eine Mitteilung auf Facebook geschickt haben mit dem Inhalt: "Belade deinen Lastwagen mit 2.000 Tonnen(!) Eisen und fick sie, kappe die Bremsen, mein Freund, und ich werde zuschauen."

Daraus schließen die Ermittler, dass das Vorhaben zum Anschlag schon länger gediehen ist. Als Indiz für die Verstrickung Chokri Cs. in die Plan Bouhlels werden Aufnahmen von Überwachungskameras gewertet, welche die beiden zwei Tage vor dem Anschlag auf der Promenade des Anglais in dem Kühllastwagen zeigen, mit dem Bouhlel auf eben dieser Straße 84 Menschen töten wird.

Gespeicherte Fotos im Mobiltelefon Bouhlels von Feierlichkeiten an der Strandpromenade zum Nationalfeiertag 2015, dem späteren Feuerwerk sowie einem Konzert, das am 17. Juli dort stattfand, gelten ebenfalls als Hinweise auf einen Plan, der langsam heranreifte.

Die Frage, ob die mit Bouhlel kommunizierenden Verdächtigen einem dschihadistischen Netzwerk angehören, ist nach Stand der Dinge nicht geklärt. Alle fünf sind dem französischen Geheimdienst unbekannt. Ein SMS-Austausch zwischen Bouhlel und einem der Verdächtigen, Mohammed Walid G., mit dem er in intensiven Kontakt gestanden haben soll, gibt deutlich dessen Einstellung zum Attentat auf Charlie Hebdo im Januar 2015 wider:

Ich bin nicht Charlie .. . Ich bin zufrieden, dass sie die Soldaten Allahs geschickt haben, um die Arbeit zu beenden.

Der Ehrentitel "Inghimasi"

Als Indizien vorgebracht wurden auch Fotos von Bouhlel, die sein Interesse für die Attentate in Frankreich bekunden. Als Besonderheit wird erwähnt, dass die Bilder vom Überfall auf die Cafés im November 2015 und dem versuchten Hackmesserattentat auf ein Polizeikommissariat im Januar 2016 mit Titeln versehen waren, die das "Darauflosstürzen" betonen.

Wie Joseph Croitoru heute in der FAZ ausführt, steht der "Ehrentitel Inghimasi" mit solchen selbstmörderischen und draufgängerischen Einzeltäter-Aktionen in engem Zusammenhang. Croitoru sieht darin das Kennzeichen der "vierten Generation der Selbstmordattentäter".

Die bisher veröffentlichten Erkenntnisse der französischen Ermittler lassen noch ein paar Fragen offen. Über die Rolle des albanischen Ehepaars wird so gut wie nichts veröffentlicht. Es heißt, sie seien an der Beschaffung der Waffen beteiligt gewesen.

Möglicherweise rührt die Zurückhaltung daher, dass eine SMS Bouhlel, die weitere Waffen verlangt, als Indiz dafür genommen wird, dass ein weiterer Anschlag in Planung sein soll. Gesucht wird auch nach einer Kalaschnikow, die in SMS-Nachrichten erwähnt worden, die auch bei Verhören zur Sprache gekommen sein soll. Wo die Waffe sei und für wen sie bestimmt war, sei noch unbekannt.

Es gibt "keinen einsamen Wolf"

Es gibt "keinen einsamen Wolf", heißt es nun unter französischen wie auch amerikanischen Experten. Auch der kürzlich in Umlauf gebrachte Begriff der "schnellen Radikalisierung" wird nach der neuen Ermittlungslage kritisiert. Der Attentäter von Nizza hege, wie sich doch nun offenbare, schon seit längerer Zeit dschihadistische Pläne, wird entgegengehalten.

Anlass für den Begriff war allerdings die Erklärung einer Kluft, die in der Öffentlichkeit diskutiert wurde: Wie kann eine Person, die auf Regeln und Erscheinungsbild des Islam nichts gibt, plötzlich zu einem Dschihadisten erklärt werden - steht da nicht das wohlfeile Interesse einer politischen Instrumentalisierung dahinter? (vgl. Nach Dallas, Nizza und Würzburg: Wer ist eigentlich ein Terrorist und wer nur psychisch gestört?)

AQAP-Propaganda

Für derjenigen, die davon ausgehen, dass die IS- oder al-Qaida-Terroristen nichts mit dem Islam zu tun haben, gibt es die Kluft zwischen islamischer Regelbefolgung und Dschihadbekenntnis überhaupt nicht. Es sind Häretiker, Mitglieder einer Sekte. Für Beobachter der Dschihadszene hat die Kluft ebenfalls keine große Bedeutung.

Es zeigte sich schon im Zusammenhang mit 9/11, dass die dort beteiligten Attentäter sich zuvor nicht durch eine strenge Befolgung islamischer Vorschriften ausgezeichnet haben. Als Held des Dschihad wird gefeiert, wer einen entsprechenden Akt begeht und sich zuvor in irgendeiner Weise zu Allah bekannt hat. Damit sind alle vorher begangenen Sünden vergeben und die von siebzig Nahestehenden obendrein, die Tür zum Paradies steht offen, erklärt der französische Dschihad-Experte Wassim Nasr.

Was die Vereinnahmung betrifft, hat mittlerweile auch al-Qaida auf der arabischen Halbinsel AQAP reagiert. Der Mudschahedin und Bruder Mohamed (Lahouaiej Bouhlel) habe sich von Ausgabe 2 des al-Qaida-Magazins Inspire anregen lassen und seine Sache perfekt gemacht, teilt AQAP in einer neuen Propangaschrift mit.