75 Jahre Grundgesetz: Ein Versprechen wurde bis heute nicht eingelöst

Bild einer unausgeglichenen Waage mit Arbeitern und Gewinnmünze

(Bild: KI-generiert)

Vor 75 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft, doch ein wichtiger Artikel bleibt oft unbeachtet. Warum es sich auch heute noch lohnt, für diese Vorgabe zu streiten.

Vor 75 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft. Gedacht war es anfangs als Provisorium, eine Verfassung sollte folgen, wenn die Teilung Deutschland überwunden ist. "Wir sind uns durchaus bewusst, dass es aus dieser geschichtlichen Situation heraus gar nicht in unserer Macht steht, etwas zu schaffen, was Jahrzehnte überdauern könnte", sagte damals Walter Menzel, Mitglied des Parlamentarischen Rats.

In einer Jubiläumsveranstaltung lobt die Bundeszentrale für politische Bildung das Grundgesetz: Angeführt von Artikel 1 mit "Die Würde des Menschen ist unantastbar" habe sich "das Provisorium als ein unschätzbarer Wert für die Demokratie erwiesen". Ein wichtiger Artikel wird in den Erinnerungen meist außen vor gelassen – dabei gab es um die Auslegung dieser Vorgabe von Anfang an erbitterten Streit:

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Artikel 14 Abs. 2 Grundgesetz

Der umstrittene Artikel 14: Eigentum verpflichtet

Das ist ein großes Versprechen: Denn das Grundgesetz betont ausdrücklich im Artikel 14 die Sozialbindung, indem Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch gleichzeitig dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll. Die Zurückstellung von Einzelinteressen gegenüber Gemeininteressen bezieht sich auch auf Unternehmen, deren Entscheidungen Grenzen gesetzt werden sollen.

Sozialbindung des Eigentums heißt auch, dass Produktivitätsfortschritte und Gewinnsteigerungen nicht nur auf der Kapitalseite zu verbuchen sind, sondern auch den abhängig Beschäftigten zustehen, die diese auch mit erwirtschaften – zumal die staatlichen Fördermittel bei Einsatz neuer Technik erheblich sind, etwa Förderprogramme wie "Industrie 4.0".

Bereits in den 1950er-Jahren wandten sich konservative Staatsrechtler dagegen, diese Vorgabe auf Entscheidungen in Unternehmen zu beziehen. Ernst Forsthoff lehnte den "Sozialstaat" als Rechtsbegriff ab. Anders argumentierte Wolfgang Abendroth, der die Sozialbindung des Eigentums und die Sozialstaatsvorgabe als notwendigen Grundsatz für die Erhaltung der Demokratie sieht.

Die Forsthoff-Abendroth-Kontroverse ist bezeichnend für die Situation der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik. Forsthoff war einer der Kommentatoren des Grundgesetzes und erfahrener Jurist, der 1934 in seiner Schrift "Der totale Staat" den NS-Staat begrüßt hatte. Der Marburger Professor Abendroth wurde im deutschen Faschismus verfolgt, Jürgen Habermas nannte ihn einmal "Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer".

Verantwortung liegt bei den Belegschaften – aber nicht die Entscheidungen

Die Sozialbindung des Eigentums ist aufgrund veränderter Entscheidungsprozesse in den Unternehmen bedeutsam. Denn durch indirekte Steuerung wird heute in Unternehmen immer mehr Verantwortung auf die Belegschaften übertragen. Angestellte müssen zunehmend als "Unternehmer im Unternehmen" aktiv sein, Kunden gegenüber direkt agieren und auf Marktbedingungen reagieren, ohne direkte Vorgaben von Vorgesetzten oder Unternehmensleitung.

Das Ziel wird von Unternehmen vorgegeben, wie die Beschäftigten die erreichen, ist ihre Aufgabe. Entscheidend ist der Weg. Die Lösungswege für die Arbeitsaufgabe sind den Beschäftigten bei Projektbeginn oder erster Kontaktaufnahme mit dem Kunden nicht bekannt.

In der IT-Branche ist für viele Beschäftigte diese indirekte Steuerung die charakteristische Form der Arbeit. Auch die Konstruktionsbereiche in Automobilindustrie oder Maschinenbau, die Kundenakquise und -betreuung in der Finanzbranche arbeiteten so.

Gerade Projektarbeiten haben psychische Belastungen für die Beschäftigten zu Folge. Der Auftrag ist selten eindeutig, während der Bearbeitung ergeben sich neue Anforderungen. Auch ist Flexibilität in der Zusammenarbeit mit anderen wird erwartet, kann die Zusammensetzung der Projektgruppe verändert sich schnell.

Juli Zeh lässt in "Über Menschen" eine Romanfigur Wahrnehmungen zur modernen Arbeitswelt schildern, die vielen Betroffen bekannt vorkommt:

Man beendet ein Projekt, um gleich darauf das nächste anzufangen. Für eine Weile glaubt man, das aktuelle Projekt sei das Wichtigste auf der Welt, man tut alles dafür, um es rechtzeitig und so gut wie möglich zu beenden. Nur um dann zu erleben, wie alle Bedeutung im Moment der Fertigstellung kollabiert. Gleichzeitig beginnt das nächste, noch wichtigere Projekt.

Unternehmerische Entscheidungen durch Angestellte erarbeitet

Diese indirekte Steuerung betrifft primär grundlegende Bereiche, die neue Produkte entwickeln oder Marketingstrategien, um neue Kunden zu gewinnen oder bisherige Kunden zu halten.

Die Beispiele zeigen aber auch,

  • dass die Eigenverantwortung, die Beschäftigte bei agiler Arbeit oder indirekter Steuerung in der Praxis haben,
  • Kontakte gegenüber Kunden und
  • Spezialwissen

einen hohen Wert für das Unternehmen darstellen. Meist werden so auch Innovationen entwickelt.

Innovationen in Form neuer Produkte oder verbesserter Dienstleistungen sind häufig die Grundlage des Unternehmenserfolgs. Die Erwartungen der Käufer sind gestiegen, auch eine schnelle Reaktion auf veränderte Kundenwünsche ist oft wichtig.

Ein Beispiel hierfür sind Produktinnovationen. Dabei werden Angebote erneuert, Funktionen von Produkten optimiert. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und die Ertragslage zu verbessern. Marktinnovationen hingegen dienen der Erschließung neuer Kundengruppen und können den Umsatz erhöhen, wenn die Nachfrage steigt. Unternehmen müssen ihre Produkte und Dienstleistungen regelmäßig weiterentwickeln, um am Markt bestehen zu können.

Für die Beschäftigten heißt dies: Anforderungen an die Arbeit können sich jederzeit verändern, falls der Kunde das wünscht oder der Markt es verlangt. Diese Risiken tragen die Beschäftigten – die jedoch nicht beteiligt werden bei wichtigen Unternehmensentscheidungen. Etwa Entscheidungen über Investitionen, Personalplanung oder die Gewinnverwendung. Das Grundgesetz-Versprechen "Eigentum verpflichtet" ist bis heute nicht eingelöst.