Auch 2021 nur mäßige Übersterblichkeit in Deutschland?
Welche statistischen Probleme bei der angenommenen Sterblichkeit bestehen. Und wie Emotionalisierung einen sachlichen Blick vernebelt. Eine kommentierte Nachberechnung
Übersterblichkeit ist ein ins 19. Jahrhundert zurückreichendes Konzept, um die Schwere von Epidemien und anderen Bedrohungslagen zu bestimmen – jenseits von anekdotischen und häufig überzogenen Schreckensberichten. Wenn in einem bestimmten Zeitraum und Distrikt tatsächlich mehr Tote gezählt werden als üblich, spricht man von Übersterblichkeit. Man umgeht auf diese Weise zugleich das Problem, dass Todesursachen oft falsch zugeschrieben werden.
Im Falle von Covid besteht etwa das Problem, dass eventuell nicht ausreichend Tests zur Verfügung stehen, und daher Todesfälle nicht der Epidemie zugerechnet werden, oder umgekehrt, dass Menschen mit einem positiven Covid-Test sterben, die auch sonst im betreffenden Zeitraum aufgrund anderer Ursachen gestorben wären. Oder dass Menschen indirekt aufgrund der Epidemie sterben, etwa weil die Hospitäler überfüllt sind und deshalb Herzinfarkte oder Schlaganfälle nicht behandelt werden können.
Oder wegen der Lockdown-Maßnahmen sterben, die über das Land verhängt wurden. Oder aus weiteren oder ganz anderen Gründen. Der Tod ist eine unumstößliche Tatsache, während Todesursachen in vielen Fällen komplex, interpretationsbedürftig und daher auch strittig sein können.
Insoweit besteht in Fachkreisen allseits Einigkeit über den Sinn dieses Konzept, sodass manche Wissenschaftler:innen bezüglich der Übersterblichkeit sogar vom "Goldstandard" der Epidemiologie sprechen.
Bis vor kurzem war dieses Konzept allerdings nur in Fachkreisen geläufig. Erst mit der Corona-Epidemie fand es darüber hinaus Resonanz in der allgemeinen Öffentlichkeit. Allerdings in einer häufig emotionalisierten und verzerrten Weise: "Sterblichkeit" klingt schon schlimm und "Übersterblichkeit" klingt dann geradezu schreckenerregend, ganz unabhängig davon, wie hoch die Übersterblichkeit nun genau ist.
Da wir als Normalbürger:innen weder zur durchschnittlichen Sterblichkeit, noch gar zur Übersterblichkeit in der Vergangenheit Vergleichsmaßstäbe haben, reicht die pure Erwähnung des Wortes, um uns in Angst zu versetzen.
Im Laufe der Coronapandemie gab es in Deutschland vier Wellen der Infektion und der öffentlichen Aufmerksamkeit, die mit stark gefühlter Übersterblichkeit einhergingen: Das Frühjahr 2020, der Jahreswechsel 2020/21, der Frühling 2021, und jüngst der November 2021. In diesen Phasen gab es auch nach meinen Berechnungen Monate mit bis zu 25 Prozent Übersterblichkeit, die in einigen Hotspots in Sachsen und Bayern gelegentlich noch deutlich höher lag.
Aber über die Gesamtzeit und Gesamtdeutschland gerechnet ist die Sterblichkeit, zum Glück, gar nicht so stark über das erwartbare Maß angestiegen. Im Jahr 2020 war sie um 0,7 Prozent, im Jahr 2021 um 2,6 Prozent erhöht. Damit lag sie deutlich niedriger, als angesichts von 110.000 Covid-Toten zu erwarten wäre, wenn es sich bei den Covid-Toten ausschließlich um zusätzliche, das heißt über das erwartbare Maß hinausgehende Todesfälle handeln würde.
Doch was ist das erwartbare Maß? Wie bestimmt man die Zahl der "durchschnittlich erwartbaren Todesfälle"? Dazu gibt es unterschiedliche Methoden, die ihrerseits fachlich durchaus umstritten sind. Im nächsten Teil kritisiere ich die Berechnungen, mit denen das Bundesamt für Statistik Übersterblichkeit bestimmt: Durch die Nicht-Berücksichtigung der veränderten Altersstruktur kommt man regelmäßig zu einem übertrieben niedrigen Erwartungswert und damit zu überhöhten Übersterblichkeitszahlen.
So würde die Übersterblichkeit 2020 insgesamt 5,0 Prozent und 2021 insgesamt 7,4 Prozent betragen haben. Dagegen lege ich dar, wie der Erwartungswert an die Alterung der Bevölkerung und an die steigende Lebenserwartung angepasst werden muss, um einen realistischen Vergleichsmaßstab abzugeben.
Im dritten und letzten Teil gehe ich dann der Frage nach, inwieweit die Covid-assoziierten Todeszahlen mit den Übersterblichkeitszahlen korrespondieren und wo die Gründe für die mäßig ausfallende Übersterblichkeit liegen. Zwar liegt es nahe, im Sinne des Präventionsparadoxons auf die Wirksamkeit der Abwehrmaßnahmen zu verweisen.
Interessanterweise verzeichnen aber die Länder mit den schärfsten Maßnahmen die höchste Übersterblichkeit. Das mag reverser Kausalität geschuldet sein: Viele Regierungen haben, in Reaktion auf Berichte von hohen Sterblichkeitszahlen, zu drakonischen Maßnahmen gegriffen. Angesichts der Komplexität der Pandemie scheint es jedenfalls angebracht, von vorschnellen Schlüssen abzusehen.
Umstrittener Erwartungswert
Ähnlich wie die Ermittlung der Einwohnerzahlen ist auch die Erfassung der Sterbefälle nicht ganz trivial, besonders dann, wenn sie zeitnah erfolgen soll. Selbst in relativ entwickelten Ländern ist man hier vor Überraschungen nicht vollkommen geschützt. Aber darum soll es im Folgenden nicht gehen, weil niemand die Vermutung hegt, dass hier systematische Fehler vorliegen könnten.
Anders ist es jedoch mit dem Erwartungswert, also der Zahl der im jeweiligen Jahr "normal", das heißt im Kontext der gegenwärtigen Debatte: "ohne Corona", zu erwartenden Sterbefälle. Man könnte hier einfach das Vorjahr, oder, um normale Schwankungen auszugleichen, einen längerfristigen Durchschnitt heranziehen. Tatsächlich wird häufig so verfahren.
Dabei übersieht man jedoch, dass sich die Zahl der Sterbefälle auch aufgrund von normalen Bevölkerungsentwicklungen verändern kann, sei es, weil die Bevölkerungszahl sinkt oder steigt, oder sei es, weil sich ihre Altersstruktur verändert.
In einer alternden Bevölkerung versterben, bei gleicher Lebenserwartung, mehr Menschen als in einer durchschnittlich jungen Bevölkerung. Oder spezieller noch: In Deutschland gab es vor dem Zweiten Weltkrieg einen ersten Babyboom. Die Angehörigen dieser Geburtenkohorten rücken nun, 80 Jahre später, in ein Alter vor, das mit einer sehr hohen Sterbewahrscheinlichkeit verbunden ist.
Daher sind gegenwärtig von Jahr zu Jahr steigende Sterbefallzahlen zu erwarten. Für die Zeit ab 2025 ist dagegen in Deutschland mit einem leichten Rückgang der Zahl hochaltriger Personen (über 80) zu rechnen.
Wie Statistisches Bundesamt Übersterblichkeit systematisch überschätzt
Seit Mai 2020 gibt das Statistische Bundesamt (Destatis) ungefähr alle zwei Wochen eine Pressemitteilung heraus, in der es auf die laufenden Sterblichkeitszahlen verweist. Außerdem wurde eine Website eingerichtet, auf der sehr übersichtlich diese, teilweise noch vorläufigen Zahlen mit nur zwei Wochen Zeitverzug – im Vergleich zur übrigen Statistik also fast in Echtzeit – zu verfolgen sind (Abbildung 1).
Wenn man mit dem Mauszeiger über die Grafik fährt, kann man sogar die unterliegenden Zahlen aufrufen. Wie man an der oberen roten Linie sieht, lagen die Sterbefallzahlen meist über der blauen Linie, die den Median der zurückliegenden vier Jahre, also von 2017 bis 2020, darstellt. Der Median ist eine Art von Durchschnitt, der nicht auf Extremwerte reagiert.
Entsprechend läuft die dunkelblaue Linie am unteren Rand des hellblauen Zackengebirges, das die wöchentlichen Minimum- und Maximumwerte abbildet. Der Gipfel bei Woche elf ergibt sich aus der Übersterblichkeit der Grippewelle 2018, die Hügel zwischen Woche 30 und 35 sind von Hitzewellen verursacht, und der steile Anstieg bis Woche 52 ergibt sich aus dem Anstieg der Todeszahlen im Dezember 2020 im Zuge der zweiten Welle der Coronapandemie.
Die erste Welle zeichnet sich hingegen kaum markant ab, sie wird durch den oberen Rand des hellblauen Saums in Woche 14 bis 16 verkörpert. Dem Verfahren des Bundesamtes zufolge betrug die Übersterblichkeit im Gesamtjahr 2020 5,0 Prozent und 2021 7,4 Prozent.
Wie kommen diese relativ hohen Werte zustande? An der Schätzung der Sterbefallzahlen, also der roten Linie, ist nichts zu kritisieren. Sie wurde neuerdings erheblich verbessert, sodass es hier nicht mehr, wie noch im letzten Jahr, zur zwangsläufigen Unterschätzung kommt. Aber die blaue Linie ist durchaus willkürlich und, wie ich zeigen werde, zu niedrig gewählt.
Das vom Bundesamt gewählte Verfahren zur Ermittlung der blauen Linie – Median der Sterbezahlen aus vier Vorjahren – berücksichtigt nämlich nicht in ausreichendem Maße die Veränderung der Altersstruktur. Durch die Alterung der Bevölkerung und die starke Besetzung der Geburtsjahrgänge vor dem Zweiten Weltkrieg steigen die Sterbefallzahlen schon seit dem Jahr 2004 in Zick-Zack-Bewegungen deutlich an (vgl. Abbildung 2).
Entsprechend wurden 2004 nur 816.000 Tote, 2019 dagegen schon 940.000 Tote gezählt. Vor 2004 waren die Sterbefallzahlen über einen längeren Zeitraum gesunken. Neben diesem längerfristigen Trend ist auch erkennbar, dass es von Jahr zu Jahr ausgeprägte Schwankungen in den Sterblichkeitsziffern gab, die wahrscheinlich auf Grippe- und Hitzewellen zurückzuführen sind. Den größten Sprung gab es von 2014 auf 2015 – damals stieg die Zahl der Todesfälle um 6,6 Prozent an.
Das Bundesamt schätzt mit dem oben beschriebenen Verfahren den Erwartungswert für 2020 auf 936.000 und für 2021 auf 947.000 Sterbefälle. Wenn man dieses Verfahren auch auf die Zeit vor Corona anwendet, wird deutlich, dass der Erwartungswert seit 2008 fast immer deutlich unter den Sterbefallzahlen liegt und im Zeitraum davor die Sterblichkeit häufig überschätzt wird.
Am deutlichsten fällt die Unterschätzung für das Jahr 2015 aus: Damals hätte die Übersterblichkeit – mit dem vom Bundesamt heute praktizierten Verfahren – 6,6 Prozent betragen. Sie wäre also höher gelegen als die Übersterblichkeit, die das Bundesamt für das Coronajahr 2020 angibt (5,0 Prozent, siehe oben).
Wie das Statistische Bundesamt auf Einwände reagiert (oder auch nicht)
Die Notwendigkeit, die Veränderungen in der Altersstruktur mit einzubeziehen, ist in der Fachwelt natürlich längst bekannt und auch dem Bundesamt für Statistik nicht verborgen geblieben. In einer Fachpublikation weist der zuständige Abteilungsleiter, Felix zur Nieden, zusammen mit Kollegen schon 2020 selbst auf diesen Umstand hin.
In einem Podcast auf der Website des Bundesamtes rechtfertigt er im März 2021 dennoch das gewählte Verfahren: Man müsse die Entwicklung zu höherer Lebenserwartung ebenfalls einbeziehen, die ihrerseits dem Effekt der Altersstrukturverschiebung entgegenwirke.
Die Frage ist dann aber: Wie stark ist der eine und der andere Effekt? Denn der Anstieg der Lebenserwartung hatte sich in den letzten Jahren deutlich abgeschwächt, wie das Amt 2019, also schon vor Corona, mitteilt. In einer Pressemitteilung im Juli 2021 werden diesbezüglich Zahlenangaben gemacht.
Dort heißt es: "Aufgrund des zunehmenden Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung wird derzeit von Jahr zu Jahr mit einer steigenden Zahl der Sterbefälle in Deutschland gerechnet. Von 2019 auf 2020 ist sie um etwa 46.000 Fälle angestiegen. Davon ist jedoch laut den nun vorliegenden endgültigen Daten weniger als die Hälfte, nämlich etwa 20.000 Fälle, durch den höheren Anteil älterer Menschen zu erklären."
Nur die übrigen 26.000 Fälle wären also als Übersterblichkeit zu verbuchen. Insoweit verringert sich die vom Bundesamt berichtete Übersterblichkeit im Nachhinein also schon einmal fast um die Hälfte.
Zusätzlich sind jedoch noch zwei Umstände zu berücksichtigen. Erstens war 2019 ein Jahr mit besonders niedriger Sterblichkeit, die Zahl der Todesfälle lag mit 940.000 deutlich unter dem allgemeinen Trend (vgl. Abbildung 3).
Auch ist zu beachten, dass 2020 ein Schaltjahr war. Daher muss man bei den tatsächlich aufgetretenen Todesfällen um der Vergleichbarkeit willen einen Durchschnittstag abziehen und kommt so zu 983.000 statt 986.000 Toten. Wenn das Bundesamt alle diese Faktoren berücksichtigen würde, käme es mit seinen Übersterblichkeitsberechnungen tatsächlich in den Bereich plausibler Werte.
Resonanz der Meldungen zu Übersterblichkeit in den Medien
Auch wenn das Bundesamt seine Übersterblichkeitsmeldungen also im Nachhinein halb revidiert, entscheidend ist, was in den Medien Resonanz findet. Zunächst einmal ist hier die eigene Presseaktivität des Amtes bemerkenswert.
Auf der Website des Amtes findet man (Stand 18. Dezember 2021) mit dem Suchwort "Sterbefall" 87 Pressemitteilungen, davon insgesamt 20 aus den Jahren 2016 bis 2019. Im Jahr 2018 gab es nur drei Meldungen; keine davon zur großen Grippewelle, die damals zu beachtlicher Übersterblichkeit führte. Das Suchwort "Übersterblichkeit" kommt im Zeitalter vor Corona auch noch gar nicht vor.
Das ändert sich mit Corona: 2020 gab es 22 Pressemitteilungen, und 2021 explodierte die Meldeaktivität zu den Sterbefällen förmlich, hier waren bis zum 18. Dezember 45 Mitteilungen zu zählen. Mindestens monatlich, oft auch wöchentlich, werden Übersterblichkeiten nach dem oben beschriebenen Schema gemeldet. In diesem Wust an Verlautbarungen geht das Eingeständnis des unterschlagenen Altersstruktureffektes dann auch leicht unter, zumal das Amt auch danach bei seiner Praxis bleibt, mit einem zu niedrig angesetzten Erwartungswert überhöhte Übersterblichkeitszahlen zu verlautbaren.
Wobei die Medien, die diese Meldungen nur allzu gerne aufgreifen, auch ihren Teil zur Alarmkulisse beitragen. Das sieht man daran, wie sie auf Pressemitteilungen reagieren, die in Bezug auf die Pandemie eher beruhigend wirken müssten. Am 17. Dezember meldete das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung:
2021: Erstmals mehr als eine Million Sterbefälle in Deutschland erwartet.
Weiter wird dann ausgeführt, dass der Anstieg der Sterbezahlen schon seit 2010 zu beobachten sei und im Wesentlichen mit der Alterung der Bevölkerung zu tun habe. Aus demografischer Sicht sei schon länger absehbar gewesen, dass die jährlichen Todesfallzahlen die Millionen-Grenze übersteigen würden.
"Die Coronapandemie, die überwiegend bei älteren Menschen zu einer Zunahme von Sterbefällen geführt hat, hat diese Entwicklung ein wenig beschleunigt", heißt es dann wörtlich.
Auch diese Meldung findet erhebliche Resonanz (zum Beispiel hier und hier), allerdings vor allem mit Bezug auf die "Million" als einer kognitiv griffigen Grenze, die mit Bildern von Friedhöfen und Särgen und Links zu Coronaberichten versehen wird.
Die Presseberichte werden also in die mittlerweile vollständig verfestigte Corona-Ikonographie eingebettet, obwohl die Pressemitteilung eigentlich auf die allgemeine demografische Entwicklung und eben nicht auf die Pandemie abzielt.
Wie ich selbst die Erwartungswerte berechne
In Abbildung 2 und 3 haben wir gesehen, dass sich die Zahl der Todesfälle über die Zeit verändert. Aber wie kann man die Entwicklung vorausberechnen, wenn man die Zahlen der Vergangenheit nicht einfach extrapolieren will?
Hier muss man die Bevölkerungsverschiebung in den unterschiedlichen Altersgruppen berücksichtigen: Je mehr hochbetagte Personen es prozentual gibt, umso mehr Sterbefälle sind zu erwarten. Ich gehe dabei wie folgt vor:
- Die Sterbefälle wurden für die Jahre von 2016 bis 2021 online heruntergeladen und entsprechend detaillierte Bevölkerungszahlen vom Bundesamt auf Anfrage zugeschickt.
- Die Sterbefallzahlen werden in den Schaltjahren 2016 und 2020 um einen Durchschnittstag bereinigt, um Vergleichbarkeit zwischen den Jahren herzustellen.
- Für die Jahre 2016 bis 2019 werden die Sterberaten in den einzelnen Altersgruppen berechnet, indem man die Zahl der Sterbefälle durch die Bevölkerungszahl dividiert.
- Aus den Sterberaten der Jahre 2016 bis 2019 wird ein Trend geschätzt und auf 2020 und 2021 extrapoliert, der die veränderte Lebenserwartung in Rechnung stellt.
- Diese Sterberaten für die einzelnen Altersgruppen werden dann getrennt nach Geschlecht mit der entsprechenden Bevölkerung der Jahre 2020 und 2021 multipliziert. Auf diese Weise erhält man die zu erwartenden Sterbefälle für die Einzelgruppen.
- Zuletzt wird der Gesamtwert für die Jahre 2020 und 2021 ermittelt, indem man die Sterbefallzahlen aus den Einzelgruppen aufaddiert.
Dies ist ein gebräuchliches Verfahren, wie es in der Literatur häufiger eingesetzt wird (zur Nieden et al. 2020, Ragnitz 2021, de Nicola et al. 2021, Kowall et al. 2021, Preston & Vierboom 2021).
Allerdings gibt es dabei einige Variationsmöglichkeiten im Detail – siehe dazu auch die Debatte über die Analyse von Kowall und Kollegen 2021, die für Deutschland für 2020 ebenfalls nur eine geringe Übersterblichkeit konstatieren.
Im Sinne einer Sensitivitätsanalyse habe ich daher einige Varianten durchgerechnet, die ich für interessierte Leser:innen zum Download bereitstelle. Die abschließenden Ergebnisse dieser Berechnungen finden sich in Tabelle 1:
Erwartungswert (mit Unter- und Obergrenze) | Beobachtete Sterbefälle | Übersterblichkeit (mit Unter- und Obergrenze) | |
2020 | 975.843 (967.000 bis 985.000) | 982.879 | 0,72 % (-0,22 bis 1,68 %) |
2021 | 991.026 (978.000 bis 1.004.000) | 1.016.899 | 2,61 % (1,27 bis 3,99 %) |
Tabelle 1: Erwartungswerte und beobachtete Sterbefälle in Deutschland 2020 und 2021. Quelle: Eigene Berechnungen. |
So besehen ist die Übersterblichkeit in den Coronajahren 2020 und 2021 einigermaßen milde ausgefallen und übersteigt kaum die Schwankungsbreite der letzten zehn Jahre, die zwischen minus und plus 2,5 Prozent lag (vgl. nochmals Abbildung 3, oben).
Übersterblichkeit in der Zeit vor Covid
Wie ist es aber dann möglich, dass in der Literatur und im Internet teilweise höhere Übersterblichkeitswerte kursieren? Die Europäische Statistikbehörde EuroStat sowie andere prominente Internetseiten verwenden das gleiche, sehr einfache Verfahren wie das Bundesamt für Statistik, das ich weiter oben beschrieben habe.
Viele Aufsätze in der wissenschaftlichen Literatur (z.B. Islam et al. 2021) sowie das in Dänemark koordinierte European Mortality Monitoring Network (EuroMomo) verwenden dagegen recht komplexe Verfahren, die schon vor Covid-19 gebräuchlich waren und daher auch eine andere Fragestellung verfolgen.
Sie fragen nicht nach einer "Welt ohne Covid" als Vergleichsmaßstab (vgl. Schoeley 2021), sondern setzen den Erwartungswert prinzipiell so niedrig an, dass saisonal gehäufte Sterbeereignisse, wie insbesondere die ziemlich regelmäßig wiederkehrenden Grippe- und Hitzewellen, damit deutlich sichtbar werden (vgl. Abbildung 4).
Anders ausgedrückt: Der Erwartungswert richtet sich nicht am Durchschnitt und damit an der Normalität einer bis dahin von der Öffentlichkeit klaglos akzeptierten Vergangenheit aus, sondern an einem Wert unterhalb des Durchschnitts, sodass häufig Übersterblichkeit, aber selten Untersterblichkeit zu beobachten ist. So betrachtet wäre aber staatlicherseits nicht nur bei Covid-19 der Ausnahmezustand auszurufen, sondern dieser bestünde dann beinahe permanent.
Gründe für die moderat ausgefallene Übersterblichkeit
Laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind seit Beginn der Pandemie bis November 2021 rund 102.000 Menschen an oder mit dem Coronavirus gestorben; für den Dezember 2021 ist noch einmal mit ungefähr 10.000 Todesfällen zu rechnen, sodass es für beide Jahre am Ende 110.000 sein werden, wovon circa 40.000 auf 2020 und 70.000 auf 2021 entfallen.
Das sind hochgerechnet auf 2020 und 2021 etwa vier respektive sieben Prozent aller Todesfälle – mithin deutlich mehr, als ich hier in Tabelle 1 als Übersterblichkeit ausgewiesen habe (0,7 respektive 2,6 Prozent). Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Sterblichkeit nach Monaten, Geschlecht und Altersgruppen
In der fünften Abbildung werden Todesfälle und Erwartungswerte für alle Alters- und Geschlechtsgruppen zusammen monatsweise über den Verlauf der Pandemie verglichen.
Zunächst fällt auf, dass der Beginn des Jahres 2020 von einer Untersterblichkeit geprägt ist, die man noch nicht auf Hygienemaßnahmen zurückführen kann.
Die erste Welle der Pandemie im Frühjahr 2020 fällt bei der Sterblichkeit noch kaum ins Gewicht; lediglich der April weist eine geringe Übersterblichkeit auf. Die leichte Übersterblichkeit im August 2020 ist wahrscheinlich auf eine ausgeprägte Hitzewelle zurückzuführen. Das Hauptgewicht der Übersterblichkeit entfällt auf die Monate November 2020 bis Januar 2021 und ist mit deutlich erhöhter Covid-Sterblichkeit assoziiert.
Demgegenüber sind die beiden Folgemonate Februar und März 2021 trotz einer beträchtlichen Zahl von Covid-Toten von Untersterblichkeit geprägt.
Das kann man als Effekt vorweggenommener Sterblichkeit ("displaced mortality") interpretieren: Viele entsprechend geschwächte Personen, die in anderen Jahren im Februar und März der Grippe zum Opfer gefallen wären, wären nun bereits zwei Monate zuvor mit Corona gestorben.
Man kann es auch mit dem verringerten Aufkommen von Influenza-Infektionen ("Grippe") in Verbindung bringen, sei es, dass diese wegen der Hygienemaßnahmen, oder – wie auch schon 2019 – zufällig ausgeblieben wären.
Gegen Ende des Jahres 2021 gibt es dann noch einmal eine leichte Übersterblichkeit, die offenbar fast vollständig mit Covid (und den diesbezüglich zu erwartenden Nachmeldungen) assoziiert ist.
Die jüngste Pressemeldung des Statistischen Bundesamtes, wonach hier eine nicht durch Covid bedingte Übersterblichkeit aufträte, lässt sich also nicht bestätigen. Sie erscheint eher als Fehlschluss aus den zu niedrig angesetzten Erwartungswerten.
Ähnliche Muster wie in Abbildung 5 sind in allen höheren Altersgruppen (über 60 Jahren) weitgehend unabhängig vom Geschlecht zu finden. Bei den Jüngeren (unter 60 Jahren) ist insgesamt fast über alle Monate hinweg Untersterblichkeit zu beobachten; lediglich bei den 40- bis 59-jährigen Männern sind Covid-assoziierbare Übersterblichkeiten zum Jahreswechsel 2020/21 sowie im April und Mai 2021 zu konstatieren.
Bei den Männern unter 40 Jahren gibt es Monate (12/20, 06/21, 09/21) mit leichten Übersterblichkeiten, die nicht mit Covid assoziiert sind; diese Beobachtung sollte man aber angesichts der ohnehin niedrigen und daher sprunghafteren Todeszahlen in dieser Altersgruppe nicht vorschnell interpretieren.
Insgesamt ist das Bild von der Beobachtung dominiert, dass Monate mit Übersterblichkeit durch Covid – Dezember 2020 und Januar 2021 – Monaten mit Untersterblichkeit wegen ausbleibender Grippe – Februar und März 2020 und 2021 – gegenüberstehen und sich diese Übersterblichkeiten und Untersterblichkeiten teilweise gegeneinander aufwiegen. Entsprechend ist nur ungefähr ein Drittel der Covid-Sterblichkeit als Übersterblichkeit zu verbuchen.
Deutschland im Vergleich mit anderen OECD-Ländern
Die Übersterblichkeit in Deutschland liegt trotz der Pandemie erfreulich niedrig; deutlich niedriger als zum Beispiel in den USA und Polen, aber höher als in Australien oder Neuseeland, die für 2020 eine deutliche Untersterblichkeit ausweisen (Abbildung 6).
Es liegt nahe, die internationalen Übersterblichkeitswerte in Abbildung Nummer sechs auf mehr oder weniger stringente staatliche Maßnahmen zurückzuführen. Um diese Annahme zu überprüfen, habe ich den Oxford COVID-19 Government Response Tracker herangezogen, der die "Strenge" der staatlichen Reaktionen auf der Grundlage von neun Reaktionsindikatoren, wie etwa Schulschließungen, Arbeitsplatzschließungen und Reiseverboten, täglich misst und in einem Index bündelt.
Die Werte aus diesem Index habe ich für 2020 aufsummiert und mit den Übersterblichkeitszahlen verknüpft. Wie wir in Abbildung 7 sehen können, weisen die Länder mit der höheren Stringenz amtlicher Maßnahmen tendenziell höhere Übersterblichkeitszahlen aus. Das empirische Ergebnis widerspricht der intuitiven Erwartung also diametral.
Je stringenter die Maßnahmen, umso höher die Übersterblichkeit?
Dieser kontra-intuitive Befund sollte nicht so interpretiert werden, dass eine größere Strenge zu mehr Übersterblichkeit führt. Plausibler erscheint es, hier eine umgekehrte Kausalität anzunehmen, nämlich dass in Ländern, die von schweren Infektionswellen getroffen wurden, der Staat mit deutlich sichtbaren Maßnahmen Handlungsfähigkeit demonstriert hat – meist wohl zu einem Zeitpunkt, als die Infektionswellen schon von selbst abgelaufen waren und die Maßnahmen daher auch nicht mehr viel bewirken konnten.
Auch sonst ist zu fragen, ob amtliche Maßnahmen immer nur aufgrund ihrer infektionsbiologischen Angemessenheit erfolgen. Viele werden offenbar eher nach anderen Gesichtspunkten ausgewählt, etwa im Hinblick auf leichte Umsetzbarkeit, Überprüfbarkeit und Sichtbarkeit – wie etwa die vielfach erlassenen Maskenpflichten im Freien.
Außerdem stehen die Regierungen vor der Aufgabe, widerstreitende Meinungen in der Gesellschaft zufriedenzustellen – für diejenigen, die Angst haben, erlässt man scharfe Maßnahmen, und diejenigen, die diese Angst für übertrieben halten, beruhigt man damit, dass man die Umsetzung der Maßnahmen nicht kontrolliert.
Aber in jedem Fall ist es zu einfach, zwischen staatlichen Maßnahmen und Übersterblichkeit einen unmittelbaren Zusammenhang anzunehmen. Zunächst kommt es auf die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger an, die Maßnahmen zu befolgen beziehungsweise auch ohne staatliche Vorschriften von selbst Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.
Zweitens spielt Resilienz des Gesundheitswesens eine erhebliche Rolle – Krankenhauskapazitäten waren im Zuge neoliberaler Reformen in vielen Ländern abgebaut worden und werden in Deutschland trotz Pandemie weiter abgebaut.
Drittens kommt es auf die Anfälligkeit gegenüber dem Virus und die Abwehrkräfte des Immunsystems an – hier scheint es erhebliche Unterschiede zwischen Ländern zu geben, sei es aufgrund der Verbreitung von Risikofaktoren, der Existenz von Kreuzimmunitäten infolge der Begegnung mit anderen Coronaviren, oder aufgrund unterschiedlicher genetisch bedingter Vulnerabilität.
Und schließlich ist auch an die Eigendynamik des Virus zu denken, die darin sichtbar wird, dass Nachbarländer oft ähnliche Dynamiken im Auf und Ab der Wellen erleben, obwohl sie teilweise sehr unterschiedliche Politiken verfolgen. Es handelt sich also um ein komplexes Geschehen, dessen Zusammenhänge nur schwer zu entwirren sind. Insofern muss man wohl sagen: Im Hinblick auf die Übersterblichkeit hat Deutschland bisher vielleicht einfach Glück gehabt.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Wie wir gesehen haben, ist die Übersterblichkeit als Maß für die Schwere einer Krise nicht ganz einfach und sicher zu ermitteln. Ich habe zwar ziemlich exakte Werte genannt – 0,7 Prozent gleich 7.000 Todesfälle für 2020 und 2,6 Prozent gleich 26.000 Todesfälle für 2021; gleichzeitig ist aber darauf hinzuweisen, dass hier ein Unsicherheitsfaktor besteht, sodass die Zahlen auch rund ein Prozent höher oder tiefer liegen können.
Zurückzuweisen sind aber in jedem Fall die Angaben, die das Statistische Bundesamt regelmäßig zur Übersterblichkeit macht. Sie beziehen die Alterung in der Gesellschaft nicht ein und sind daher weit überhöht. Das Bundesamt weiß sich dabei zwar in "guter Gesellschaft" mit dem, was in der wissenschaftlichen Literatur teilweise angenommen wird.
Aber man muss hier fragen, wie diese Literatur Übersterblichkeit definiert: Als eine Sterblichkeit über dem demografisch erwartbaren Durchschnitt (so wie ich es hier tue), oder als Sterblichkeit, die schon in der Vergangenheit fast immer überhöht war und bei der bereits vor Corona neun Monate im Jahr die Alarmglocken hätten läuten müssen.
Gleichzeitig ist zu überlegen, wie die geringe Übersterblichkeit mit dem Faktum zusammen passt, dass das RKI in Deutschland seit Beginn der Pandemie 110.000 Coronatote gezählt hat. Die einen verweisen hier auf das hohe Alter der Sterbefälle und schreiben die Todesfälle entsprechend auf allgemeine Hinfälligkeit zu, verbuchen sie also unter "Sterben mit Corona".
Die anderen führen den Rückgang der übrigen Atemwegserkrankungen ins Feld und sinnieren bereits darüber, ob und wie man die aktuell getroffenen Vorbeugemaßnahmen auf Dauer stellen kann, um Atemwegserkrankungen auch zukünftig zu vermeiden.
Beide Ursachen, Hinfälligkeit und das zufällige oder präventionsbedingte Ausbleiben der Wintergrippe, mögen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die relativ hohe Zahl von Coronatoten mit einer relativ niedrigen Übersterblichkeit einhergeht. Auf der Basis der hier vorliegenden Daten lässt sich aber nicht quantifizieren, welcher Mechanismus stärker und welcher schwächer wirksam ist.
Wir können auch nicht ableiten, wie wirkungsvoll staatliche Abwehrmaßnahmen in der Coronapandemie gewesen sind. Denn das Präventionsparadoxon, auf das sich die Maßnahmenbefürworter gerne berufen, entfaltet seine Logik nach beiden Seiten: Es mag schon sein, dass das Ausbleiben von Folgen auf die Wirksamkeit ergriffener Maßnahmen zurückzuführen ist.
Aber mit diesem Argument kann man die Wirksamkeit jeglicher Art von Maßnahmen behaupten: Es gibt keine Krokodile am Nordpol – das liegt daran, dass Norwegen am Polarkreis Verbotsschilder aufgestellt hat, die den Krokodilen untersagen, dorthin zu schwimmen.
Jedes Mal, wenn "die Zahlen" hochgehen und die Angst, medial getrieben, entsprechend um sich greift, werden alsbald, meist mit einigem Zeitverzug, "Maßnahmen" ergriffen. Wenn die Zahlen dann sinken, wird das den Maßnahmen zugeschrieben – obwohl es an der natürlichen Eigenart von epidemischen Wellen liegen könnte, auch ohne äußere Eingriffe zu brechen.
Nur wenn es, wie in einem experimentellen Setting, Vergleichsfälle gibt, die sich nur in den Interventionen und in sonst nichts unterscheiden, kann man Wirksamkeitsbehauptungen sinnvoll überprüfen.
Da aber alle Länder irgendwann ein heterogenes, wenig vergleichbares Bündel von Maßnahmen ergriffen haben, und auch die Kontextbedingungen komplex und wenig vergleichbar sind, ist es schwer, Wirkungen dingfest zu machen.
Nur in Modellstudien sind Wirkungen eventuell klar ableitbar, aber das liegt dann daran, dass man sich hier "die Ostereier selbst versteckt", das heißt Annahmen getroffen hat, die sich zirkulär bestätigen.
Ohnehin ist es noch zu früh, Bilanz zu ziehen, welche Länder besser oder schlechter durch die Pandemie kommen. Denn diejenigen, die am Anfang nur mit wenigen Infektionen und überhaupt nicht mit Übersterblichkeit konfrontiert waren, sehen sich dann später eventuell mit umso größeren Problemen konfrontiert.
Sei es, weil sie aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen ihre Länder wieder öffnen müssen. Oder sei es, weil sie mit den über die Zeit hinweg absehbar immer infektiöser werdenden Mutanten des Virus konfrontiert sind, gegen die sie immer restriktivere nicht-pharmazeutische Abwehrmaßnahmen ergreifen müssten.
Zwar können Sie dann eventuell auf pharmazeutische Mittel wie Impfungen oder Medikamente zurückgreifen, die unterdessen entwickelt wurden und ihre Todeszahlen damit weiterhin im Normalbereich halten. Mit der Zeit werden die Toten, zumal im hohen Sterbealter, jedoch vergessen werden, während die Langzeitfolgen drakonischer Abwehrmaßnahmen eventuell immer stärker zutage treten.
Bernhard Gill ist ein deutscher Soziologe und Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, Fachgebiet Umwelt-, Technik- und Risikosoziologie.
Auszüge aus den zugrunde liegenden Rechnungen stehen auf einer Website des Autors zusammen mit den ausführlicheren methodischen Erläuterungen zum Download bereit.