Auch im Paradies sind die Anderen die Hölle

Unter zunehmender sozialer Unsicherheit vergeht den Menschen die Lust auf den Menschen

Was ist mit den Menschen los? Es geht ihnen doch gut. Ihre Lebenserwartung steigt in den meisten Ländern seit Jahrzehnten, die hygienische Versorgung wird immer besser, Hunger ist zumindest in Eurasien, Australien und den Amerikas die Ausnahme. Ohne hier die auch heute noch und gerade wieder tobenden Kriege und Hungersnöte, die Slums und failed states, Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit beschönigen zu wollen:

Im Durchschnitt geht es den Menschen heute wahrscheinlich besser als seit Jahrtausenden, und jedenfalls in den nördlichen Breiten dürfte die breite Mehrheit der Menschen erstmals frei von materiellen Sorgen sein.

Hätte man einem Europäer des neunzehnten Jahrhunderts die heutige Lage geschildert – Ernährungssicherheit für alle, gute medizinische Versorgung, eine Lebenserwartung von über 80 Jahren –, er hätte wohl gemutmaßt, wir hätten das Paradies auf Erden erreicht.

Aber es fühlt sich nicht so an. Anstatt glücklich ihr sorgenfreies Leben zu genießen, sind die Menschen so genervt und gestresst wie noch nie. Das äußert sich nicht bloß in einer diffusen Stimmung. Vielmehr scheint mit dem Verhalten etwas nicht zu stimmen: Anstatt das Paradies zu bevölkern, wie es die Genesis vorgibt – "Seid fruchtbar und mehret euch!" –, tun die Menschen das Gegenteil. Sie wollen keine Gemeinschaft, sie wollen keinen Sex, sie wollen keine Kinder.

Sich selbst genug

Die extreme Ausprägung dieser Unlust auf alle Anderen stellen die Hikikomori in Japan dar. So werden dort überwiegend junge Menschen genannt, die jeglichen Kontakt zu ihren Mitmenschen abbrechen, sich meist in ein Zimmer zurückziehen, allenfalls nachts die Wohnung verlassen, und sich von den Eltern mit Nahrung versorgen lassen – oft ohne ein Wort mit ihnen zu wechseln. Als säkulare Eremiten, in freiwilliger Einzelhaft, verkriechen sie sich in vier schützenden Wänden.

Schätzungen zufolge gibt es mehr als eine Million Hikikomori in Japan – etwa 1,2 Prozent der Bevölkerung. Verschiedene Gründe werden dafür genannt, dass das Phänomen typisch japanisch zu sein scheint: der ausgeprägte Kollektivismus der japanischen Kultur, der für Außenseiter unerträglich ist; die langwierige Wirtschaftskrise, die Konkurrenzfähigkeit und Unsicherheitstoleranz erfordert; die große Zahl von Einzelkindern, und damit einhergehend überfürsorgliche Mütter. Auch die besondere Rolle, welche in der japanischen Kultur das Symbol der Schwelle und ihre Trennung von Innen und Außen spielt, könnte beteiligt sein.

Japanischer Hikikomori. Bild: Francesco Jodice / CC-BY-SA-3.0

Und doch sind Hikikomori längst kein rein japanisches Phänomen mehr. In Hongkong gibt es bereits anteilig mehr davon: 2,6 Prozent. Auch in westlichen Ländern gibt es zunehmend Fälle, und es gibt auch Sorgen, dass die erzwungene Isolation in der Covid-19-Pandemie eine neue Welle von Hikikomori erzeugen wird.

Längst hat das Wort auch die Bedeutung einer Diagnose angenommen: Hikikomori ist eine psychische Erkrankung, die sich von Depression, sozialer Phobie oder Platzangst unterscheidet. Und je älter die Hikikomori werden, und damit auch die Eltern, welche sich um sie kümmern, ein desto drängenderes Problem stellen sie dar. Wer soll für sie sorgen, wenn die Eltern sterben?

Das Ende des Begehrens

Die Menschen rammeln auch nicht mehr. Während Sexualität in der Öffentlichkeit allgegenwärtig ist, Uniseminare und Feuilletons die existenzielle Immanenz und postmoderne Ästhetik von Pornos diskutieren, sogenannte Qualitätsblätter die Nachteile und Vorzüge origineller Sexualpraktiken erörtern und zwei Regierungsparteien im letzten Wahlkampf unverhohlen mit dem Sexappeal ihrer Spitzenkandidaten warben – während Sexualität also in der Öffentlichkeit überall ist, verschwindet sie zunehmend aus dem privaten Umfeld.

Wie von Florian Rötzer bereits kürzlich besprochen, zeigen Studien in den letzten Jahren in verschiedenen industrialisierten Ländern einstimmig, dass die sexuelle Aktivität nachlässt. Hatten etwa erwachsene US-Amerikaner im Jahr 2009 noch durchschnittlich 63-mal Sex, waren es neun Jahre später nur noch 47-mal.

Noch drastischer war der Rückgang unter Jugendlichen, von vierzehn auf nur noch viermal im ganzen Jahr. Selbst die hormongesteuerten Pubertierchen folgen dem Trieb nicht mehr. Vielleicht ist er gar nicht mehr vorhanden?

Auch in Deutschland lässt die sexuelle Aktivität nach, und ein steigender Anteil der Männer (von acht Prozent auf 13 Prozent) und auch der Frauen vermisst dabei anscheinend nichts: Dieser Anteil der Befragten verspürt kein sexuelles Begehren. Asexualität, vor einigen Jahren noch eine neue Entdeckung auf dem Aufmerksamkeitsmarkt, ist dabei, zum Standard zu werden.

Daten aus nicht-westlichen Ländern sind rar, aber es ist frappant, dass fast drei Viertel der reiferen (>40 Jahre) chinesischen Frauen geringe sexuelle Aktivität und Wünsche angeben. Einzig noch die Latinos scheinen ihrem Ruf gerecht zu werden, wenn man journalistischen Umfragen glauben darf. In Afrika hingegen ist die Lage heterogen, mit äußerst enthaltsamen Ghanaern, und erheblich mehr Lebensfreude im zentralen Kontinent.

Hilfreich wäre sicherlich, zu verstehen, welche v.a. gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren das Begehren beeinflussen. Umfassende Metastudien finden aber leider nur heraus, dass es komplex ist. Derweil erkennen die Medien den Trend und erklären ihn, wenig überraschend, unkritisch zum Status quo. "Braucht der Mensch einen Partner?", fragt vorsorglich die Zeit – und kennt vielleicht Betteridges Gesetz der Überschriften.

Weder Begehren noch Gebären

Nicht genug, dass die Leute nicht pimpern wollen: Wenn doch, dann wählen sie dafür zunehmend Konstellationen aus, bei denen Kinder nicht entstehen. Während der Anteil von Homosexuellen vermutlich eine zoologische Konstante (auch bei Widdern sind rund 6-8 Prozent schwul) und nur dank der größeren gesellschaftlichen Akzeptanz in den letzten Jahren sichtbarer geworden ist, fällt die Zunahme transidenter Lebensentwürfe aus dem Rahmen.

Im Vereinigten Königreich etwa steigen seit zehn Jahren die Überweisungen an Gender Identity-Kliniken geradezu exponentiell an. Gleichzeitig nimmt der Anteil der Trans-Männer rapide zu: Während bis 2012 stabil 80 Prozent der Gesuche zur amtlichen Geschlechtsänderung von männlich zu weiblich gingen, hat sich das seither fast zu einer Parität verschoben.

Ähnlich sieht es bei einer Gender-Klinik in Amsterdam aus, deren Patientenzahl sich seit 1975 verzwanzigfacht (!) hat, und auch hier hat sich das Geschlechtsverhältnis umgekehrt: Die Zahl der Transfrauen steigt, die der Transmänner explodiert – angetrieben v.a. durch die starke Zunahme der Zahl jugendlicher Patienten. Immer mehr biologische Frauen fühlen sich als Mann.

Die Schriftstellerin Joanne Rowling hat in den letzten Jahren viel Wut auf sich gezogen, weil sie ihr Misstrauen gegenüber dieser Entwicklung öffentlich äußerte.

Sie, die Feministin, findet einerseits die Vorstellung beängstigend, dass ein Mann sich nur zur Frau zu erklären brauche, um ungestört ins Damenklo stratzen zu können (Rowling hat selbst sexuelle Gewalt erlitten; die Angst hat also einen Grund); andererseits wähnt sie sozusagen einen Verrat an der feministischen Sache: Statt in der männerdominierten Welt gemeinsam für die Gleichberechtigung der Frau zu kämpfen, wählen nach ihrer Ansicht junge Frauen den individuellen, einfachen Weg und werden selbst zum Mann.

Einzelne Studien bestätigen zwar, dass zumindest eine "rapid onset gender dysphoria" sozial induziert sein könnte. Trotzdem fragt sich der Zoologe, ob das tatsächlich eine solche exponentielle Zunahme erklären kann – oder ob man nicht auch nach einer physiologischen Erklärung suchen sollte.

Die geschlechtliche Identität und Präferenz werden im Mutterleib festgelegt. Und sind nicht nur genetisch durch die Geschlechtschromosomen bestimmt, sondern auch durch hormonelle Einflüsse. Das öffnet der Umwelt eine Tür, denn Hormone kommen nicht nur aus dem Fötus selbst, sondern auch von der Mutter.

Bei Männern ist der Zeigefinger kürzer als der Ringfinger; bei Frauen sind sie ungefähr gleichlang. Den Unterschied bewirkt das Testosteron. Trans-Männer haben ähnliche relative Fingerlängen wie Cis-Männer; im Mutterleib wurde also mit ihrer Seele auch ein Teil des Körpers männlich geformt. Und mit der Seele auch deren Sitz, denn auch die Neuroanatomie von Transpersonen entspricht eher der ihres gefühlten Geschlechts.

Anscheinend werden die Geschlechtsteile in den ersten beiden Schwangerschaftsmonaten gebildet, die sexuelle Identität hingegen erst im letzten Schwangerschaftsdrittel. Wenn sich während dieses halben Jahres etwas im mütterlichen Hormonspiegel ändert, kann es zur Diskrepanz kommen. Könnte es nicht sein, dass Stress, soziale Aggression und Umweltgifte heute dazu führen, dass Schwangere mehr Testosteron produzieren?