"Auf Sylt gibt es Obdachlosigkeit und Altersarmut"
Der Bürgermeister der Insel wehrt sich gegen ein Image, das zu Sozialprotesten unter dem Motto "Sylt entern" führt, bestätigt aber anschaulich, dass es ein Gerechtigkeitsproblem gibt.
Sylt gilt als Insel der "Reichen und Schönen". Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), dessen pompöse Hochzeit auf dem friesischen Eiland auch wegen der Verzichtsrhetorik der Bundesregierung Kritik hervorgerufen hat, würde sich vielleicht eher als "schön, aber Mittelschicht" bezeichnen.
Zur Mittelschicht zählt sich zumindest CDU-Fraktionschef Friedrich Merz, ehemals Aufsichtsratsvorsitzender der Investment-Gesellschaft Blackrock, der zu Lindners Hochzeit mit Franca Lehfeldt am Wochenende mit dem Privatjet anreiste.
All das hat quasi als Krönung zu einem Image beigetragen, gegen das sich der Sylter Bürgermeister Nikolas Häckel (parteilos) nun verzweifelt wehrt, weil das Bündnis "Wer hat, der gibt" unter dem Motto "Sylt entern" zu Sozialprotesten auf der Insel aufruft.
Katerstimmung auf Sylt? Keineswegs! Nachdem die dekadenteste Hochzeitsgesellschaft des Jahres wieder abgezogen ist, geht die Party erst richtig los! Am 16. Juli machen wir wahr, was in den sozialen Netzwerken vielfach versprochen wurde: Wir entern Sylt. Mit dem Neun-Euro-Ticket reisen wir aus Hamburg, Köln, Kiel, Berlin, Flensburg, Bremen, Münster und Elmshorn an, um die Reichen in ihren Feriendomizilen zu stören.
Aus dem Aufruf "SyltEntern – Klassenfahrt zu den Reichen!"
Häckel widersprach am Mittwoch auf seiner Facebook-Seite vehement dem Mythos vom "Ghetto der Reichen". Dabei bestätigte er ausführlich, dass soziale Ungleichheit in Deutschland ein Problem ist – und (vielleicht ungewollt) dass sich dieser Kontrast auch und gerade auf Sylt sehr deutlich zeigt. Viele Menschen, die dort arbeiten, können es sich nicht leisten, auch dort zu wohnen:
Auf Sylt gibt es Obdachlosigkeit und Altersarmut. Viele Sylter:innen erhalten Wohngeld oder andere Sozialleistungen. Viele Sylter:innen haben Zweit- oder sogar Drittjobs. Der Wohnungsmarkt ist extrem angespannt, mehr als 4.500 Pendler:innen kommen täglich nach Sylt, um hier zu arbeiten.
Bürgermeister Nikolas Häckel (parteilos)
Natürlich vergaß er nicht zu erwähnen, was er und das Kommunale Liegenschafts-Management (KLM) gegen das Wohnraumproblem täten: "Der Eigenbetrieb KLM verwaltet bereits mehr als 1.200 Wohnungen für Sylter:innen und weitet das Angebot an eigenem Dauerwohnraum stetig aus - in einem bunten Mix auch aus gefördertem Wohnraum und frei finanziertem, aber bezahlbarem Wohnraum."
Allerdings gebe es auch bei der Feuerwehr ein Problem, schrieb Häckel, der offenbar schwere Ausschreitungen befürchtet: "Die Tagesverfügbarkeit der Feuerwehr ist extrem angespannt, der Brandschutz nur durch ein ausgeklügeltes Konzept und großes Engagement der Feuerwehrleute gewährleistet."
Es ist ein "Schlag ins Gesicht" für alle Sylter:innen, wenn hier nur von den Reichen auf Sylt geredet und übersehen wird, wie viele Sylter:innen hier "Normalos" sind, sich Tag für Tag durch den bundesweit üblichen Altag kämpfen, ihre Familien durch harte Arbeit gut versorgen und ihnen eben nicht die "gebratenen Tauben" zufliegen oder der Kaviar kilogrammweise in den Mund fällt.
Nikolas Häckel
Sylt habe eine "bunte Gesellschaft wie jede andere Stadt - mit ihren Sorgen und Nöten und Menschen, die hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten". Niemand solle dies vergessen, die Medien sollten dies nicht ignorieren und Demonstranten sollten "schauen, ob Sylt für ihre Parolen wirklich der richtig gewählte Ort ist". Dass arme und obdachlose Menschen auf Sylt vielleicht sogar Verständnis für Proteste vor Villen haben, kam ihm dabei nicht in den Sinn.
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