Auf der Straße ist Gewalt der Naturzustand
Regisseur Martin Scorsese über seinen neuen Film "Gangs of New York", seine Heimatstadt und die bestialische Seite des Menschen
"Taxi Driver", "Raging Bull", "Die letzte Versuchung Christi", "Goodfellas", "Casino" - durch diese und andere Filme wurde Martin Scorsese zu einem der wichtigsten Filmemacher seiner Generation. 1942 in New York geboren, im italienisch-katholischen Milieu von "Little Italy" aufgewachsen, gehört Scorsese gemeinsam mit seinen Jugendfreunden Francis Ford Coppola und Brian DePalma - und den Schauspielern Robert de Niro und Al Pacino - zu jenen Italoamerikanern, die in den 70ern das in die Krise geratene Hollywood-Kino im Geist des Autorenfilms neu belebten. Immer wieder kreisen Scorseses Filme auch um die eigene Herkunft und die Geschichte seiner Heimatstadt. So auch "Gangs of New York", der jetzt ins Kino kommt.
Mr. Scorsese, Sie begannen mit einem Geschichtsbuch, herausgekommen ist ein epischer Spielfilm. Können Sie erzählen, wie dieser Arbeitsprozess verlief?
Scorsese: Das Thema fasziniert mich, seit ich die Buchvorlage, eine Kriminalgeschichte New Yorks im 19.Jahrhundert, las. Das war 1970. Seitdem arbeite ich an dem Stoff, mit vielen Unterbrechungen. Um 1980 änderte sich die US-Filmindustrie so gewaltig - vor allem durch das Erdbeben, dass die Pleite von Michael Ciminos Film "Heaven's Gate" ausgelöst hatte -, dass ich selbst, wie alle, Jahre gebraucht habe, um mich umzustellen. Das hat auch die Arbeit an dem Stoff gelähmt, denn bereits um 1980 hatten wir ein erstes Script fertig, und begannen zu planen. Von der praktischen Schwierigkeit einmal abgesehen, dass wir für den Film das New York der damaligen Zeit wieder aufbauen mussten, und dies in den folgenden Jahren einfach zu teuer war, bevor mein Production Designer Dante Ferretti [der frühere Ausstatter von Pasolini und Fellini, mit dem Scorsese seit "Age of Innocence" 1993 immer zusammenarbeitet] und das ganze italienische Team uns in Cinecitta bei Rom einen guten Deal machen konnten, der das Projekt schließlich bezahlbar machte - das war das Haupthindernis während all der Jahre -; davon also einmal abgesehen war es unser wichtigster Grund, warum es so lange dauerte, bis das alles endlich auf die Leinwand kam, dass wir einen Sinn für die Stadt kreieren mussten, eine Interpretation finden, und einen Weg, die Figuren mit der Geschichte der Stadt zu verknüpfen. Das Verhältnis von Vorder- und Hintergrund war schwierig auszutarieren. Und mit der Zeit hat der Hintergrund immer mehr Platz und Bedeutung eingenommen, hat den Film übernommen, ist Hauptthema geworden. Der Film ist letztendlich einer über die Stadt und den Staat und die Idee einer Art Demokratie im Experimentierstadium. Aber kein Zweifel: Es gab immer eine Spannung zwischen den beiden Polen: Wieviel Geschichte, wie viel Erzählhandlung benötigen wir? Das hat mich mehr als 25 Jahre beschäftigt, viele verschiedene Drehbuchversionen gebraucht. Und noch während des Drehs haben wir am Script gearbeitet.
Ihr Drehbuchautor Jay Cocks bemerkte, Sie wüssten, dass Sie mit diesem Film "mit dem Teufel Walzer tanzen". Stimmt das?
Scorsese: Das ist seine Wahrnehmung. Jay ist, denke ich, mein engster Freund. Wir kennen uns seit mehr als 30 Jahren. Und er hat mich schon viele Male mit dem Teufel tanzen sehen (lacht). Das Interessante an dieser Äußerung: Dieser "Teufel" ist nicht nur eine bestimmte Person, er ist das System. Und man muss herausfinden, wie man innerhalb des Systems zurechtkommt. Ich habe über die Jahre und die Filme, die ich gemacht habe, versucht damit zurecht zu kommen, aber so, wie ich es wollte, so weit wie möglich auf meine Weise! Als mir mein Produzent Harvey Weinstein sagte: "Wir machen diesen Film." habe ich ihm zwar geglaubt. Aber lange Zeit habe ich trotzdem von Tag zu Tag gedacht. Denn den Film hatte ich schon so lange geplant, so viele Jahre im Kopf - ich habe gar nichts und niemandem mehr geglaubt! Andererseits wusste ich: Dieser Typ hatte den Drive und Enthusiasmus, Harvey Weinstein ist der einzige, der in der Lage war, das zu machen.
Mussten Sie viele Kompromisse eingehen?
Scorsese: Ich mache mir keine Illusionen: Wenn einer einem knapp 100 Millionen Dollar gibt, sollte der Film zumindest das Aussehen eines traditionellen amerikanischen Epos haben, mit großen Stars, die in diesem Fall, Gott sei dank, wunderbare Schauspieler sind. Man muss auch die Sorgen eines Studios verstehen: Ein großes Budget, und das wird dann noch überschritten. Ich habe mein eigenes Geld reingesteckt und Leonardo di Caprio sein eigenes Geld... Trotzdem kommt irgendwann das Studio und fragt: Wie lange dauert es noch? (lacht) Das ist deshalb nicht gleich der Teufel. Nur will ich es nicht hören.
Wenn Sie den Film schon in den 70ern hätten machen können - was hätte anders ausgesehen?
Scorsese: Das ist schwer zu sagen. Grundsätzlich wäre alles vielleicht etwas weniger linear geworden. Das erste Script von Jay Cocks von 1978 war ein klarer Rohentwurf, da musste noch einiges gemacht werden. Es handelte sich um das repräsentative Tableau der New York-Geschichte bis 1870, da war die Cholera ein starker Aspekt, das Theater - das sehr bedeutend war-, der Rassismus der Leute. Wir mussten uns konzentrieren - es ist ja alles immer noch lang genug geworden. Aber die Ouverture und das Ende des jetzigen Films standen schon in den 70ern fest - genau so, wie Sie sie gesehen haben. Ich bin sehr zufrieden und dankbar, dass ich das machen durfte, aber dass, was der Film behandelt, ist doch nur ein Teil der ganzen Geschichte. Cocks wollte zum Beispiel noch diese unglaublich bizarre Geschichte vom Bau der Brooklyn-Bridge mit in den Film integrieren - aber das wäre nicht gegangen, das ist ein ganz eigener Film. Wissen Sie, ich bin ein richtiger Geschichts-Fan, speziell der Geschichte von New York; das ist ein so reiches Thema, dass man es niemals ganz ausschöpfen kann.
Im Vorfeld des Films waren vor allem die Auseinandersetzungen mit Ihrem Produzenten Harvey Weinstein, Boss der Firma Miramax, ein ständiges Thema - um die Länge des Films, um zusätzliches Material... Der Film dauert jetzt 166 Minuten; die Rede war aber von einer Version über drei Stunden. Es heißt, es gäbe eine längere Version Ihres Filmes, einen Director's Cut...
Scorsese: Ja, mit diesen längeren Versionen ist es so eine spezielle Sache. Ich bin ja bekannt dafür, sehr viel über die Restaurierung alter Filmfassungen zu reden, mich sehr dafür einzusetzen, die Originalversionen wieder zu zeigen. Besonders in den 70er Jahren wurden alte Filme ziemlich willkürlich zusammengeschnitten. Nehmen Sie Viscontis "Ludwig". Ich habe eine Version, die 3 Stunden und 5 Minuten lang ist. Sie behaupten in Italien, dass es noch mehr Material gibt - ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Auch Viscontis "Senso" wurde mehrfach umgeschnitten. Oder zum Beispiel "Pat Garrett und Billy the Kid" von Sam Peckinpah: Ich will Ihnen eine Anekdote erzählen: Ich bin zu Peckinpah mal gemeinsam mit Jay Cocks hingegangen, in der Zeit, als er für "Time Magazine" schrieb. Wir mochten "The Wild Bunch" sehr und "Ride the High Country" und seine anderen Filme. Und wir waren sehr überrascht, als wir bei der Begegnung mitbekamen, dass er gerade sehr mit dem MGM-Studio zu kämpfen hatte, wegen dem "Pat Garrett..."-Film. Ich denke er hatte ziemlich getrunken, und war ziemlich schlecht gelaunt. Es war eine sehr angespannte Stimmung. Wir waren wie zwei Kinder und saßen da und wussten nicht, was als Nächstes passieren würde. Und er meinte: "Ihr werdet schon sehen" - und wir begriffen, dass er uns den Film zeigen würde, in seiner Version. [Die berühmte Filmkritikerin] Pauline Kael kam noch hinzu, und nach der Vorführung trafen wir uns alle in seinem Büro. Peckinpah erzählte, dass er nach Europa müsse zu einem Festival, dass eine Retrospektive zeigte. Kael meinte: "Geh nicht, kämpfe für Deinen Film! Die wollen eh nur Kris Kristofferson sehen" - der war ein Filmstar damals.
Trotzdem wurde der Film verstümmelt. Er kam in einer fürchterlichen 90-Minuten-Fassung heraus. Da waren Schauspieler-Namen im Abspann, die gar nicht mehr im Film vorkamen. Und alle, die den Film sahen, schimpften. Aber wir meinten: Nein, der ist fantastisch, ihr hättet die ursprüngliche Fassung sehen sollen. Und diese Version, die er uns gezeigte hatte, wurde von den Cuttern gerettet. Jahre später kam sie heraus. Und das ist die Art Restaurierung, von der ich rede. Zu meinem eigenen Film muss ich Ihnen sagen: Es gibt von "Gangs of New York" keine einzige Szene - von denen, die wir drehen konnten - die ich ihnen nicht zeigen kann. Das hier ist der "Director's Cut", tut mir leid! (lacht) Es gibt nur diesen Film. Das ist das Komische an DVD's, es fördert die falsche Mentalität. Auf meiner DVD werden Sie Interviews bekommen, erfahren, wie Set und Kostüm entstanden. Und vielleicht einige alternative Takes von Daniel Day Lewis. Ich halte nichts von diesem "Director's Cut"-Geschäft. Es sei denn - natürlich - dass der Film dem Regisseur vom Studio aus der Hand genommen wurde, wie im Fall von Peckinpah. Oder im berühmten Fall von Erich von Strohheims "Greed", wo man eine neue, zweite Version auffindet.
Ist Filmemachen manchmal wie einen Überlebenskampf führen? Müssen Sie Ihre eigene Gang bilden?
Scorsese: Ja, ich hatte meine eigene Gang. (lacht) Wir kämpften jeden Tag. Aber das ist halt so. Ich bin einer, der ziemlich viel am Set klagt, leicht schlechtgelaunt wird, besonders am Morgen. Ich mag den Morgen nicht. Aber ich habe meine Leute: Mein Regieassistent, oder mein Kameramann Michael Ballhaus, ein echter Freund und Familienmitglied. Er lächelt mich am Morgen an, hat eine so positive Grundeinstellung: "Marty, wir kommen heute bestimmt so weit, wie wir kommen wollen." Ich schätze das sehr. "Gangs of New York" war ein besonders harter Kampf. Jeder Tag ist wie ein Preisboxen im Ring. Aber es gibt keinen Ausweg.
Ihr Film spielt in der Lower East Side rund um den Platz "Five Points", den es im heutigen New York nicht mehr gibt. Wo genau liegt das?
Scorsese: Es sind nur noch zwei von den fünf Ecken übriggeblieben, und ein kleiner Teil des Parks, "Paradise Square". Der heißt jetzt "Columbus Park". Es liegt direkt zwischen Chinatown und den graeco-römischen Gebäuden der Justiz. Dort liegt auch "The Tombs", das Gefängnis.
Vor zehn Jahren drehten Sie "Age of Innocence", der nur wenige Jahre später, auch im 19.Jahrhundert spielt, aber unter der Oberklasse. Warum interessiert Sie das New York dieser Zeit so sehr?
Scorsese: Ich bin in ziemlich genau dieser Gegend aufgewachsen, in "Downtown New York". Und ich habe mich einfach begonnen, dafür zu interessieren, wer dort eigentlich vor uns gelebt hat. Und in welcher Art man eigentlich in New York lebte. Besonders in der Geschichte New Yorks spiegelt sich wieder, wie Amerika ein Staat wurde: Der Bürgerkrieg, die Einwanderer, und innerhalb des Staates die Idee einer klassenlosen Gesellschaft. Trotzdem gab es eine Oberklasse, gab es Arme, gab es die Unterwelt - alle lebten sehr nahe zusammen. Und mich interessierte diese historische Epoche einfach.
Wieweit hat diese Welt mit der von Little Italy gemeinsam, in der sie aufwuchsen?
Scorsese: Ich bin auf der Elizabeth-Street aufgewachsen, die - nebenbei bemerkt - heute sehr chic ist, zwischen normalen Geschäften - wie beispielsweise einer Schlachterei. Alle Schlachtereien, außer einer, sind heute Boutiquen. Es waren mal vier. Ich konnte sehen, wie die Tiere zum Schlachten hineingeführt wurden, wie man sie zerlegte - das ist eine Kunst. Aber sehr blutig. Die Welt meiner Kindheit war wie ein kleines sizilianisches Dorf. Ich brauchte Jahre, bis ich zum ersten Mal nach Greenwich Village kam. Das erste Mal, als ich wirklich in die West Side kam, sechs Blöcke weiter, war als ich auf die [Universität] NYU ging. Zuhause bekam ich zu hören: "Ma que! Bist Du verrückt: Da lebten Bohemiens, Künstler, oh nein!" Wir hatten alles, was wir brauchten: Metzger, Beerdigungsunternehmen, die Kirche. Ich mochte die kleine Gesellschaft sehr gern, in der wir lebten. Das war 1955! Das waren andere Zeiten. Und dann, zwischen 14 und 18 ging ich auf die katholische High School, mit Priestern, Mönchen. Die lag oben in der Bronx. Aber die Strassen dazwischen hab ich nie gesehen, ich nahm die U-Bahn. Heute lebe ich in einem ruhigen Haus zwischen 2rd und 3rd Strasse, nicht so chic.
Manchmal konnte man den Eindruck haben, dass Sie mit "Gangs of New York" eine zweite, entgegengesetzte Version von Griffith' "Birth of a Nation" gedreht haben...
Scorsese: (Lacht) Das sagen viele! Aber wie könnte mein Film "Birth of a Nation" ähneln? Natürlich, Griffith war der, der das Kino definiert hat, der uns das ganze filmische Handwerkszeug gegeben hat: den Medium-Shot, den Close-Up, das ganze Vokabular des Kinos...
Aber "Gangs of New York" schildert ja eine zweite Geburt...
Scorsese: Das stimmt, es gibt da eine zweite Geburt. Ich sehe es so - und viele Historiker ähnlich - dass die Amerikanische Revolution von 1776 eigentlich erst 1865 mit dem Ende des Bürgerkriegs vollendet und abgeschlossen wurde - erst mit diesem Ende wurde das Land zusammengeschweißt. Das ist die wahre Geburtsstunde der Nation. Aber ich bewerte sie ganz anders, als Griffith, der ja sehr kontroverse Ansichten hatte: Er behauptet: Der [rassistische] Ku-Klux-Klan habe das Land gerettet. Das ist extrem! Mein Ansatz ist demgegenüber sehr anders: Ich zeige einen Ort der Konflikte, Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, weil dort Hungersnot herrschte, die in Amerika auf mehr Menschlichkeit hofften, und die dort mit Rassismus und Verfolgung konfrontiert wurden. Wie sich das alles entwickelte, ist sehr interessant. Die Freiheitsstatue mit ihrem Motto "Bring us your homeless" wurde ja erst in den 1880er Jahren errichtet. Da fand das Land erst zusammen.
Wie repräsentativ sind die Gangs in ihrer Geschichte für die gesamte US-Nation der damaligen Zeit?
Scorsese: Das ist eine sehr wichtige Frage. Diese Gangs spiegeln verschiedene Interessengruppen. Sie schlossen sich nach ethnischen Kriterien - Iren, geborene Amerikaner - zusammen. Sie hatten politische Kandidaten, die sie unterstützten. Was an dem Bild, das der Film zeigt, sehr akkurat ist, ist: Bill the Butcher [eine historisch verbürgte Figur, zugleich eine der Hauptgestalten von Scorseses Film] war ein wichtiger Faktor. Er starb tatsächlich etwas früher, als im Film, aber er war auch historisch ein Spieler, ein harter Trinker, ein Schläger. Er prügelte sich mit jedem Iren, der ihm über den Weg lief. Und was ebenfalls stimmt: Die "Native Americans" waren eine einzige Gruppe. Und sie hatten erheblich mehr mit den politischen Kämpfen zu tun.
Darum steht ausgerechnet Bill the Butcher im Zentrum...
Scorsese: Ja! Er war außergewöhnlich, sehr interessant. Er repräsentierte die Mehrheit, "Native Americans", die die "fremden Invasoren" aus Irland nicht leiden konnten. Der Schurke ist hier der, der die Leute beschützt. Der zum Kampf bereit ist. "Religionsfreiheit", immerhin ein Teil der Selbstdefinition, der Essenz des Landes, schert ihn nicht. Er wollte nur weiße Protestanten, war anti-schwarz, anti-irisch. Wobei: in mancherlei Hinsicht haben die "Native Americans" die Schwarzen gegenüber den Iren noch bevorzugt, weil die immerhin Protestanten waren. Aber der Schurke hier ist so stark, weil er ja ein paar gute Gründe für seine Positionen hatte. Das ist das Wichtigste: Amerika war überhaupt gegründet worden, um sich endlich von Religionskriegen und - konflikten freizumachen. Die Überlegung war die: Da kommen Leute ins Land wollen wählen, haben aber gar keine Bildung. Auf wen hören sie: Ihren Pfarrer. Wem gehorcht der? Dem Papst. Eine fremde Land, der Vatikan beeinflusst plötzlich die amerikanischen Wahlen. So haben die gedacht! Das ist bis heute nicht völlig aus den Köpfen: In Amerika gab es bisher nur einen einzigen katholischen Präsidenten: John F. Kennedy. Und den hat man umgebracht.
Wie wichtig ist Gewalt für Amerika und seine Geschichte?
Scorsese: Nun, jeder, der die amerikanische Geschichte und die Geschichte vieler Nationen kennt, weiß, wie wichtig Gewalt ist. Die amerikanische Geschichte ist voller Gewalt, die europäische aber auch.
Salman Rushdie hat "Gangs of New York" mit "Herr der Ringe" verglichen...
Scorsese: Ja, er schrieb über die Nahkämpfe. Und er schrieb, das "Herr der Ringe" zwischen Gut und Böse sehr klar unterscheidet. Während "Gangs.." das nicht tut. "Es gibt keinen Held und keinen Bösewicht in einem Gang-Krieg" schrieb Rushdie. Und dass die Kriege unserer Gegenwart eher die Gestalt von "Gangs of New York" als von "Herr der Ringe" haben. Aber unglücklicherweise will man uns weismachen, es handle sich in der Gegenwart um "Herr der Ringe", dass es sich hier um das reine Gute und das reine Böse handle. Rushdie spricht auch von "amoralisch". Und ich tendiere dazu, dem zuzustimmen.
In "Gangs of New York" gibt es keine Helden und keinen Bösen. Es gibt nicht Schwarz auf Weiß, sondern Grauschattierungen. Wir fühlen uns ein, aber wir teilen nicht die Werte der Figuren. Aber sie sind Menschen. Ich interessiere mich nicht für traditionelle Erzählweisen: Am Ende ein Showdown zwischen Gut und Böse. So ist es im Leben nicht. Im Gangkrieg gibt es keinen Helden und keinen Schurken. Und am Ende ist es die Geschichte selbst, die sie überwältigt. Aber hätte kein bisschen anders sein können, das Leiden war notwendig. Sie mussten durch all das rituell hindurch, damit sich die Welt verändern kann.
Ich versuche hier, zu den Grundlagen vorzudringen: Das heißt zur Stammesgesellschaft. Es sind Stammesrituale. Und darum gibt es am Ende auch keinen richtigen Kampf. Bill the Butcher gibt sein Leben hin. Es ist fast ein Selbstmord, durchgeführt von der Hand von Jemandem, den er liebt und respektiert. Denn er weiß: Das ist nicht mehr seine Welt. Die moderne Welt kommt mit Artillerie und Unionssoldaten. Meine ultimative Frage im Film ist: müssen wir Menschen so sein? Die Charaktere von Leo und Daniel müssen sich beide bis auf den Tod bekämpfen. In gewissem Sinn ist beiden auch egal, wer gewinnt.
Man kann ihnen nicht zuhören, wenn Sie von Stammesgesellschaft etc. sprechen, ohne an aktuelle Ereignisse zu denken...
Scorsese: Städte erleben Aufstieg und Niedergang, aber dann steigen sie wieder auf. Nichts bleibt, wie es ist. Aber wir haben nicht an die Gegenwart gedacht. Wir haben einen Film über eine bestimmte Periode Amerikas gemacht. Doch worum geht es immer? Um die Frage, wie die menschliche Natur beschaffen ist. Wenn Eindringlinge kommen. Fremde. Die sehen anders aus, haben andere Hautfarben, verehren merkwürdige andere Götter. Was tut man da? Was ist die erste Regel? Bekämpft man sie? Ich weiß es nicht. ich sage: Ich hoffe wir kommen zu dem Punkt, an dem das nicht mehr passiert. Die Welt ist dazu zu klein.
Trotzdem scheinen Ihre Filme zu argumentieren, zu zeigen: Wir kommen um die Gewalt nicht herum...
Scorsese: Gewalt ist in einer Gesellschaft der Armen und Unterdrückten der natürliche Zustand, ein Teil der Existenz. Lesen Sie Zola! Oder "Reise ans Ende der Nacht" von Celine, und Sie werden sehen. Oder schauen Sie sich "Los Olvidados" von Bunuel an. Die Menschen von "Five Points" hatten keine andere Wahl, als brutal zu sein. Ich selbst habe den größten Teil meines Lebens in einer sehr schlechten Gegend verbracht. Wenn man da lebt, dann ist Gewalt Teil des alltäglichen Lebens. Es ist keine Option, sondern Wirklichkeit. Und es passiert jeden Tag. Und es schwappt über - von den Strassen ins Heim. Ich glaube, es wird heute bei uns oft vergessen, was es eigentlich heißt, auf der Strasse aufzuwachsen.
Berücksichtigen Sie zusätzlich die Tatsache, dass sich das Land im Krieg mit sich selbst befand. Und berücksichtigen Sie, dass Lincoln in der Minute, in der er gewählt war, wusste, dass er umgebracht werden würde, dass er diesen Bürgerkrieg nicht überleben würde -egal wie es ausginge. Gewalt ist in jeder Gesellschaft allgemein verbreitet, die noch dabei ist, sich selbst zu definieren. Es irgendwie anders zu zeigen, wäre eine totale Lüge. Ein Weißwaschen der Geschichte. Das kann man heute nicht mehr machen.
Eines unserer größten Sorgen war, nicht zu zeigen, wenn einer zum Beispiel erstochen wird, nicht zu zeigen, wie das Messer genau in den Leib eindringt. Das wird alles nur durch den Schnitt und die Geräusche impliziert. Wenn Sie die Einzelbilder analysieren, werden Sie merken, dass alles auf der Montagetechnik basiert, die in den 20er Jahren entwickelt wurde. Es ist mehr Implikation als irgendetwas anderes.
Aber es gibt wohl immer ein paar Leute, denen meine Filme zu gewalttätig sind. Das ist dann wohl einfach nicht mein Publikum. Aber es gibt keine Alternative: Man kann nicht von Charakteren erzählen, die tagtäglich ums Überleben kämpfen, aber dann keine Gewalt zeigen. Aber wir glorifizieren die Gewalt niemals. Es ist eine Tragödie. Am Ende wirken die beiden Hauptfiguren wie Fossilien aus der Urzeit. Aber die Gewalt ist weiter fruchtbar. Ist das nicht unsere Natur? Wird es auch in Zukunft so sein?
Eine Frage zum Thema "Patriotismus": Bill the Butcher sagt: "Ein Mann gibt sein Leben für sein Land." Wie denken Sie darüber?
Scorsese: Eine interessante Frage. Sie wollen wissen, ob ich Bill the Butcher zustimme. Nein, ich bin mit ihm nicht einer Meinung. Aber in der Geschichte der Menschheit haben andere Menschen das getan: Ihr Leben gegeben. Ich bin auch nicht in der Position, dies zu kritisieren. Es ist schwer zu sagen. Mir fehlen die richtigen Worte. Aber es gibt etwas Bewegendes daran, sich eine Gruppe von Menschen vorzustellen, die versucht ihre Art zu leben zu verteidigen, zum Beispiel gegen eine Invasion. Mein Film "New York, New York", den ich 1977 gedreht habe, beginnt am Victory-Day 1945 - der nach meiner Ansicht kein sehr feierlicher Tag war; aber was habe ich für eine Ahnung? Ich war vier Jahre alt. Es ist leicht das zu sagen -; da gibt es eine große Feier. Und bevor diese Feier ins Bild kommt, gibt es eine Einstellung auf ein Fenster, aus dem ein Soldat seine Uniform wirft. Ich schneide dann auf das Uniformhemd, das auf der Strasse liegt, wie ein menschlicher Körper, und man sieht jemanden wie er um das Hemd herumgeht - er will nicht drauftreten. Um diesen Respekt geht es: Man mag anderer Meinung sein, aber man sollte nicht drauftreten. Allein für das, was die gemeinsam durchgemacht haben, als Menschen.
Das ist für mich etwas Überwältigendes an den Kriegen der Geschichte, an den Situationen, in die Menschen geraten können. Neulich liefen in New York einige Filme, deutsche Filme zwischen 1945 und 1960: "These Years", die Geschichte eines Autos, die durch die Jahre und Regime erzählt wird. Sehr interessant! Und dann "Die Brücke" von Wicki und auch "Die letzte Brücke" von Helmut Käutner. Da sieht man diese Leute in einer Situation gefangen. Was tut man da? Ich glaube, als zum Beispiel Oliver Stone "Platoon" gemacht hat, hat er nicht mehr an Politik gedacht, sondern an Humanität. Ich erinnere mich an die Einweihung des Vietnam-Memorials: Da sah man den Sänger Country Joe, einen der bekanntesten Anti-Vietnam-Aktivisten, wie er Veteranen umarmt hat. obwohl er dagegen war: weil sie Menschen waren. Das war sehr bewegend.
Es gibt im Film eine Szene, in der frischrekrutierte Soldaten an den Särgen ihrer Vorgänger entlanggehen. Ist das kein politisches Statement?
Scorsese: Nun, das politische Statement ist: Da sind Menschen aus einem Land, in dem Hunger herrscht, Iren. Sie haben nichts. Entweder bleiben sie und werden Kannibalen oder sterben, - nach England können sie nicht, nach Frankreich können sie nicht -, oder sie gehen auf dieses Boot, fahren in dieses Land, das sie vermutlich willkommen heißt, und kommen an, und erfahren, dass das Land sich selbst überhaupt erst noch finden muss, dass ein Bürgerkrieg herrscht. Sie brauchen Essen, es gibt kein Video, kein Film, keine Bilder, die ihnen die Wahrheit über den Krieg zeigt - Matthew Grady begann 1863 seine berühmten Civil-War-Fotos zu machen -, die Leute hatten die Vorstellung, dass Krieg etwas Ruhmvolles war, verstanden nicht, was Krieg wirklich hieß, und kaum einer hatte begriffen, was aus diesem Bürgerkrieg geworden war.
Und diese armen Schweine kamen da an, wollten im Land bleiben und US-Bürger werden, sie bekamen drei kostenlose Mahlzeiten am Tag - dafür mussten sie bloß eine Uniform anziehen und kämpfen. Überdies kamen sie aus einer keltischen Kultur, wo der Kampf sowieso ein Teil der Kultur ist. Das zeige ich übrigens auch im Film: Wenn Leo di Caprios Figur betet, und seine Leute um sich sammelt - durch ihren Glauben, dann wird auch klar: Der Glaube gilt einer Art Gott des Krieges, kein Gott der Liebe. Es gibt dort keine Hoffnung.
Und die "Irish Brigade" zwang sich, in den Bürgerkrieg zu gehen, bewies sich selbst im Bürgerkrieg. Sie marschierten in der Nacht der "Erklärung zur Sklavenbefreiung". Wenn man nachforscht, kann man herausfinden, dass die in New York nicht besonders gefeiert wurde. Man hat nur die Iren marschieren lassen, weil man nicht sehr über die nachgedacht hat. Also: In der Essenz ging die "Irish Brigade" als "keltische Krieger" in diesen Krieg, um sich selbst zu beweisen, dass sie das Recht hatten, in diesem Land zu leben. Das Problem war, dass viele in ganz kurzer Zeit tot waren. Und das war es, was wir in dieser einen Aufnahme zeigen wollten. Es ist nicht so, dass ich dies in irgendeiner Weise entschuldigen möchte, ich sehe darauf nicht als auf etwas Positives. Aber ich betrachte es als das Wesen der Existenz. Das ist es, was passiert ist.
Ihr Film kommt zu einem besonderen Zeitpunkt heraus: Nach dem 11.September, vor einem möglichen Krieg. Was ist die Botschaft des Films in dieser historischen Situation?
Scorsese: Der 11. September hat uns berührt, keine Frage. Mein Produzent Harvey Weinstein wollte den Film danach nicht zu Weihnachten 2001 herausbringen - das war mir nur recht, denn da war ich sowieso noch nicht fertig. Wie auch immer: Wir haben nichts Grundsätzliches verändert. Insbesondere die Skyline am Ende, die in die Skyline mit dem World Trade Center mündet, stand bereits in einer Drehbuchfassung aus dem Jahr 1978. Wir hatten die Aufnahmen dann so fertiggemacht. Ich habe nie daran gedacht, sie nachträglich noch zu verändern, etwa die WTC-Türme aus dem Bild zu entfernen, nein: Die Leute, um die der Film dreht hatten Anteil daran, die Skyline aufzubauen, nicht daran, sie zu zerstören. Wenn diese Skyline geht, dann wird eine andere wachsen. Man kann da den Satz zitieren, der am Ende gesagt wird: "Sie werden nicht einmal wissen, dass wir je da waren. Aber wir waren da." In "Gangs of New York" wollte ich überhaupt nichts glorifizieren, die Gewalt in ihrer Hässlichkeit nicht feiern. Die Kämpfe sollten so wirken, als ob man Insekten beobachtet. Und es sollte Trauer ausdrücken.
Einer der Gründe, warum wir den Film gemacht haben - von meiner Obsession für die Epoche einmal abgesehen - war, zu zeigen, wie das Verlangen von Menschen ein anständiges Leben zu leben, und der Kampf, bis das auch gelingt, und was man durchmacht, um sich und seine Familie zu unterhalten - das ist die Basis aller Kämpfe. Der Film reflektiert natürlich das New York des 19.Jahrhunderts. Aber das Wesen der Gefühle und Geschehnisse hat auch eine Bedeutung für die ganze heutige Welt. Ich denke, das war eines der Hauptmotive für den Film. Während wir in Rom gedreht hatten, kam es zu dieser Wahlgeschichte zwischen Bush und Gore. Die Geschichte kann uns da hoffentlich auch als Warnung dienen, sie bildet Fabel, die zeigt, wo mögliche Brüche liegen, wo die Zivilisation plötzlich auseinander fiel - damit wir in gewissem Sinn ein bisschen klüger sind.
Die Welt heute ist klein. Und das New York, das ich im Film zeige, ist wie die ganze Welt. Aber die Frage ist: Kann sie nur mit Gewalt zusammengehalten werden? Was man nicht weiß, ist: Kann man die menschliche Natur verändern? Vielleicht nicht auf unserem Evolutionsstand. Aber vielleicht, wenn wir uns weiterentwickeln. Aber vielleicht verändert sich die bestialische Seite. Vielleicht wird das in 25.000 Jahren das Ergebnis der Evolution sein.