Aufstand der Anständigen: Neuer Anlauf nach historischem Scheitern

Seite 2: 2015: Wir schaffen das – Refugees Welcome

Maaßen war nicht einverstanden mit dem damaligen Kurs der CDU und der Solidaritätswelle für Geflüchtete, die stark von einer Äußerung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel inspiriert worden war: "Wir schaffen das" hatte die CDU-Politikerin im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 gesagt – und entschieden, das Schengener Abkommen nicht außer Kraft zu setzen und somit die deutschen Grenzen nicht zu schließen.

An EU-Binnengrenzen waren schon seit Jahren die Kontrollen abgeschafft – dennoch hielt sich in rechten Kreisen die Redewendung, Merkel habe die Grenzen geöffnet. Von der Solidaritätswelle wurde aber kurzzeitig sogar die Bild-Zeitung erfasst, die zuvor oft als Organ der Stimmungsmache gegen Asylsuchende kritisiert worden war.

Der Slogan "Refugees welcome" war populär – es gab durchaus Parallelen zum "Aufstand der Anständigen". Eine rassistische Gewaltwelle konnte dadurch nicht verhindert werden, aber anders als im Fall des NSU wurde sie als solche bemerkt, auch wenn es bei weitem nicht immer Bekennerschreiben gab, wenn Asylsuchende angegriffen oder Unterkünfte für Geflüchtete zum Anschlagsziel wurden. Im dritten Quartal 2015 verdoppelte sich die Zahl entsprechender Straftaten nahezu.

2017 scheiterte das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD – dieses Mal aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit, während die Richter an ihrer Verfassungsfeindlichkeit keine Zweifel hatten. Die NPD war aber durch interne Streitereien geschwächt und seit 2016 in keinem Landtag mehr vertreten.

Der Aufstieg der AfD

Die 2013 gegründete AfD erhielt unterdessen immer mehr Zuspruch, galt sie doch im Vergleich zur NPD als gemäßigt und wurde unter Bernd Lucke von vielen in erster Linie als Partei der Euro-Kritiker wahrgenommen. 2015 verschärfte sich aber ihr Ton gegen eine aus ihrer Sicht zu liberale Flüchtlingspolitik.

Mehrere AfD-Politiker wurden inzwischen wegen Volksverhetzung angeklagt und zum Teil auch verurteilt. Bereits 2017 war für die spätere Verfasserin des Enthüllungsbuchs "Inside AfD", Franziska Schreiber, das Maß voll. Sie trat somit im selben Jahr aus der Partei aus wie die bisherige AfD-Ko-Chefin Frauke Petry. Schreiber warnt seither vor ihrer Ex-Partei.

Nach eigenen Angaben erging es ihr danach wie nach einem Sektenaustritt – sie werde bedroht und beleidigt, sagte sie im Jahr darauf in einem Interview: "Man wünscht mir, dass ich von Flüchtlingen vergewaltigt werde. Für die AfD bin ich eine Verräterin und kollaboriere mit dem Feind."

Die AfD saß inzwischen im Bundestag – 2017 hatte sie gut 12,6 Prozent der Stimmen erreicht. "Wir müssen uns entscheiden, ob wir Schafe oder Wölfe sein wollen. Und wir entscheiden uns dafür, Wölfe zu sein", sagte der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke 2018. Parallelen zu einem Goebbels-Zitat wurden gezogen. Der spätere NS-Propagandaminister hatte 1928 gesagt: "Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafsherde einbricht, so kommen wir."

2018: Unteilbar

Im Oktober 2018 ging erstmals ein breites Bündnis unter dem Namen "Unteilbar" in Berlin gegen Rassismus auf die Straße – neben Gewerkschaften und NGOs wie Pro Asyl beteiligten sich auch Gliederungen der SPD, die damals im Bund als Juniorpartner der CDU regierte, an der Großdemonstration unter dem Motto "für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung". Auch die damalige Oppositionspartei Bündnis90/Die Grünen und Die Linke waren vertreten. In seiner Breite und Ausrichtung war dieses Bündnis mit dem "Aufstand der Anständigen" vergleichbar.

Die Berliner CDU beteiligte sich nicht an der Demonstration, weil der Anmelder ein Anwalt der "Roten Hilfe" sei und "linksextremistische Verbrecher" schütze. Zugleich wurde die CDU wegen ihrer Ausrichtung unter Merkel bereits scharf von rechts angegriffen.

Ein weniger beachteter AfD-Leak

In internen Chats von AfD-Poltikern wurde die damalige Kanzlerin 2019 wegen ihrer vermeintlichen Grenzöffnung sogar als "Ratte Merkel" und als "Volksverräterin" bezeichnet, die "lebenslang in den Knast" gehöre. Geleakt wurden diese Äußerungen im Mai 2022 von NDR und WDR.

Auch deutliche Umsturzrhetorik fand sich demnach in der Gruppe: "Wir müssen wohl warten, bis das Alte Regime wirtschaftlich ans Ende kommt und der Funke aus Österreich, Italien, Frankreich usw. überspringt. Das wird kommen und für die dann ebenfalls kommenden gnadenlosen Kämpfe müssen wir uns rüsten."

2024: Aufstand der Anständigen 2.0

Gleichwohl hatte es in der öffentlichen Wahrnehmung eine neue Qualität, was das Recherche-Netzwerk Correctiv am 10. Januar dieses Jahres über ein nichtöffentliches Treffen von AfD-Politikern und rechtsextremen "Identitären" in Potsdam berichtete. Unter dem Stichwort "Remigration" sollen demnach auch "nicht assimilierte Staatsbürger" aus dem Land gedrängt werden – sei es durch "maßgeschneiderte Gesetze" und massiven "Anpassungsdruck", oder – wie der Bericht nahelegt – letztendlich durch Vertreibung.

Mehrere AfD-Politiker bekräftigten daraufhin "millionenfache" Abschiebungen zu planen. Dies sei "kein Geheimplan", sondern ein Versprechen, so der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer. In bundesweiten Umfragen steht seine Partei mittlerweile bei mehr als 20 Prozent.

Mehr als eine Million Menschen sind bundesweit in den letzten Tagen auf die Straße gegangen, um sich lautstark gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu positionieren. Auch die SPD-Bundestagsfraktion hatte zum neuen "Aufstand der Anständigen" aufgerufen.

Etablierte Parteien führten nicht überall Regie

Die Bandbreite derer, die an Großdemonstrationen in mehreren Städten teilnahmen, reicht von prominenten Mitgliedern der Regierungsparteien bis hin zu Gruppen und Personen, die der Ampel-Regierung vorwerfen, mit der gerade beschlossenen Verschärfung der Asylgesetze der AfD entgegenzukommen. Teilweise wurde auch davor gewarnt, dass die Sparmaßnahmen der Ampel weiteren Frust erzeugen und der AfD nützen könnten.

Und: Etablierte Parteien führten bei den Großdemos der letzten Tage keineswegs überall Regie. In München zum Beispiel hatte die auch als Klima-Aktivistin bekannte Lehramtsstudentin Lisa Pöttinger eine Demonstration unter dem Motto "Gemeinsam gegen Rechts" angemeldet, die mit bis zu 250.000 Teilnehmern so groß wurde, dass sie wegen des großen Andrangs abgebrochen werden musste. Mehr als 230 Organisationen hatten sich dem Aufruf angeschlossen.

Nichtstaatliche Dynamik gegen rechte Politik

Die Anmelderin bezeichnete sowohl die CSU als auch "konkrete Ampel-Politik" als rechts und hatte es ausdrücklich begrüßt, dass der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) ausdrücklich nicht zur Demo kommen wollte. Nun wirft die Bild ihr vor, sie sei "selbst extrem".

Parallel zum staatstragenden Aufruf zum "Aufstand der Anständigen" scheint jedenfalls auch eine nichtstaatliche, in Teilen staatskritische Dynamik entstanden zu sein, die dem Wunsch nach einem stärkeren Gegengewicht von links Ausdruck verleiht.

Zugleich begrüßten Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der aktuelle Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang die zahlreichen Demonstrationen. "Es wäre wünschenswert, wenn die schweigende Mehrheit unserer Bevölkerung klar gegen Extremismus und Antisemitismus Position beziehen würde", sagte Haldenwang der Westdeutschen Zeitung.

Er sprach demnach nicht von Rechtsextremismus, sondern von "Extremismus" allgemein.