Auftauender Permafrost: Wenn Häuser bersten und Milzbrand ausbricht

Risse in arktischem Permafrost. Foto: Brocken Inaglory / CC-BY-SA-3.0

Kippelement: Auf großen Gebieten der Nordhalbkugel ist die Erde seit Jahrtausenden dauergefroren. Doch der Klimawandel ändert das gerade: Forscher in Potsdam untersuchen, was das bedeutet. Ein Ortsbesuch.

Alaska, Nordkanada, Nordskandinavien, weite Teile Sibiriens – 15 Prozent der Landfläche auf der Nordhalbkugel ist permanent gefroren. Auf 21 Millionen Quadratkilometern kann dieser Permafrost auftreten und er wirkt wie eine riesige Tiefkühltruhe: Im Boden sind gigantische Mengen abgestorbener Pflanzenreste eingeschlossen. Taut das Eis, werden sie durch Mikroben zersetzt und dabei Treibhausgase wie Methan, Lachgas oder Kohlendioxid frei.

Allein im oberen Bereich der Permafrostböden stecken bis zu 1.600 Milliarden Tonnen Kohlenstoff – fast doppelt so viel, wie sich derzeit in der Erdatmosphäre befindet. Wird er freigesetzt, heizt er das Klima weiter an. Ein sich selbst verstärkender Effekt: Mehr getauter Permafrost bedeutet mehr Treibhausgase in der Atmosphäre, was zu höheren Temperaturen führt, die wiederum mehr Permafrost auftauen.

Bereits heute setzt der Klimawandel diesem Permafrost gehörig zu. "Im Vergleich zur vorindustriellen Zeit ist die Grenze in einigen Regionen schon über mehrere hundert Kilometer Richtung Norden gewandert", sagt Moritz Langer, der die Folgen am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Potsdam erforscht. "Gewandert" bedeutet: aufgetaut. Und das heißt, dass der darunter gebundene Kohlenstoff sich bereits zersetzt.

Grauer Strickpulli, Kurzhaarschnitt, ein Lächeln auf den Lippen – Moritz Langer ist promovierter Geograf. Der 42-Jährige kennt die Auswirkungen des Tauens vor Ort, Reisen führten ihn immer wieder in die Permafrostgebiete, zum Beispiel nach Tiksi in die autonome russische Republik Sacha, ein paar Kilometer unterhalb des Deltas der Lena.

"In Sibirien wurden die Häuser direkt auf die gefrorene Erde gebaut. Durch das Tauen brechen sie jetzt förmlich auseinander." Aber auch Straßen, Pipelines, Tanks für Treibstoff, Bohrinseln, ja die gesamte Biosphäre sind in Gefahr. Langer: "Wir untersuchen, ab welchem Punkt es kritisch wird."

Dafür nutzen Langer und sein Team Messdaten aus den Permafrostgebieten. Acht Wissenschaftler:nnen arbeiten in der Forschungsgruppe "Permarisk", untergebracht sind sie im Haus A6 auf dem Telegrafenberg in Potsdam. In fast jedem Büro liegen Taschen mit Ausrüstungsgegenständen und Polarkleidung. "In Alaska arbeiten wir sehr viel in der Region Prudhoe Bay, das ist ganz im Norden an der Küste zum Polarmeer."

Auch in Kanada sind die Forscher:nnen viel vor Ort. Leider seien die Arbeiten in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges 2022 nicht mehr möglich, Moritz Langer bezeichnet das als "immensen Verlust": "Seit 2002 betreiben wir am Lena-Delta eine Forschungsstation, die uns kontinuierlich Daten übermittelt hat. Viele unsere Modelle beruhen auf diesen Daten. Diese Datenreihen sind jetzt komplett unterbrochen." Nebenbei seien auch Freundschaften verloren gegangen, die über die Jahre zu den Kollegen vor Ort entstanden sind.

"Methodisch sind wir vor allem Modellierer: Wir entwickeln physikalische Modelle, die das Auftauen des Permafrostes und die Veränderungen in der Landschaft abbilden", sagt Langer. Ziel ist es, besser vorhersagen zu können, was auf die Menschheit zukommt. Deshalb betreibt die Forschungsgruppe "Permarisk" auch Feldforschung, um selbst Daten zu generieren. "Wir brauchen sie, um unsere Modelle zu kalibrieren und zu validieren." Also um die Modelle einzustellen und um ihre Evidenz zu überprüfen.

"Es entsteht eine zusätzliche Treibhausfracht"

Eine Studie hatte Anfang 2022 zum Ergebnis, dass die Permafrostlandschaften in Skandinavien bereits in den 2040er-Jahren verschwunden sein werden. "Das heißt zwar nicht, dass Permafrost in Europa dann gar nicht mehr vorkommt", sagt Langer, die Eiszeit habe den Boden sehr tief frieren lassen.

Es zeige aber, wie dramatisch die Entwicklung sein wird, wenn wir nicht endlich mit wirksamem Klimaschutz beginnen: "Kein Permafrost mehr bedeutet: Es entsteht eine zusätzliche Treibhausfracht". Bis Ende des Jahrhunderts kommt durch Treibhausgasemissionen aus den Permafrostregionen mindestens 0,1 Grad Erderwärmung zum menschengemachten Klimawandel hinzu – im günstigsten Falle.

Wird kein Klimaschutz betrieben, können es auch 0,3 Grad zusätzlich werden. "Hört sich wenig an, macht aber einen gewaltigen Unterschied: Wir können diese zusätzlichen Treibhausgasemissionen durch unser eigenes Zutun nicht mehr stoppen!"

Eine große Unsicherheit dabei: Wie viel Treibhausgas, das potentiell in der gefrorenen Erde enthalten ist, wird tatsächlich auch frei? Deshalb simulieren die Wissenschaftler im Labor in Potsdam das Auftauen und untersuchen, welche Prozesse dabei ablaufen. "Sie tragen Schutzkleidung wie in einem Coronalabor, allerdings nicht um sich, sondern die Probe zu schützen", sagt Moritz Langer.

Die Proben sind beispielsweise Bohrkerne aus dem Norden Kanadas, deren Inhaltsstoffe ermittelt werden sollen: Die Schutzkleidung wird getragen, damit von den Körpern der Wissenschaftler keine Beeinflussung der Ergebnisse ausgehen. Denn diese seien unglaublich wichtig, für die Einschätzung des Kippelements: "Wie viele Teile Methan entstehen dabei, wie viel Kohlendioxid: Der Unterschied im Erwärmungspotential liegt bei dem Faktor 24." Bedeutet: Methan trägt 24 Mal so stark zum Treibhauseffekt bei wie Kohlendioxid.

Spitzenforschung zur Erderwärmung

Aber warum Permafrostforschung ausgerechnet in Potsdam? Hier gibt es weder Berge noch Frost. In der DDR war auf dem Potsdamer Telegrafenberg das "Zentralinstitut für Physik der Erde" untergebracht, ein außeruniversitäres Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften der DDR. "Das kleine Land wollte nicht nur im Sport ganz groß glänzen, sondern beispielsweise auch in der Wissenschaft", sagt Moritz Langer.

Beispielsweise betrieb die DDR seit 1976 in der Antarktis die Georg-Forster-Polarstation, die sich der Erforschung der Atmosphäre und des Ozonlochs widmete, das betreuende Heimat-Institut war auf dem Telegrafenberg untergebracht.

Dieser heißt so, weil Preußen hier 1832 eine Station seiner ersten optischen Telegrafenlinie nach Koblenz aufbaute. Später wurden hier Kaiserliche Observatorien errichtet, Nobelpreisträger wie Albert Abraham Michelson oder Albert Einstein arbeiteten hier. Nach der deutschen Wiedervereinigung übernahmen westdeutsche Institute den ostdeutschen Forschungsstandort, die Polarstation wurde 1993 demontiert.

Heute heißt der Campus "Wissenschaftspark Albert Einstein" und liefert reihenweise Spitzenforschung zur Erderwärmung. Neben dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung und dem Geoforschungszentrum residiert hier auch das "Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam" und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Aktuell arbeiten hier bis zu 2.000 Menschen, allein 1.200 beim Geoforschungszentrum, bei Moritz Langers Alfred-Wegener-Institut sind es etwa 300 Kollegen.

Die finden nicht nur Treibhausgase, die im Permafrost eingeschlossen sind, sondern beispielsweise auch sogenannte "Pandoraviren". 2015 war es einem französischen Team gelungen, 30.000 Jahre alte Exemplare aus dem Eis zu bergen und im Labor wiederzuerwecken. Eine Arbeit, die nicht nur theoretischen Wert besaß, wie sich ein Jahr später zeigte: Im Juli 2016 war es im Nordwesten Sibiriens ungewöhnlich warm, die Temperaturen kletterten am Polarkreis auf bis zu 35 Grad Celsius. Plötzlich erkrankten Menschen an Milzbrand, einer hochansteckenden Krankheit, die seit 1941 in Sibirien als ausgerottet galt.

Milzbrand wahrscheinlich kontrollierbar – andere Effekte bald nicht mehr

Russische Experten gehen davon aus, dass Sporen des Bacillus anthracis jahrzehntelang gefroren in vergrabenen Kadavern überlebten, nun aber von den ungewöhnlich hohen Temperaturen wieder zum Leben erweckt wurden. Eine Epidemie konnte verhindert werden, weil die dünn besiedelte Region schnell abgeriegelt und mehr als 40.000 Rentiere geimpft wurden. So gelang es, den Übertragungsweg zu kappen.

Was also schlummert noch alles im Permafrost? Moritz Langer, der 2023 eine Professur in den Niederlanden angetreten hat, glaubt nicht, dass durch Viren oder andere Krankheitserreger im Permafrost neue Menschheitsprobleme entstehen. "Antrax ist in großen Rentierherden schon immer ein Problem gewesen." Notgeschlachtete Tiere habe man häufig im Permafrost vergraben.

"Es stimmt: Wenn diese Tiere auftauen, entsteht eine Gefahr. Aber normalerweise ist bekannt, wo die verseuchten Kadaver begraben sind." Das ist wahrscheinlich eine kontrollierbare Geschichte.

Anders verhält es sich mit dem sich Klimawandel: "Das Tauen des Permafrostes hört ja Ende des Jahrhunderts nicht auf." Mit unserem Tun heute würden wir entscheiden, ob die Zustände auf der Erde einigermaßen beherrschbar bleiben oder ob sich die Welt radikal verändert – und das viele Jahrhunderte lang. Moritz Langer: "Deshalb ist heute entschlossener Klimaschutz so wichtig!"