Aufwachen im Blasenland

Kann die etablierte bürgerliche Ökonomie den Charakter und die Ursachen der gegenwärtigen kapitalistischen Systemkrise begreifen?

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Die Wirtschaftswissenschaft befindet sich seit einigen Monaten in heller Aufregung. Ein anscheinend neuartiges theoretisches Konzept, das auf den Begriff der "lang anhaltenden Stagnation" (Secular Stagnation) gebracht wurde, scheint die Analyse der gegenwärtigen Krise voranzutreiben. Fast scheint es so, als hätte die Ökonomenzunft, deren Modelle und ideologische Postulate zumeist den Wahrheitsgehalt schamanischer Beschwörungsformeln aufweisen, endlich ihren Stein der Weisen gefunden, mit dem all das erklärt werden kann, was es ihrer als "Wissenschaft" verbrämten Ideologie zufolge eigentlich nicht geben dürfte (Säkulare Stagnation und Bubbles forever).

Gasförmige Bläschen im Schaum vom Traubensaft - auch ein Blasenland. Bild: Böhringer Friedrich/CC-BY-SA-2.5

Seitdem der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers bei einer Tagung des Internationalen Währungsfonds die Frage aufwarf, ob sich der Kapitalismus eventuell doch in einer langfristigen Stagnationsphase befinden könnte, scheint ein regelrechtes Tabu gefallen zu sein: Plötzlich diskutiert - zumindest im angelsächsischen Raum - die Wirtschaftspresse über das nicht mehr zu ignorierende Faktum, dass der globale Kapitalismus sich in einer schweren Strukturkrise befindet, die sich eben in einer Periode lang anhaltender Stagnation äußert.

Nicht alle applaudieren: Für das Wall Street Journal (WSJ) stellt die Idee der lang anhaltenden Stagnation schlicht "Humbug" dar. Das Konzept sei schon in den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts, während der bislang schwersten Weltwirtschaftskrise des kapitalistischen Weltsystems, ausgebrütet worden, bemerkte das erzkonservative Wirtschaftsblatt zu Recht. Die Märkte für die Verfehlungen der Politik verantwortlich zu wachen, sei "jetzt genauso wenig überzeugend wie in den 1930ern". Doch steht das WSJ mit seiner Kritik an dem Konzept der Secular Stagnation und der Wirtschaftspolitik der Regierung Obama, die für die schwache "Erholung" nach dem Kriseneinbruch 2008/09 verantwortlich gemacht wird, inzwischen weitgehend alleine dar. Führende Wirtschaftszeitungen wie die Financial Times, die Washington Post oder auch der Economist sind inzwischen durchaus bereit, sich mit der Hypothese der lang anhaltenden Stagnation offen auseinanderzusetzen und Summers ein Forum für seine Argumentation zu liefern.

"Neue Normalität"

Die Thesen, die Summers propagiert, rühren auch tatsächlich an etlichen in den "Wirtschaftswissenschaften" aufgestellten Dogmen und Tabus. Demnach befinde sich die Weltwirtschaft in einer Periode der Stagnation, die durch "stockendes" Wachstum, ein schwaches Beschäftigungsniveau und ein "problematisch niedriges Zinsniveau" geprägt seien. Dieser Zustand könne laut Summers noch über "eine ziemlich lange Zeit" anhalten. In der Financial Times sprach er gar von der Stagnation als einer "neuen Normalität".

Was Summers Argumentation aber so außergewöhnlich macht, ist das für seine Zunft neuartige Verständnis der Finanzblasen der vergangenen Jahrzehnte, wie auch der derzeitigen, sehr expansiven Geldpolitik. Summer hat es als erster prominenter Ökonom tatsächlich gewagt, die historische einmalige expansive Geldpolitik, die einer gigantischen Gelddruckerei gleichkommt, wie auch die Finanzblasen der vergangenen Jahrzehnte zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit zu erklären. Spekulationsblasen und eine lockere Kreditpolitik hätten in der vergangenen Dekade nur ausgereicht, um "moderates Wachstum" zu generieren, so Summers in einem Kommentar für die Financial Times. Ohne die Unterstützung durch "unkonventionelle Politik" (Negativzinsen und Gelddruckerei in historisch beispiellosem Ausmaß) würden die USA und die wichtigen globalen Volkswirtschaften nicht mehr in der Lage sein, "zu Vollbeschäftigung und starkem Wachstum" zurückzukehren.

In einem Interview mit der Washington Post machte Summers zudem klar, dass die "normalen selbstregulativen Eigenschaften der Wirtschaft" nicht mehr ausreichen würden, um Beschäftigung und "finanzielle Stabilität" aufrechtzuerhalten. Die ist eine kaum verhüllte Umschreibung für Marktversagen. Er stützt sich dabei auf die Idee des Ökonomen Alvin Hansen, der in den 1930ern die Idee der Secular Stagnation einführte, die aber "durch den unglaublichen Auftrieb der Nachfrage nach Konsum und Investitionsgütern" nach dem Zweiten Weltkrieg erledigt schien. Doch nun müsse man Stagnation erneut als ein "globales Problem der industrialisierten Welt" begreifen, so Summers.

Von besonderer Bedeutung seien vor allem die Spekulationsblasen gewesen, die sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem wichtigen Wachstumsmotor entwickelt hätten. Dabei wäre es angesichts ihrer Dimensionen ungewöhnlich gewesen, dass deren realwirtschaftlichen Auswirkungen so schwach ausgefallen seien:

Einer der Gründe für meine Besorgnis bestehet darin, dass wir vor der Finanzkrise, als sich die Mutter aller Blasen auf dem Immobilienmarkt entwickelte, unser Wachstum nur auf ein adäquates Niveau heben konnten, aber es war nicht genug, um irgendeine Art von Überhitzung zu erschaffen … . Stellen Sie sich die Wirtschaft zwischen 2003 und 2007 ohne die Konsequenzen der Immobilienblase und lockerer Geldpolitik vor. Die Investitionen in dem Immobiliensektor wären um zwei bis drei Prozentpunkte des BIP niedriger gewesen, und die Ausgaben für den Konsum wären ebenfalls niedriger, was zu einer sehr inadäquaten Performance geführt hätte.

Larry Summers

Im Klartext: Die größte Spekulationsblase aller Zeiten hat die US-Wirtschaft vor deren Platzen gerade mal auf Wachstumskurs gehalten; ohne deren stimulierende - und schuldenfinanzierte! - Effekte wäre die amerikanische Volkswirtschaft bereits zum Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Krise gleich nach dem Platzen der Dot-Com-Blase im Jahr 2000 versunken. Larry Summers findet sich somit unversehens im Blasenland wieder, in einer Ökonomie, die von Blasenbildung und den korrespondierenden Verschuldungsprozessen abhängig ist. Kein Wunder also, dass konservative Blätter die das Wall Street Journal so allergisch auf diese Erkenntnisse reagieren - denn sie implizieren offensichtlich, dass die herrschende "Wirtschaftsordnung" sich in einer fundamentalen Krise befindet.

Ähnlich argumentiert der bekannte US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman in der New York Times, der angesichts der gegenwärtig zusammenbrechenden Spekulationen in vielen Schwellenländern ein globales "Zeitalter der Blasen" konstatierte. In einem Blogbeitrag verfolgte Krugman die Spur dieser Blasenökonomie über die Internetaktienblase der 90er Jahre bis in die 1980er Jahre zurück, in die "späten Jahre der Reagan-Expansion". Auch Krugman tendiert inzwischen dazu, der Argumentation von Summers zuzustimmen, da es trotz Blasenbildung keine Anzeichen für eine "überhitzte Ökonomie" gegeben habe:

Wie kannst du wiederholte Blasenbildung mit einer Ökonomie in Einklang bringen, die keine Anzeichen inflationären Drucks aufweist. Summers Antwort besteht darin, dass wir uns in einer Ökonomie befinden, die Blasen benötigt, um nahezu Vollbeschäftigung zu erzeugen - dass bei fehlenden Blasen die Ökonomie einen negativen Zinsfuß aufweist. Und das war nicht nur seit der Finanzkrise von 2008 wahr; es ist wohl wahr seit den 1980ern, wenn auch mit einer zunehmenden Intensität.

Paul Krugman