Augmented-Reality-Brille soll bei Autisten Emotionserkennung verbessern

Foto: Brain Power

Gesichtern werden Emojis zugeordnet

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1911 prägte der schweizerische Psychiater Eugen Bleuler für "die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens" den Begriff "Autismus". Heute fasst das "autistische Spektrum" eine ganze Reihe von typisierten Neurobesonderheiten zusammen. Sie reichen vom häufig mit geistiger Behinderung einhergehenden Kanner- bis hin zum davon sehr unterschiedlichen Asperger-Syndrom (das manchen Beobachter eher für eine Charakterkategorie wie "Choleriker" und "Sanguiniker" halten). Gemeinsam haben Personen, die man diesem Spektrum zurechnet, dass das Erkennen von Emotionen anderer Menschen weniger automatisch abläuft als beim Durchschnitt.

Um ihnen dieses Erkennen von Emotionen und andere Alltagsaufgaben zu erleichtern, hat der Steven-Pinker-Schüler Ned Sahin zusammen mit anderen Neurowissenschaftlern und Ingenieuren am MIT und der Harvard-Universität "Empower Me" entwickelt - einen "elektronischen Lebenscoach", der aus Software für die zweite Generation der Google-Glass-Brille besteht und dessen klinische Tests nach Angaben des Erfinders so erfolgreich waren, dass er das Produkt jetzt über seine Firma Brain Power regulär anbietet.

Übungsgerät

Anders als die (auch von seinen Forschungen inspirierte) MIT-App in der Big-Bang-Theory-Episode Emotion Detection Automation soll "Empower Me" vor allem ein Übungsgerät sein, mit dem Kinder und Erwachsene spielerisch ihre Fähigkeiten zum Erkennen von Gefühlen anderer Leute verbessern, indem sie Gesichtern möglichst schnell in der Brille eingeblendeten Emojis zuordnen. Dabei gemachte Fortschritte können Nutzer, Eltern und Therapeuten auf einer Begleitapp für Mobilgeräte und auf dem Empower-Me-Webportal verfolgen.

Außer der Gefühlserkennung lassen sich auch Augenkontakt, Konversation und andere soziale Fähigkeiten üben. Für Erwachsene gibt es darüber hinaus besondere Übungsaufgaben, die ihnen ein besseres Zurechtkommen im Berufsleben versprechen. Da die Lernspiele durch die Google-Glass-Brille Körperteilen wie Händen und Augen Raum für die Kommunikation mit der Umwelt lässt, sollen die Lernerfolge daraus nicht auf eine virtuelle Welt begrenzt bleiben.

Microsoft-Patent

Sahins Worten nach soll seine Erfindung keine Therapeuten ersetzen, sondern ihnen lediglich die Arbeit erleichtern. Mit ihr können sie seiner Ansicht nach die subjektive und bürokratisch aufwendige Dokumentation von Fortschritten ihrer Patienten und Schüler objektivieren und automatisieren, was ihnen mehr Zeit zum Verrichten ihrer eigentlichen Therapieaufgaben lässt.

Die Akzeptanz der Brille, mit der sich spielen lässt, ist ihrem Entwickler nach auch bei solchen Kindern gut, die andere Brillen ablehnen, was insofern nicht überrascht, als Personen aus dem Autistischen Spektrum oft geringere Berührungsängste vor Technik als vor Menschen haben (vgl. Die Geek-Autismus-Connection).

Will Sahin seine Erfindung von einem Übungs- zu einem Alltagshilfsgerät weiterentwickeln, wird er möglicherweise auf Immaterialgüterrechtsansprüche des Microsoft-Konzerns stoßen: Der ließ sich 2015 ein Patent auf eine Augmented-Reality-Brille erteilen, die mittels einer Eye-Tracking-Engine und einer ausgelagerten Vergleichsdatenbank mit Gesten, Gesichtsausdrücken und Sprachäußerungen "in Echtzeit Körpersprache und Stimme analysiert", um damit "die emotionale Verfassung ihres Gegenübers besser einschätzen können". Dazu sollen alle mit der AR-Brille gemachten Aufnahmen gespeichert werden (vgl. Microsoft-Patent: AR-Brille HoloLens soll Emotionen erkennen).

Hirnphysiologisches Rätsel

Die hirnphysiologischen Ursachen der Besonderheiten von Personen aus dem Autistischen Spektrum sind 106 Jahre nach Bleuler Begriffsprägung immer noch umstritten (was auch darauf hindeutet, dass man hier möglicherweise Phänomene zusammenfasst, die gar nicht zusammengehören).

2014 errechnete ein Team von Neurowissenschaftlern um Roberto Fernández Galán von der Case Western Reserve University in Cleveland und Jose-Luis Pérez Velázquez von der University of Toronto mittels Magnetoenzephalografie (MEG) und der Kullback-Leibler-Divergenz (KLD) beispielsweise, dass die Gehirnaktivität bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) im Ruhezustand durchschnittlich um 42 Prozent höher liegt, als bei solchen aus einer Vergleichsgruppe.

Etwa gleichzeitig fand ein Team aus Neurowissenschaftlern am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Monterotondo, am Istituto Italiano di Tecnologia (IIT) in Rovereto und an der Universität La Sapienza in Rom mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) und Testmäusen Hinweise darauf, dass neuronale Verbindungen dauerhaft schlechter funktionieren, wenn man während einer frühen Entwicklungsphase einen zeitweisen Mangel an Mikrogliazellen herbeiführt. Daraus entstehen ihrer in Nature Neuroscience veröffentlichten Studie nach Verhaltensauffälligkeiten, die man mit Autismus in Verbindung bringt: Darunter geringe Geselligkeit und ein Hang zur Wiederholung (vgl. Rätsel Autistenhirn).