Aus Oppositionellen werden Terroristen

In der weißrussischen Hauptstadt Minsk herrscht nach dem Anschlag eine angespannte Stimmung

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Während die Menschen der 12 Toten und 187 Verletzten des Anschlags auf die Minsker Metro vom Montag gedachten, indem sie vor der Station "Oktjabrskaja" Blumen niederlegten und Kerzen anzündeten, machte in der Stadt das Gerücht über ein weiteres Attentat die Runde. Ein Bus der Linie 100 soll in die Luft gesprengt worden sein, hieß es in mehreren Internetforen, was das weißrussische Innenministerium jedoch umgehend dementierte. Kurz darauf wurde gar die Verhaftung von drei "Provokateuren" vermeldet, die mit dieser Falschmeldung Panik verursachen und die "gesellschaftlich-politische Situation in der Stadt destabilisieren" wollten, wie es in der Erklärung der Staatsanwaltschaft hieß.

Ob es sich bei dieser Falschmeldung aber tatsächlich um eine Provokation gehandelt hat oder nur um einen sehr makabren Scherz dreier gelangweilter Einwohner von Minsk, lässt sich schwer beurteilen. Fest steht aber, dass die Falschmeldung ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Schon kurz nach dem diese Anschlagsgerüchte aufkamen, haben viele Einwohner von Minsk besorgte Anrufe erhalten oder selber welche getätigt, wie in den Foren sowohl oppositioneller als auch regimetreuer Internetportale nachzulesen ist. Allein dies zeigt, wie angespannt die Situation in der weißrussischen Hauptstadt war, in der man sich bis heute eine Frage stellt: Warum wurde dieses Attentat verübt?

Verdächtiger auf dem Bild einer Überwachungskamera

Denn das einzige, was man bis Dienstag mit Gewissheit sagen konnte: Der oder die Täter wollte(n) möglichst viele Menschen töten und verletzen. Sie deponierten die Bombe nicht nur an einer Nahtstelle des Minsker Nahverkehrs, sondern ließen diese auch noch im Feierabendverkehr hochgehen. Zudem waren der Bombe Nägel und Metallkugeln beigefügt, was die vielen Verletzten mit Schnittwunden und abgerissenen Gliedmaßen erklärt. Wer die Täter waren und welche Motive sie hatten, war jedoch unbekannt.

Was es gab, waren lediglich Verdächtigungen des autoritären Regimes. "Ich hatte doch gewarnt, dass man uns nicht ruhig leben lässt. Wer steckt dahinter? Sie müssen diese Antwort so schnell wie möglich beantworten", sagte Lukaschenko am Montag während einer Sondersitzung, an der auch Vertreter des Militärs und der Sonderdienste teilnahmen. Kurz zuvor erklärte Lukaschenko während der Besichtigung des Tatorts, der sich nur wenige Meter von seinem Amtssitz befindet, dass die Drahtzieher der Tat vermutlich im Ausland zu finden sind.

Auf der Suche nach Täter und Motiv

Bekräftigt wurden diese Vermutungen durch den weißrussischen KGB, der die Anweisung Lukaschenkos, so schnell wie möglich Antworten zu liefern, befolgte. Bereits am Montagabend wurden drei Personen, die mit dem Terroranschlag in Verbindung gebracht werden, vom KGB verhaftet. Am Dienstag wiederum präsentierte der Inlandsgeheimdienst die Phantombilder von drei Verdächtigen, von denen der Hauptverdächtige ein junger Mann nichtslawischer Herkunft war, wie der KGB-Vorsitzende Vadim Saizew auf einer Pressekonferenz erklärte. Der Chef des KGB äußerte sich aber nicht nur zu den Tätern, sondern nannte auch drei mögliche Gründe für den Terroranschlag: Destabilisierung der staatlichen Ordnung, Rache extremistischer Jugendorganisationen, dabei verwies Saizew auf die Ausschreitungen am Abend der Präsidentschaftswahl am 19. Dezember (Massenproteste und Verhaftungen in Minsk), sowie die Tat einer geistig gestörten Person.

Seit dem gestrigen Mittwoch deutet jedoch einiges daraufhin, dass die "Destabilisierung der staatlichen Ordnung" von dem Regime wohl als Hauptmotiv für das Attentat genannt wird. "Heute um 5 Uhr morgens wurde dieses Verbrechen aufgedeckt. Ermittler und die Miliz brauchten nur wenige Stunden, um eine glänzende Operation durchzuführen und die Täter zu fassen. Sie haben bereits ein Geständnis abgelegt. Hauptsache, wir wissen, wer diesen Anschlag verübt hat und wie. Die Frage nach dem Warum bleibt immer noch offen. Das bleibt unsere wichtigste Aufgabe", sagte Lukaschenko während einer Beratung mit den Vertretern der Sicherheitsdienste, die vom staatlichen Fernsehen live übertragen wurde und bei der der umstrittene Präsident die Fahndung für beendet erklärte.

Die vom KGB veröffentlichten Phantombilder der Verdächtigen

Doch während sich Alexander Lukaschenko zunächst nicht zu den Hintergründen der Tat äußern wollte, wurden seine Leute deutlicher – und verwickelten sich dabei in Widersprüche. Obwohl es noch am Dienstag hieß, dass der Hauptverdächtige "nichtslawischer Herkunft" sei, erklärte Innenminister Anatolij Kuleschow am Mittwoch, dass die drei Festgenommenen, von denen zwei den Anschlag verübt haben sollen, weißrussische Staatsbürger seien und ihre Beteiligung an den 2005 und 2008 verübten Anschlägen in Witebsk und Minsk gestanden hätten.

KGB-Chef Vadim Saizew ging sogar noch weiter und behauptete, dass die Attentäter, denen die Todesstrafe durch Genickschuss droht, möglicherweise im Auftrag gehandelt hätten. Er schloss weitere Hintermänner nicht aus, obwohl Lukaschenko wenige Stunden zuvor die Fahndung für beendet erklärte hatte. Wie sich jedoch die unterschiedlichen Meldungen des von ihm geleiteten KGB erklären lassen, der die auf seiner Internetseite veröffentlichten Phantombilder noch gestern veränderte, verschwieg Saizew.

Das Regime will die Opposition mit dem Anschlag in Verbindung zu bringen

"Wir suchen nach Komplizen und Auftraggebern. Kann sein, dass diese Vertreter der so genannten fünften Kolonne Farbe bekennen und auf den Auftraggeber hinweisen", sagte Lukaschenko wenige Stunden, nachdem er die Verhaftung der Tatverdächtigen verkündet hatte, und kündigte an, auch Oppositionspolitiker verhören zu lassen:

Alle heranziehen und vernehmen - ohne Rücksicht auf irgendeine Demokratie oder das Heulen und Stöhnen der ausländischen Sympathisanten.

Lukaschenko

Ähnlich harte Töne schlug am Mittwoch bereits die Tageszeitung Respublika an. "Für die Weißrussen, die sich an Ordnung und ein friedliches Leben gewöhnt haben und sich nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischen, war der Anschlag auf die Metrostation Oktjabrskaja wie ein Blitz aus dem heiterem Himmel", schreibt die vom weißrussischen Ministerrat herausgegebene Tageszeitung, die hinter dem Anschlag "dunkle Kräfte" vermutet, die sich mit der Destabilisierung des Landes beschäftigen.

Damit würden sich die Befürchtungen der weißrussischen Opposition bestätigen. "Die werden sich jetzt bestimmt auf uns schmeißen", erklärte der Oppositionspolitiker Anatolij Labedzka gegenüber der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Und bereits die ersten Stunden nachdem Attentat ließen dies vermuten. Mehrere Stunden lang waren am Montag die oppositionellen Internetseiten Charter97.org und Belorusskij Partisan nicht abrufbar, da in den Kommentaren der User die "Ehre und Würde der Bürger und Beamten verunglimpft wurde", wie ein Vertreter der weißrussischen Generalstaatsanwaltschaft sagte. Zudem klagen die Macher von Charter97 über einen Hackerangriff auf ihre Server.

Präsident Lukaschenko auf einer Sitzung nach dem Anschlag. Bild: president.gov.by

Unerwarteten Besuch in ihren Redaktionsräumen bekamen dagegen die Journalisten der Oppositionszeitung Nascha Niva. Am Dienstag konfiszierten vier KGB-Beamte und zwei Milizionäre Videomaterial und Fotos, die Journalisten der Zeitung kurz nach dem Anschlag in der Nähe des Tatorts gemacht haben. Zu einem Gegenbesuch beim KGB wurden dagegen jene Journalisten und Internetuser eingeladen, die behaupteten, dass Lukaschenko und sein Regime für das Attentat verantwortlich sind, wie die russische Tageszeitung Kommersant gestern berichtete.

Steckt das Regime hinter dem Anschlag?

Doch welche Gründe sollte Lukaschenko haben, eine Metrostation unweit seines Amtssitzes in die Luft sprengen zu lassen? Pavel Szeremet, ehemaliger Minsk-Korrespondent des russischen Fernsehsenders ORT, der Ende der 90er Jahre vom Lukaschenko-Regime verhaftet und dem später die weißrussische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, glaubt, dass rivalisierende Gruppen innerhalb der weißrussischen Sicherheitsorgane für den Anschlag verantwortlich sind. "Diese Gruppen kämpfen um das Vertrauen Lukaschenkos, darum, wer näher an seiner Seite sitzen darf", sagte gegenüber mehreren osteuropäischen Medien der im Moskauer Exil lebende Szeremet, der die Internetseite Belorusskij Partisan betreibt.

Die meisten begründen ihre Vorwürfe jedoch mit den innen-, und außenpolitischen Problemen des Landes. So hat das Land enorme wirtschaftliche Probleme, die immer mehr auch die Bevölkerung in ihrem Alltag zu spüren bekommt. Die Nahrungsmittelpreise werden immer teurer, der weißrussische Rubel dagegen verliert immer mehr an Wert. Was dazu geführt hat, dass Hamsterkäufe in den letzten Wochen zugenommen haben. Und jene Weißrussen, die es sich leisten können, investieren ihr Geld in Fremdwährungen oder in Gold.

Verschärft hat sich die Lage durch die aktuellen Sanktionen, die die EU am 31. Januar wegen der jüngsten Repressionen gegen die Opposition (Kein Platz für Andersdenkende) beschlossen hat. Von diesen Problemen könnte Lukaschenko nun mit dem Terroranschlag ablenken und hätte gleichzeitig mit der Opposition und dem Westen einen Sündenbock. Und dass auf die weißrussische Opposition schwere Zeiten zukommen, glauben sowohl jene, die einen Machtkampf innerhalb des Regimes als auch von Lukaschenko für den Anschlag verantwortlich machen.

Bekräftigt werden diese Befürchtungen durch die jüngsten Äußerungen Lukaschenkos. "Eine Opposition soll es in unserem Land geben. In unserem Staat wird es aber keine fünfte Kolonne geben", drohte Lukaschenko am Mittwoch und vergaß dabei auch die Europäische Union nicht, die seiner Meinung nach auf den Gräbern der Terroropfer tanzt. "Das ist frevelhaft: Während unser Volk um die Opfer der Tragödie trauert, diskutieren die so genannten europäischen Partner über Menschenrechte in Belarus und erwägen neue Sanktionen, zu denen sie von der fünften Kolonne aus Belarus aufgerufen werden", sagte Lukaschenko am Mittwoch und warf den EU-Außenministern vor, am 12. April im Schatten der Tragödie über weitere Maßnahmen gegenüber Weißrussland diskutiert zu haben. "Sie sollten wenigstes abwarten, bis wir alle Verstorbenen beigesetzt haben." Doch hier irrt Lukaschenko: Bei der Sitzung der EU-Außenminister am Dienstag wurde nicht über Weißrussland diskutiert.