Aus der Krise der Planung

Urbanisierung in Europa (2010). Karte: Telepolis. Quelle: The World Factbook

Was räumliche Entwicklung heute bedeutet

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In seinem wohl bekanntesten Werk, der Parabel "The Blindmen and the Elephant", beschreibt der Dichter John Godfrey Saxe, wie sich sechs blinde Wissenschaftler aufmachen, um das wahre Wesen des Elefanten zu erforschen. Der erste rennt gegen die Flanke des Rüsseltieres und behauptet, ein Elefant sei wie eine Wand. Der zweite bekommt einen Stoßzahn zu fassen und widerspricht: Nein, er sei wie ein Speer. Wie eine Schlange, beharrt der dritte, der den Rüssel in Händen hielt. Wie ein Baumstamm, widerspricht der vierte, denn er berührt ein Bein, und so weiter und so fort: Jeder greift und begreift nur seinen Teil und macht sich daraus seinen - falschen - Reim aufs Ganze.

Unter just dieses Stichwort lässt sich möglicherweise auch das hierzulande z. T. noch vorherrschende (Raum)Planungsverständnis subsummieren. Zunehmend stellt eine überwiegend städtisch geprägte Gesellschaft die empirische Realität Deutschlands dar, die indes in der kollektiven Mentalität noch nicht verankert zu sein scheint.

Die Bundesrepublik ist ein städtereiches Land mit einer ausgesprochen dezentral ausgeprägten Siedlungsstruktur. Das städtische Siedlungssystem bildet ein eng vernetztes polyzentrisches Gefüge von Städten und ihren Einzugsbereichen. In den vom BBSR auf der Basis von Dichtemerkmalen und Pendlerverflechtungen abgegrenzten Großstadtregionen leben und arbeiten rund drei Viertel der Bevölkerung und werden mehr als drei Viertel des Bruttoinlandprodukts (BIP) erwirtschaftet. Damit weisen die Großstadtregionen eine überragende gesamträumliche Bedeutung auf.

Die für Raumentwicklung zuständigen (bzw. sich zuständig fühlenden) Fachdisziplinen tun sich allerdings schwer, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Augenscheinlich rührt dies an tief verwurzelten Mentalitäten - Mentalitäten übrigens, die selbst in unserem Rechtssystem insofern einen Widerschein finden, als für kreisfreie Städte und Großstädte nur wenige Sonderrechte gegenüber den "Gemeinden" verblieben sind, obgleich ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung einen anderen Status nahelegen müsste. "Die Städte sind rechtlich zu Gemeinden unter anderen Gemeinden abgestiegen, die Dorfgemeinden erlangten die prinzipiell gleiche kommunale Selbstverwaltung."1

Unser Verständnis von Raumentwicklung und die sie strukturierenden Leitgedanken haben, soziopsychologisch und -kulturell gesehen, sehr viel mit der tradierten Einstellung gegenüber der Großstadt zu tun. Im westli­chen Kulturkreis ist das Denken (und auch das Empfinden) gegenüber der Urbanisierung stets zwiespältig gewesen: Auf der einen Seite hat man die Stadt im moralischen Sinne als Inkarnation alles Bösen gese­hen oder, um bei der Begriffsbildung des amerikanischen Soziologen Louis Wirth zu bleiben, als anonym und entfremdend, den elementaren Zusammenhang der Sozialgruppe auflösend und die Persönlichkeit des einzelnen zersetzend.2 Auch in den USA war eben jenes Ressentiment gegenüber der Metropole eine fast kulturimma­nente Erscheinung.

Die von Thomas Jefferson im Jahre 1787 recht drastisch zum Ausdruck gebrachten Vorbehalte - "Wenn wir aufeinandergehäuft werden in großen Städten wie in Europa, werden wir korrupt werden wie in Europa und werden beginnen, einander aufzufressen, wie sie es dort tun" - charakterisiert eine Grundhaltung, die sich heute keineswegs um 180 Grad gedreht hat.

Die andere Seite dieses ambivalenten Verhaltens gegenüber dem Phänomen "Stadt" offenbart sich in der - beispielsweise von Lewis Mumford vertretenen - Werthaltung, dass Städte die bedeutend­sten Schöpfungen der Menschheit seien, die in ihrer Erscheinungsform alle menschlichen Lei­stungen darstellen und damit das menschliche Erbe verewigen. Es treffen und mischen sich in der Stadt verschiedene Kulturkreise und Traditionen, wobei aus diesem Gemisch und der ge­genseitigen Befruchtung letztlich Innovationen entstehen. Neue Ideen und neues technologi­sches Wissen werden von der Stadt aus verbreitet und gelangen in alle gesellschaftlichen Sektoren und Raumbereiche. Technisches Leistungsvermögen und philosophische Erneuerung seien nicht der konservativen, sich nur mählich ändernden Tradition des Landes verhaftet, sondern der schöpferischen Unruhe der Stadt.

Es liegt auf der Hand, dass jede der beiden Einstellungen - bei Umsetzung in Politik und Planung - unterschiedliche, ja gegen­sätzliche Konsequenzen nach sich zieht. Und die Geschichte der die Raumentwicklung analysierenden und -gestaltenden Disziplin(en) hat diese Trennung quasi institutionalisiert: Raumordnung einerseits, Stadtentwicklung andererseits. Nun liegt die Wahrheit jedoch nicht immer in einem der beiden Extreme. Und es ist auch wenig produktiv, die Schlachten der Vergangenheit erneut zu schlagen - ob also eher der Gesamtraum oder ausgewählte (punktuelle) Ausschnitte prioritärer Gegenstand der Raumanalyse und -planung sein sollen. Wessen man sich indes bewusst sein sollte, das ist die Dichotomie zwischen Stadt und Land, die, implizit und nach wie vor, die mentale Grundhaltung namentlich in Deutschland prägt. Und genau hier gilt es anzusetzen.

Territorium und Großstadt

So zeigt etwa Gerd Held, dass man diese Dichotomie auch fruchtbar machen kann, indem er sie in ein dialektisches Verhältnis stellt. Seine Ausgangsthese lautet, dass die Offenheit und strategische Reichweite einer Gesellschaft wesentlich von der Art und Weise ihrer räumlichen Strukturierung bestimmt wird - und eines entsprechenden Bewusstseins davon. Allerdings liege es damit schon im Argen. Werde doch heute weithin ignoriert, dass Ordnungsprobleme eines Staatswesens und einer Volkswirtschaft eine inhärente Verknüpfung mit dem Raum aufweisen. Mit Ausnahme der Verkehrsentwicklung scheinen die grundlegenden Fragen der Zeit mit der Sphäre des Planens und Bauens nicht viel anfangen zu können. Indem heute vornehmlich "Nutzungen" ins Visier genommen und auf "Projekte" gesetzt werde, sei der Blick auf die Relevanz von Raumstrukturen von vornherein verstellt. Die Planung wurde damit quasi enträumlicht, und diesen Raum gilt es wiederzugewinnen - eben auf der Basis realistischer Einsichten in die Raumentwicklung.

Im Ergebnis glaubt Held zwei unterschiedliche Gehalte von Räumlichkeit identifizieren zu können: Territorium einerseits und Großstadt andererseits. Erstere würden gebildet nach dem Prinzip des Ausgleichs - und der Abstraktion von Besonderheiten. Die Abgrenzung eines Binnenraums eröffne die Möglichkeit einer relativen Homogenisierung. Allerdings führe die konsequente Verfolgung eines solchen Prinzips innerhalb einer Gebietseinheit nahezu zwangsläufig zu Disparitäten im Außenverhältnis zu anderen, benachbarten Einheiten. Im wörtlichen Sinne herausragend (ob nach oben oder unten) seien allein die Großstädte: "Städte und Agglomerationen brechen die Homogenisierungen immer wieder auf, die der Territorialstaat ebenso beharrlich immer wieder zu formieren sucht."3

Steht auf der einen Seite also der Versuch, "staatliche Standards" in der Fläche gleichmäßig zu verankern, so kennt auf der anderen Seite "die Stadt im Prinzip keine Grenze als Trennungsmechanismus. Sie ist im Wesen offen. Sie bezieht ihre Stabilität aus dem Mechanismus der relativen Dichte, die die Elemente in einen besonderen Zustand gegenseitiger Haftung und Übertragung versetzt."4 Und für die Gesellschaft muss man konstatieren, dass es sowohl übergreifende ‚abstrakte‘ als auch spezifische "konkrete" Problemstellungen gibt.

Wenn es nun aber in der Gesellschaft stets beides gibt, sowohl übergreifende ‚abstrakte‘ als auch spezifische "konkrete" Problemstellungen: Korrelieren diese widersprüchlichen Aspekte mit den verschiedenen Raumkategorien?

Das Territorium arbeitet institutionell mit Ausschluß, technisch mit Isolierungen und Plattform-Abhebungen wie bei der Eisenbahn. Die Großstadt arbeitet institutionell mit Einschluß, technisch mit Aufschließungs- und Durchdringungstechniken wie bei der Infrastruktur für Wasser und Energie. Das Thema des Territoriums ist die reduzierende Aggregatbildung. Das Thema der Großstadt ist die (selektive) Einflußverstärkung. […] So bedeutet die räumliche Differenzierung der Moderne erst - beim Territorium - ein ‚Weniger‘, und dann - bei der Großstadt - ein "Mehr".

Gerd Held

Die scheinbare Einheit des "Raums" werde zwar in zwei entgegengesetzte Mechanismen und Logiken aufgeteilt, doch gerade diese Trennung führe zu einer gegenseitigen Profilierung und Steigerung.

Daraus nun indes den Schluss zu ziehen, Stadt und Raum gleichermaßen und gleichgewichtig "zu entwickeln", gleichsam eine "friedliche Koexistenz" zu führen wie in der Vergangenheit, in der sich Raumordnung und Stadtentwicklung als weitgehend getrennte Sphären - und jeweils geprägt von eigenen Experten - allenfalls freundlich-distanziert begegneten: Dies wäre vollkommen inadäquat. Vielmehr scheint es angezeigt, Stadt- und Raumentwicklung nicht mehr analytisch zu trennen und gegeneinander auszuspielen, sondern als ein Ganzes zu begreifen und die Wechselwirkungen zwischen alten und neuen Formen von Urbanität zu betrachten.

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