Ausgelagert!
Die deutsche Wirtschaft setzt auf Fremdvergabe - und die Beschäftigungsverhältnisse werden immer prekärer
Die Zeiten, da Arbeitnehmer mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnten, im Rahmen unbefristeter Beschäftigungsverhältnisse einen wenigstens auskömmlichen Lebensunterhalt zu verdienen, sind noch nicht vorbei. Aber die Chancen, einen solchen Job tatsächlich zu bekommen, sinken von Jahr zu Jahr.
Eine aktuelle Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen kommt zu dem Schluss, dass im Jahr 2009 fast 3,6 Millionen Beschäftigte in Deutschland mit einem Stundenlohn von weniger als 7 Euro brutto auskommen mussten. Über 1,2 Millionen erhielten weniger als 5 Euro.
Selbst bei einer Vollzeitbeschäftigung liegt das monatliche Erwerbseinkommen bei solchen Stundenlöhnen nur bei rund 800 Euro oder sogar darunter, was selbst bei Alleinstehenden nicht zum Leben reicht.
Claudia Weinkopf, Stellvertretende IAQ-Direktorin
Die Zahl der Arbeitnehmer, die weniger als 8,50 Euro bekamen, und damit unter dem von Gewerkschaften und Oppositionsparteien geforderten Mindestlohn bezahlt wurden, beziffert das Institut auf knapp 5,8 Millionen. Das waren 18,3 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland. Schüler, Studierende und Rentner wurden in der Statistik nicht einmal berücksichtigt, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.
Denn die berühmte Friseurin, die tief im Osten ihr schlechtbezahltes Dasein fristet und in vielen Diskussionen als Modellfall fungiert, lebt mittlerweile auch im Westteil der Republik. Schleswig-Holstein ist nach den jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit mittlerweile Billiglohn-Land Nr.1. Mit 27 Prozent sind mehr als ein Viertel aller Arbeitnehmer bereits im Niedriglohnsektor beschäftigt.
Die benachbarten Länder Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern folgen mit 25,2 Prozent beziehungsweise 23,8 Prozent allerdings auf den Plätzen zwei und drei – und selbst das vermeintliche Wirtschaftswunderland Bayern kommt in dieser Statistik auf 20,6 Prozent.
Zahlreiche Wissenschaftler bezweifeln, dass der Vorstoß der CDU in Sachen Mindestlohn (Tariflich vereinbarte Billiglöhne), bei dem eine Einigung mit dem Koalitionspartner ohnehin noch aussteht, die Situation grundlegend verbessern kann. Zwar geht auch das IAQ davon aus, dass von einer verbindlichen Lohnuntergrenze im Idealfall "mehrere Millionen Beschäftigte" profitieren könnten. Da die Initiative aber nur für die Branchen gelten soll, in denen es keine Tarifverträge gibt, "würden viele der gering bezahlten Beschäftigten leer ausgehen".
Und auch im tariffreien Bereich gibt es Fluchtwege für die Geringzahler unter den Arbeitgebern. Sie könnten sich mit diversen Splittergewerkschaften auf Vertragsabschlüsse einigen, die deutlich unter einer Mindestlohnregelung liegen.
Um Niedrigstlöhne in Deutschland wirksam zu unterbinden, müsste eine Lohnuntergrenze für alle Beschäftigten verbindlich sein. Diese dürfte in keiner Branche unterschritten werden. Den Tarifvertragsparteien stünde es jedoch weiterhin frei, höhere Tariflöhne zu vereinbaren, die über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch als branchenbezogene Mindestlöhne für allgemeinverbindlich erklärt werden können.
Claudia Weinkopf, Stellvertretende IAQ-Direktorin
Die "explizite Fremdvergabebedrohung"
Die Callcenter-Branche bietet sich für die CDU-Pläne und deren praktischen Erfolg oder Misserfolg derzeit als Testgelände an. Der Soziologe Hajo Holst von der Universität Jena, der an der Universität Osnabrück derzeit eine Professur für International vergleichende Gesellschaftslehre vertritt, hat die Entwicklung dieses Dienstleistungssektors über zwei Jahrzehnte analysiert und dabei gravierende Veränderungen festgestellt.
Nur jedes achte Callcenter agiert heute im Rahmen eines Flächentarifvertrags. Die anderen aber sind nach Einschätzung von Holst "zum Referenzpunkt der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im gesamten Wirtschaftszweig" geworden. Zwischen 1990 und 1995 waren Callcenter dagegen noch integrale Bestandteile eines Großunternehmens (Deutsche Bundespost, Neckermann, Quelle, Otto) mit Angestellten- oder Einzelhandelstarifen. Nur das Randgeschäft wurde ausgelagert, doch schon in der zweiten Hälfte der 90er Jahre verschoben sich die Verhältnisse. Neben den etablierten Callcentern der großen Firmen wuchs "ein schnell wachsender Rand nicht regulierter Arbeitsverhältnisse mit einem hohen Prekaritätsrisiko", so Holst.
Bemühungen, den Telekom-Tarifvertrag auf die gesamte Telekommunikationsbranche auszudehnen, scheiterten. Im Ergebnis gab es nun interne Telekom-Callcenter, die 20 Mark pro Stunde zahlten - und externe Anbieter, deren Beschäftigte 12 Mark oder noch weniger verdienten. Ähnlich verlief die Entwicklung im Versandhandel.
"Böckler Impuls" zur Holst-Studie
Ab 2003 wuchs die Branche dann zu einem eigenständigen, mehrheitlich nicht mehr tarifgebundenen Wirtschaftszweig zusammen. Acht Jahre später vermittelt eine Umfrage der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ein ernüchterndes Bild der einstigen Boom-Branche. 83 Prozent der Teilnehmer beschweren sich über "schlechte Arbeitsbedingungen", rund 88 Prozent vermissen Anerkennung für ihre Arbeit, etwa 78 Prozent fühlen sich "leer und ausgebrannt".
Schließlich halten 75,9 Prozent ihre Entlohnung für nicht angemessen. Kein Wunder, liegt die Bezahlung mancherorts doch bei zwei bis drei Euro unter dem viel diskutierten Mindestlohn von 8,50 Euro. Nicht wenige der insgesamt 500.000 Beschäftigten benötigen deshalb einen Zweitjob oder eine "Aufstockung".
Wer jetzt noch in einer nicht ausgelagerten Unternehmenszentrale arbeitet, hat nur scheinbar gute Karten, meint Hajo Holst. Denn die Tariftreuen seien permanent mit einer "latenten und nicht selten sogar expliziten Fremdvergabebedrohung" konfrontiert.
Immerhin hat sich der Call Center Verband Deutschland e.V. vor wenigen Tagen zur Gründung eines Arbeitgeber-Zweckverbandes entschlossen, um einen allgemeinverbindlichen, tarifvertraglichen Mindestlohn einzuführen. Selbst wenn der Vorstoß Erfolg hat, bleibt allerdings zu bedenken, dass der Verband nur etwa ein Drittel aller Call Center Arbeitsplätze repräsentiert.
Die Deutsche Bank, die Postbank und die Blaupause
Outsourcing heißt eines der Zauberwörter des Spätkapitalismus, das längst lexikalische Relevanz erreicht hat:
Verlagerung von Wertschöpfungsaktivitäten des Unternehmens auf Zulieferer. Outsourcing stellt eine Verkürzung der Wertschöpfungskette bzw. der Leistungstiefe des Unternehmens dar. (...) Outsourcing von Dienstleistungen (z.B. Datenverarbeitung), aber auch der Teileproduktion oder ganzer Komponenten in der Industrie und damit die kostenorientierte Verkürzung der Wertschöpfungstiefe, hat strategisch in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen.
Gabler Wirtschaftslexikon
Auch in kirchlichen oder sozialen Einrichtungen hat sich das mittlerweile herumgesprochen. Wirtschaft und Politik berücksichtigen die Möglichkeit einer "kostenorientierte Verkürzung der Wertschöpfungstiefe" allerdings schon in den frühen Planungsphasen, so etwa bei der von der EU anvisierten Liberalisierung der Bodenverkehrsdienste europäischer Flughäfen, gegen die sich fraktionsübergreifender Widerstand formiert.
Der Betriebsrat des Frankfurter Flughafenbetreibers geht davon aus, dass im Falle der Umsetzung 4.000 bis 6.000 Beschäftigungsverhältnisse ausgelagert und zu schlechteren Bedingungen in Subunternehmen fortgesetzt werden sollen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Postbank, die Ende 2010 endgültig von der Deutschen Bank übernommen wurde, können sich ganz konkret vorstellen, wie eine solche Situation aussehen würde. 1.500 der insgesamt rund 20.000 Beschäftigten, vornehmlich aus den Bereichen Kreditgeschäft und Call-Center, sollen in neue Gesellschaften ausgelagert werden. Mit dem neuen Arbeitgeber, so wurde bereits im Sommer vermutet, ändern sich die Rahmenbedingungen im Eiltempo zum Nachteil der Beschäftigten.
Neben der Streichung des 13. und 14. Monatsgehalts denken die Auslagerungs-Experten der Deutschen Bank offenbar über die Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit um rund drei Stunden, eine drastische Kürzung der Gehälter und die Streichung von Urlaubstagen nach. Überflüssig zu erwähnen, dass die Mitarbeiter der neuen GmbH damit auch aus laufenden Tarifverträgen herausmanövriert werden.
So ähnlich hatte sich das der Drogeriekonzern Schlecker auch schon einmal vorgestellt. Die Gewerkschaft ver.di operiert deshalb bereits mit dem Begriff "Banken-Schlecker" und mobilisierte nach eigenen Angaben Anfang November 5.000 Postbank-Beschäftigte, die sich an Warnstreiks und anderen Protestaktionen beteiligten.
Trotzdem geht es offenkundig nicht nur um spezifische Unternehmenssegmente, die Gegenstand eines branchentypischen Arbeitskampfes werden. "Das, was hier jetzt geplant ist, in Hameln, in Köln, in Hessen, das ist die Blaupause auch für andere Bereiche des Konzerns", meinte ver.di-Chef Frank Bsirske.
Die Ereignisse der letzten Jahre weisen allerdings darauf hin, dass die Postbank kein Sonder-, kein Einzel-, kein Präzedenz-, sondern lediglich ein besonders prominenter Fall ist. Weitere werden folgen, vollziehen sich zeitgleich oder sind schon abgewickelt. Unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit, weil auch die Gewerkschaften ihre Gegner nach Gesichtspunkten der Aufmerksamkeitsökonomie sortieren. Die Blaupause wurde nicht erst 2011 und vielleicht noch nicht einmal von der Deutschen Bank erfunden.