Ausgetrickst – nun heißt es in Sachen Schulden Farbe bekennen
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss es eine Diskussion über die Schuldenbremse geben. Warum Schluss sein muss mit fiskalischen Tricks. Ein Kommentar.
Wenn etwas diese Regierung mindestens so sehr auszeichnet wie ihre vier Vorgänger unter Angela Merkel, dann ist es der Versuch, bei allen wichtigen und strittigen Themen niemals eine sachlich fundierte Meinung zu vertreten. Man wendet lieber jeden, auch den billigsten Taschenspielertrick an, um diskussionslos über die Runden zu kommen. Bloß keine inhaltlichen Auseinandersetzungen führen, sondern so tun, als sei immer alles unter Kontrolle.
Klassisch war der Fall des Jahres 2020, als das deutsche Bundesverfassungsgericht der EZB vorschreiben wollte, wie sie die europäische Geldpolitik zu gestalten habe. Niemand in der Regierung hatte eine Meinung dazu und schließlich hielt man die ganze Sache so lange unter der Decke, bis sie einfach vergessen war.
Hätte man damals vonseiten der Regierung klar gesagt, dass auch Verfassungsrichter komplett danebenliegen können, man würde sich heute leichter tun, wo das Verfassungsgericht gerade wieder einmal zeigt, dass es in Bezug auf wirtschaftliche Fragen eine bedenklich große Leerstelle hat.
Klassisch auch der Fall des Jahres 2021, den jetzt das Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte. Statt die Milliarden, die man für den Klimaschutz benötigte, offen als Mittel zu deklarieren, die in einer Notsituation unabdingbar sind, um Deutschlands Klimaziele zu erreichen, machte man lieber einen fadenscheinigen Haushaltstrick, indem man die Coronagelder einfach zu Klimageldern "umwidmete".
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Mit seiner Entscheidung, die Umwidmung der Gelder aus dem Coronafonds in einen Klimafonds für verfassungswidrig zu erklären, bringt das Gericht die Regierung in eine Lage, in der die ohne neue Tricksereien großes wirtschaftliches Unheil anrichten wird.
Man wird aus allen Ecken Geld zusammenkratzen, um die eingegangenen Verpflichtungen des Klimafonds zu erfüllen, aber das Ergebnis wird sein, dass die Fiskalpolitik noch weit stärker, als es bisher schon der Fall war, der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Schaden zufügen wird, weil die übrigen staatlichen Ausgaben sinken. Dabei dürfte, wie immer, das Zusammenstreichen des Sozialhaushalts an vorderster Front stehen.
Die Regierung hat selbst Schuld
Letztlich hat sie sich das selbst zuzuschreiben. Wer ständig die Schuldenbremse verteidigt (so Lindner gerade im Spiegel), kann jetzt nicht einmal sagen, dass das Urteil große Probleme und womöglich sogar unüberwindliche Probleme mit sich bringen wird. Lindner hat der Schuldenbremse ja sogar gegen jede Vernunft eine "höhere Weisheit" attestiert und von leichter Hand verneint, dass die Einhaltung der Schuldenbremse der Wirtschaft schadet.
Von Beginn an hätte diese Regierung mutig in die Auseinandersetzung um die Schuldenbremse gehen und der Bevölkerung erklärten sollen, welch gravierende Folgen die Anwendung der Schuldenbremse nach sich zieht. Man täte sich heute viel leichter, der Bevölkerung nahezubringen, dass es so nicht geht. Auch hätte man offen sagen sollen, welchen Bärendienst sich die deutsche Politik selbst angetan hat, als sie nach der Finanzkrise von 2008/2009 ohne sachlichen Grund, aber in blanker Panik die Bremse quasi über Nacht in die Verfassung schrieb.
Das Schlimmste ist jedoch, dass sich auch diese Regierung jeder Diskussion in der Öffentlichkeit und in Europa darüber verweigert, wie eng die deutschen Überschüsse in der Leistungsbilanz mit den zwischenzeitlichen "Erfolgen" bei der Konsolidierung des Staatshaushaltes zusammenhängen.
Nur weil Deutschland seit 20 Jahren durchgängig extrem hohe Überschüsse in der Leistungsbilanz aufwies, konnte es im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern in der Währungsunion seine staatlichen Defizite in engen Grenzen halten.
In einer Welt, in der der gesamte Privatsektor per Saldo Einnahmeüberschüsse aufweist, also spart, kann der Staat nur dann auf Defizite verzichten, wenn das Ausland hohe Einnahmedefizite akzeptiert. Damit verstößt Deutschland – ebenso wie die Niederlande (und übrigens weitere EU-Staaten) – zwar permanent gegen die in der EWU gemeinsam beschlossenen Regeln, kann sich darüber aber großzügig hinwegsetzen, weil die EU-Kommission ihrer Aufgabe als Hüterin der Verträge nicht nachkommt.
Insofern ist es vielleicht ganz gut, dass das Verfassungsgericht den Haushaltstricksereien einen Riegel vorschiebt. Man wird merken, dass die Schuldenbremse in einer Situation, in der die Wirtschaft in großen Schwierigkeiten steckt, aber noch keine nationale Notlage zu konstatieren ist, den Staat in seiner Handlungsfähigkeit ohne jeden Grund einschränkt.
Tritt die Notsituation schließlich ein, weil der Staat eine Wirtschaft, die von der Geldpolitik in eine Rezession gedrückt wird, nicht stabilisieren kann, wird der Schaden gewaltig sein. Der Staat leidet dann nicht nur unter seiner Unfähigkeit, Krisen rechtzeitig zu erkennen, er muss auch noch warten, bis eine wirkliche Notlage eingetreten ist, bevor er überhaupt zur Tat schreiten kann.
Die Regierung ist dann wie eine Feuerwehr, die mit dem Löschen warten muss, bis das Haus vollständig abgebrannt ist, weil der Schaden sonst nicht groß genug sein könnte, um ihr Einschreiten zu rechtfertigen.
Eine Regierung, die intellektuell auf der Höhe der Zeit ist, darf sich von einer inhaltlichen Diskussion auch durch Lobbyisten und neoklassisch ausgerichtete Ökonomen nicht beirren lassen. Es ist abenteuerlich, aber in Deutschland wissen selbst die Arbeitgeber so wenig von Wirtschaft, dass sie den Staat implizit davor warnen, die Gewinne der Unternehmen zu erhöhen.
So hat sich der Präsident der Arbeitgeberverbände nicht entblödet, die Politik vor dem "Marsch in den Schuldenstaat" zu warnen und die Einhaltung der Schuldenbremse anzumahnen. Hätte er nur den Hauch einer Idee von den Zusammenhängen in der Gesamtwirtschaft, wüsste er, dass das nichts anderes bedeutet, als den Staat aufzufordern, den Unternehmen bloß keine Gewinne zukommen zu lassen.
Ein Gericht darf unwissend sein, eine Regierung darf es nicht
Das Gericht hat nur die Artikel des Grundgesetzes, die seine Entscheidung leiten. Ob die Artikel eine innere Weisheit haben, entzieht sich der Kenntnis des Gerichts. Eine Regierung darf sich nicht einfach dumm stellen, weil sie einen viel weiteren Auftrag von den Bürgern hat.
Gesetzesänderungen sind das alltägliche Geschäft der Regierung. Sie darf auch vor Änderungen des Grundgesetzes nicht zurückschrecken, wenn sich herausstellt, dass ein einst von einer Vorgängerregierung eingeschobener Artikel, der keineswegs konstitutiv für die deutsche Verfassung ist, großen Schaden anzurichten vermag.
In diesem Sinne muss die Schuldenbremse viel stärker auch von der Regierung in der öffentlichen Diskussion infrage gestellt werden. Nur wenn breite Aufklärung über die relevanten Zusammenhänge betrieben wird, kann man früher oder später eine ausreichende parlamentarische Mehrheit dafür gewinnen, diesen unsinnigen Artikel wieder aus dem Grundgesetz herauszunehmen.
Wer sich dumm stellt und glaubt, er müsse seiner Klientel vorgaukeln, es sei nur eine Frage des politischen Willens, wie viele Kredite der Staat aufnimmt, gehört einfach nicht in eine Regierung.
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