Außenpolitisch kreativ gegen Bush
Syrien mit verbesserter wirtschaftlicher und politischer Schlagkraft, aber weiter ohne Zivilgesellschaft: Bilanz einer Dekade unter Bashar al-Assad
Vor zehn Jahren trat Bashar al-Assad die Nachfolge seines Vaters Hafez al-Assad als Syriens Präsident an. In dem Staat, der von George W. Bush in die „Achse des Bösen“ eingereiht wurde, tat sich seither viel. Und zugleich herzlich wenig.
Der 17. Juli 2000 war für Syrien ein mehrfach denkwürdiger Tag: Erstmals in der Geschichte der Republik wurde die Verfassung geändert, damit der damals 34-jährige Bashar al-Assad, als Präsident vereidigt werden konnte (gesetzlich vorgesehen war ein Mindestalter von 40 Jahren). Auch der Umstand, dass die Regentschaft vom verstorbenen Vater, Hafez, auf den Sohn überging, war ein Präzendenzfall – in der gesamten arabischen Region.
Dennoch schien der Anfang verheissungsvoll. In seiner Antrittsrede verkündete der junge schlacksige Mann, dessen Lebensplanung eigentlich eine Karriere als Augenarzt vorsah, es sei Zeit für „kreatives Denken“ und „Transparenz“.
Für Transparenz sorgte er denn auch – und zwar für die eigene. So begann er, jene „alte Garde“, die drei Jahrzehnte lang mit seinem Vater das Land gelenkt hatte, durch Verwandte wie seinen Bruder Maher, seinen Schwager Assef Shaukat oder seinen Cousin Rami Makhlouf zu ersetzen. Die Eckpfeiler des alten Assadregimes brachen indes reihenweise weg: Innenminister Ghazi Kanaan (siehe Paukenschlag vor UN-Bericht) beging 2005 (offiziellen Meldungen zufolge) Selbstmord, ex-Vize Abd al-Halim Khaddam schloss sich gar den opponierenden Muslimbrüdern an und lebt heute, ebenso wie diese, im Exil. Die systematische Ausdünnung der alten Machtbasen sicherte dem unerfahrenen Bashar, der erst nach dem Unfalltod seines älteren Bruders zum „Thronfolger“ ernannt wurde, letztlich alle Kontrollmechanismen.
Innenpolitische Transparenz, aussenpolitische Kreativität
Auch aussenpolitisch überraschte der Newcomer. Statt sich dem ab dem 11. September 2001 einsetzenden Druck der USA zu beugen, spielte er scheinbar ungerührt exakt die Karten, vor denen ihn George W. Bush unter Androhung von „regime change“ warnte: sunnitische Gruppierungen im Irak, die Hisbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen.
Mit ihnen hielt und hält al-Assad die USA wie Israel auf Trab und wird dabei von dem Staat unterstützt, der der „internationalen Gemeinschaft“ der grösste Dorn im Auge ist und der erst durch die von den USA im Irak ausgelösten Zentrifugalkräfte so recht zur Regionalmacht erstarkte: Iran. Die enge Beziehung zu Iran verschaffte Syrien auch im Westen insofern Gewicht, als seine Rolle als potentieller Vermittler immer deutlicher wurde. Parallel bekam Israels Krieg gegen die Hisbollah 2006 letzterer ausgesprochen gut: ihr bewaffneter Arm, bestehend aus einigen Tausend Kämpfern, demütigte das scheinbar unbesiegbare High-Tech-Israel. Dies hinterließ nicht nur dort, sondern auch im eigenen Land Eindruck: Seit den Wahlen 2009 ist das libanesische Parlament nicht beschlusssfähig ohne die „Partei Gottes“.
Und auch insofern kann sich al-Assad auf die Schulter klopfen: die UN-Kommission, die den Mord an Libanons ex-Premier Rafik al-Hariri 2005 untersucht und jahrelang das syrische Regime im Visier hatte, begann sich im vergangenen Jahr der Hisbollah zuzuwenden. Damaskus scheint aus der Schusslinie.
Neue Netzwerke
Erste Anzeichen für die Rückkehr al-Assads auf die internationale Bühne gab es bereits 2008, als der von der Bush-Administration übergangene Präsident von Nicholas Sarkozy gemeinsam mit 43 weiteren Staatsführern zum Gründungsgipfel der Mittelmeerunion nach Paris eingeladen wurde.
Ein Jahr zuvor hatte al-Assad indirekte Friedensverhandlungen mit Israel aufgenommen, die freilich – in Ermangelung von dessen Intention, die 1967 annektierten Golanhöhen zu räumen – getrost als Geplänkel zu werten sind. Auf dem politischen Parkett macht es sich dennoch gut und so haben sich letztlich auch die Beziehungen zu den USA unter Obama zumindest erwärmt. Das Misstrauen bleibt jedoch, auf beiden Seiten: Washingtons Entscheidung, nach fünfjähriger Eiszeit wieder einen Botschafter zu entsenden, wurde vom US-Kongress noch nicht abgesegnet und Syrien stattdessen neuerlich mit wirtschaftlichen Sanktionen belegt.
Für eine Verbesserung seiner politischen wie wirtschaftlichen Schlagkräftigkeit sorgt al-Assad daher an anderer Stelle, allen voran in der Türkei. Nach der gegenseitigen Aufhebung der Visumspflicht starteten beide Länder eine umfangreiche Zusammenarbeit in militärischen Bereichen und bei Transportinvestitionen; es gab eine Erhöhung des Handelsvolumen, eine Erleichterung der Zollregelungen und gemeinsame Bauprojekte, zu denen unter anderem, nach der Entdeckung zahlreicher Gasvorkommen in Syrien, ein gemeinsames Gasnetzwerk zählt.
Des weiteren begab sich al-Assad kurz vor seinem Amtsjubiläum auf seine erste Rundreise durch Lateinamerika. Während er mit Argentiniens Präsidentin Cristina Fernandenz de Kirchner gegenseitige Rückenstärkung demonstrierte – de Kirchner bekräftigte Syriens Anspruch auf die Golanhöhen, al-Assad vice versa Argentiniens Anspruch auf die Falkland-Inseln -, erreichte er in Venezuela ein 100 Millionen-Dollar-Handelsabkommen und in Brasilien die Übereinkunft für eine Freihandelszone.
In dem unter Dürre und schrumpfenden Öleinnahmen leidenden Land gleicht dies freilich dem Tropfen auf dem heissen Stein, zumal seine Bevölkerung wächst und zunehmend verarmt.
Zivilgesellschaft am Boden
Um deren Wohlergehen zeigt sich der junge Präsident, von dem es heisst, er hätte in seiner Jugend mit seinen Schulfreunden unkompliziert auf dem Boden geschlafen und nie viel Aufhebens um seine Herkunft gemacht, indes wenig besorgt. Die Kluft zwischen einer oligarchischen Minderheit und dem Rest der 19 Millionen Einwohner wächst. Die Korruption wuchert - unter 180 von der Nichtregierungsorganisation Transparency International beobachteten Staaten, rangiert das Land aktuell an 126. Stelle und wird unter arabischen Ländern nur noch von Mauretanien geschlagen. Die Zivilgesellschaft ist nonexistent.
So herrscht denn gerade diesbezüglich sehr viel Transparenz in Syrien – beim Regime. Dessen Geheimdienst gehört zu den mächtigsten in der Region. Zwar verschwinden Oppositionelle nicht mehr, sondern landen vor Gericht, um erst anschliessend zu verschwinden – jedoch zumindest in bekannte Gefängnisse, auf bestimmte Zeit. Ebenso müssen sie keine Folter mehr fürchten. Viel mehr ist indes nicht klar, vor allem nicht die Zahl der politisch Inhaftierten, die in Ermangelung offizieller Auskünfte auf über 3 000 geschätzt wird.
Im Visier stehen vor allem Kurden und Islamisten. Dissidenten wie Anwar al-Bunni und Muhannad al-Hasani wurden aufgrund der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ zu fünf, respektive drei Jahren verurteilt und auch vor dem altersgeschwächten 78-jährigen Haitham al-Maleh schreckte man nicht zurück. Aus der Haft Entlassene wie Michel Kilo, Yassin al-Hajj Saleh oder der mehrfach inhaftierte Riad al-Seif zeigen sich politisch distanziert. Versammlungen von mehr als sieben Personen sind untersagt. Der Titel des just zum 10-jährigen Amtsjubiläum von Human Rights Watch veröffentlichten Berichts zur Menschenrechtslage trifft es daher sehr deutlich: "Eine vergeudete Dekade".