Autoritäre Corona-Dauerwelle: Akzeptanz und Alternativen

Seite 2: Wie Ex-Linke für den starken Staat werben

Andere (ex-)linke Autoren sprechen da schon deutlicher Klartext. Dazu gehört Jungle-World-Kommentator Detlef zum Winkel, der beklagt, die designierte Mitte-Koalition "lässt alles vermissen, was derzeit angesagt wäre: Entschlossenheit, Planung, Weitsicht, Konsensbildung".

Besonders moniert zum Winkel, dass die neue Koalition die epidemiologische Notlage beendet hat, was er als "Kniefall vor der AfD und anderen Corona-Leugnern" bewertet.

Das "Freiheitsgesäusel" der FDP findet bei Detlef zum Winkel natürlich auch keine Gnade. "Der Freiheitsbegriff wird zur Selbstdarstellung missbraucht", moniert auch der Redakteur der Wochenzeitung Freitag, Lutz Herden, in einem Debattenbeitrag unter der Frage "Sollen wir jetzt wieder alles dicht machen?"

Gleich zu Beginn holt Herden die ganz große Moral-Bazooka raus. "100.000 Tote hat das Virus gekostet, doch Deutschland sorgt sich weiter um die Befindlichkeiten einer Minderheit", so Herden.

Im Notstand muss Schluss mit den Rechten irgendwelcher skurrilen Minderheiten sein, lässt sich da im Subtext herauslesen. Da werden große Zahlen aufgeführt, die schon deshalb verdächtig sind, weil die mit fünf Nullen gerundet sind. Daran wird schon deutlich, dass hier nicht um die individuellen Menschenleben, sondern um die große Zahl geht.

Dann holt Herden zum großen Schlag aus, in dem er mutmaßliche Virenträger fast schon zu Kriminellen erklärt:

Wie sonst ist der absurde Zustand zu erklären, dass für Pfleger, Hausmeister und Reinigungskräfte in Heimen für Senioren und Behinderte bisher keine Impfpflicht durchgesetzt wurde? Menschen, die Leben erhalten sollen, nähern sich ihren Schutzbefohlenen mit dem Virus im Gepäck. Wer das seit acht Monaten – so lange ist Impfstoff verfügbar – politisch verantwortet, macht der sich nicht des Totschlags durch Unterlassung schuldig? Warum fragt keiner nach der strafrechtlichen Relevanz des Nichthandelns politischer Amtsträger?

Lutz Herden, Freitag

Wenn man auch die Grippe- oder Feinstaub-Toten in Betracht zieht, hätten wir bald eine Bevölkerung von Kriminellen, die sich des Totschlags durch Unterlassens schuldig macht.

Gesellschaftskritik statt Individualisierung der Verantwortung

Dabei ist es natürlich völlig richtig, sich dagegen zu wehren, dass Menschen an eigentlich heilbaren Krankheiten oder an schlechten Umweltbedingungen sterben. Nur müssten die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus und nicht die einzelnen Individuen, die darin leben, als Ursache genannt werden.

Dabei gibt es im Text von Herden auch Zeilen, die eine solche gesellschaftliche Frage aufwerfen könnten, wenn er richtig feststellt: "Wo das Menschenrecht auf Arbeit oder ein Obdach wenig gilt, scheint auch das Recht auf Leben kein allzu hohes Gut zu sein." Doch statt bei den kapitalistischen Verhältnissen lädt er die Verantwortung auf das Individuum im Spätkapitalismus ab.

Einen anderen Weg geht die Initiative Zero Covid, die im Januar 2020 mit der Forderung nach einem solidarischen Lockdown für einige Diskussionen sorgte. Danach war es still um die Initiative geworden. Jetzt hat sie sich erneute zu Wort gemeldet.

Sie fordert eine "sofortige Schließung aller gesellschaftlich nicht dringend notwendigen Bereiche der Wirtschaft – unter vollständiger Lohnfortzahlung, den massiven Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur und eine globale, solidarische Impfkampagne für alle Menschen auf der Welt und nicht nur im Globalen Norden".

Man kann über viele Aspekte der Zero-Covid-Kampagne streiten, aber positiv ist hier, dass die Corona-Pandemie als gesellschaftliches und nicht als individuelles Problem gesehen wird. Nicht der Virenträger wird als potenzieller Krimineller eingestuft, sondern es werden die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisiert, die dafür sorgen, dass die Gesundheitssysteme überlastet sind.

Die Zero-Covid-Kampagne setzt bei Schließungen im Wirtschafts- und nicht nur im Freizeitbereich an. Gefordert wird nicht die Einschränkung von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit, sondern einen vorübergehenden Lockdown der kapitalistischen Produktion.

Das ist ein Unterschied ums Ganze, auch wenn bei Zero Covid viele Fragen offen bleiben. Zum Beispiel, wer bestimmt, welche Bereiche nicht dringend notwendig sind. Darüber soll und muss gestritten werden.

Was ist bloß aus der Linken geworden?

Doch einer Absage sollte Linken und Ex-Linken erteilt werden, die die Corona-Pandemie nutzen, um sich als die besseren Krisenverwalter zu präsentieren und den Politikern der künftigen Mite-Koalition vorwerfen, sie lassen es an Entschlossenheit und Weitsicht fehlen und würden sich zu sehr um die Befindlichkeiten von Minderheiten kümmern. Da kann man nur mit dem Sozialwissenschaftler Joachim Hirsch fragen: Was ist aus der Linken geworden?

Aufgabe einer linken Kritik wäre gewesen, diese Zusammenhänge mit den dahinterstehenden Mechanismen deutlich zu machen und die Sinnhaftigkeit der getroffenen Maßnahmen und deren Auswirkungen zu hinterfragen. Das theoretische Rüstzeug dazu war eigentlich vorhanden, aber offensichtlich in Vergessenheit geraten.

Joachim Hirsch

Angesichts der vielen Lutz Herdens und Detlef zum Winkels, die sich in Zeiten der Pandemie als die besseren Regierungspolitiker präsentieren, sollte daran erinnert werden, dass zum linken Werkzeugkasten Staats- und Gesellschaftskritik gehört – und nicht die Affirmation des Bestehenden.

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