Baerbocks Verzicht und der Hochmut der Grünen
Außenministerin teilt der Welt Verzicht auf eine erneute Kanzlerkandidatur mit. Was machen Wagenknecht, Höcke und Netanyahu nun? Ein Kommentar.
Um die jüngste Nachricht über Außenministerin Annalena Baerbock einordnen zu können, muss man zunächst einen Blick auf die Umfragewerte ihrer Partei werfen. Als Baerbock als Kanzlerkandidatin gegen Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD) antrat, lagen die Grünen in den Umfragen bei 26 Prozent (infratest dimap, 06.05.2021).
Als Annalena Baerbock nun in einem CNN-Interview ihren Verzicht auf eine erneute Kanzlerkandidatur verkündete, schwankten die Umfragewerte der Grünen zwischen 11 und 13 Prozent; Baerbock selbst in der Gruppe der beliebtesten oder als vertrauenswürdig wahrgenommenen Politikerinnen und Politikern bestenfalls im Mittelfeld, Tendenz fallend.
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Dass die Grünen-Politikerin in dieser Situation im Interview mit einem US-Nachrichtensender in Washington ihren Verzicht auf die Kanzlerkandidatur verkündete, löste im Netz viel Häme aus. Eine "ganz merkwürdige Nachricht" nannte es der Stern, eine "seltsame Selbstüberhöhung".
Viele Nutzer schrieben von "Realsatire", viele Grüne lobten Baerbock in einer offenbar intern abgesprochenen Formulierung als "Teamplayerin".
Hybris der Grünen
Zwei Dinge sind zu diesem Vorgang allerdings zu sagen. Zum einen entlarvt die einst gescheiterte Kanzlerkandidatin mit ihrer Aussage und der Wahl des Ortes ihre eigene Hybris.
Da teilt eine Politikerin der Welt mit, dass sie nach der Niederlage von 2021 für eine erneute Kanzlerkandidatur nicht mehr zur Verfügung steht, nachdem vor allem sie als exponierte Vertreterin der Grünen zur Halbierung der Umfragewerte ihrer Partei beigetragen hat.
Fehlende Einordnung
Zum anderen fällt die fehlende Einordnung durch die öffentlich-rechtlichen Medien auf. Die Nachricht wurde in der ARD-Hauptnachrichtensendung am gestrigen Mittwochabend unkommentiert und ohne Einordnung gesendet.
Damit hat die Tagesschau eine wesentliche journalistische Aufgabe nicht erfüllt. Warum nicht im Nachgang einen kurzen Kommentar zur Einordnung? In anderen Fällen funktioniert das doch auch. Offenbar fehlte hier das journalistische Gespür oder die Distanz zum Gegenstand der Berichterstattung – oder beides.
Anspruch und Realität
Diese Rolle übernahmen zahlreiche Nutzer in den sozialen Netzwerken, die auf den offensichtlichen Widerspruch zwischen Baerbocks Anspruch und der Realität im Land hinwiesen.
Dass die öffentlich-rechtlichen Medien, allen voran die Tagesschau, die die Meldung am Abend verbreitete, auf diese Einordnung verzichteten, macht das Medium zu einem Teil des Problems: einer zunehmenden Entfremdung zwischen der Bevölkerung auf der einen und der politmedialen Sphäre auf der anderen Seite.
Die Forsa-Umfrage
Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa hat dies jüngst auf den Punkt gebracht. Bei einer Bundestagswahl kämen die Grünen derzeit nur auf elf Prozent der Stimmen. Dieser Wert spiegelt eine anhaltende Stagnation wider und entspricht dem schlechten Ergebnis der Vorwoche. Die Ergebnisse der Umfrage wurden am 1. Juli 2024 veröffentlicht.
Eine ergänzende Forsa-Umfrage für n-tv und RTL hat einen Grund für das schlechte Abschneiden der Grünen ausgemacht: Nur 39 Prozent der Deutschen haben den Eindruck, dass die Grünen die Interessen breiter Bevölkerungsschichten vertreten.
Politik für Bessergestellte
Dagegen sind 54 Prozent der Befragten überzeugt, dass die Grünen vor allem Politik für die oberen Einkommens- und Bildungsschichten machen. In Ostdeutschland ist diese Wahrnehmung mit 72 Prozent noch ausgeprägter.
Interessant ist, dass nur die Anhänger der Grünen und der SPD mehrheitlich davon ausgehen, dass die Grünen die Interessen breiter Bevölkerungsschichten vertreten. Die Anhänger aller anderen Parteien sind eher überzeugt, dass sich die Grünen um die Belange der besserverdienenden und gebildeten Schichten kümmern.
Vor allem Grüne finden die Grünen toll
Die Ergebnisse des Trendbarometers zeichnen ein klares Bild der politischen Stimmung in Deutschland. Während die Grünen um ihren Anspruch ringen, eine Partei für alle zu sein, deuten die Umfragewerte darauf hin, dass sie in der Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler zunehmend eine Nischenposition einnehmen.
Baerbocks Auftritt ist Ausdruck dieser Haltung und des Kurses der Partei. Es ist von außen interessant zu beobachten, dass dies innerhalb der Grünen offenbar überhaupt nicht wahrgenommen wird, ebenso wenig wie die jüngsten Affären um Nachtflüge oder Visagistenkosten.
In keinem dieser Fälle haben sich Baerbock oder die Grünen auch nur ansatzweise selbstkritisch geäußert.
Politik in der Echokammer
Es ist eine Politik für die eigene Filterblase, in der eigenen Echokammer. Das wiederum ist durchaus auch Ausdruck der aktuellen gesellschaftlichen Situation, in der sich die verschiedenen Akteure in diese eigenen Sphären zurückziehen; mit dem unangenehmen Nebeneffekt, dass sie sich korrigierender Kritik nicht mehr aussetzen müssen, nicht mehr aussetzen wollen. Das geht so lange gut, bis eben die nächste Wahl ansteht.
Medial müsste das alles viel stärker beachtet, kommentiert und hinterfragt werden. Wie gesagt, auch das gehört zu dieser Episode des politischen Niedergangs, die immerhin so unterhaltsam war, dass man fast auf weitere Schlagzeilen dieser Art hofft, etwa:
"Sahra Wagenknecht verzichtet auf Präsidentschaftskandidatur."
"Björn Höcke verzichtet auf Kandidatur als Antisemitismusbeauftragter"
"Benjamin Netanjahu verzichtet auf Kandidatur als UN-Menschenrechtskommissar".