HTS-Chef al-Scharaa: Der Mann, der Baerbock die Hand verweigerte

Ahmed al-Scharaa begrüßt den ukrainischen Außenminister Andrij Sybiha in Damaskus zum Fototermin mit Handschlag

Unter Männern: Ahmed al-Scharaa begrüßt den ukrainischen Außenminister Andrij Sybiha in Damaskus, 30.Dezember 2024. Bild: Ukrainisches Außenministerium, CC BY 4.0 Deed

Symbol für den Bruch zwischen Kulturen? Die Herkunft des de-facto-Herrschers in Syrien ist so komplex wie die Gesellschaft des Landes. Nun steht er vor einer extremen Herausforderung.

An einem Tag im Dezember 2024 rasten der Milizenverbund Ha'yat Tahrir-asch Scham (HTS) und ihr Anführer Ahmad al-Dscholani (auch: al-Jolani, al-Dschaulani, al-Dschulani) regelrecht die Straße von Aleppo nach Damaskus hinunter, fast kampflos an den Truppen des Langzeitpräsidenten Baschar al-Assad vorbei.

Die Welt staunte und rätselte: Wer ist dieser Mann, der da plötzlich im Interview mit dem US-amerikanischen Nachrichtensender genau die richtigen Worte sagte?

Auf den Straßen feierten die Menschen, während das gesamte Ausmaß des Grauens der Assad-Diktatur sichtbar wurde: die endlos langen Zellenkorridore in den Gefängnissen, die Berichte der Gefolterten, die nun vor laufenden Kameras ins Sonnenlicht irrten.

Ganz ehrlich – das überraschende Ende des Syrien-Kriegs wirkte sorgsam geplant: die richtigen Worte, die passenden Bilder. Ein Anführer, der perfekt zum Finale passt.

Westliche Sichtweisen und Erwartungen

Jung, gut aussehend, eloquent. Aber der Bart. Im Westen schaut man ganz besonders darauf. Enorm viel wurde in den vergangenen vier Wochen über die Zukunft Syriens unter HTS und Ahmed al-Scharaa (bzw. in der genauen Transkription: asch-Schara'a), dem "bürgerlichen" Namen al-Dschulanis, gesagt und geschrieben und sehr oft geht es dabei eher um die deutschen, die westlichen Sichtweisen und Erwartungen.

Kaum waren die Assads nach Moskau abgereist, riefen die ersten das Ende von allem aus und erklärten, die syrischen Flüchtlinge könnten jetzt getrost zurückkehren, während andere feststellten, dass ja nun in der medizinischen Versorgung und der Pflege viele Syrer arbeiten, die man nicht so ohne weiteres ersetzen kann.

Und dann sind da jene, die Syrien eine Zukunft als weiteres Afghanistan powered bei HTS vorhersagen, so als seien alle muslimischen Länder gleich und die Muslime sowieso.

Der Eklat mit der deutschen Außenministerin

Da wird der Tatsache, dass al-Scharaa der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock nicht die Hand gab, in der Berichterstattung auch schon mal mehr Raum eingeräumt als den enormen Problemen, die Baerbock und ihr französischer Amtskollege Jean-Noel Barot mit al-Scharaa und seinen Leuten besprochen haben.

Die wirtschaftliche Lage und die politischen Strukturen des Landes, die Zukunft der mehreren Zehntausend sehr oft stark indoktrinierten Gefangenen, die der Ideologie des "Islamischen Staat" ergeben sind, treten dabei in den Hintergrund.

Nachbarländer: Die Leichen im eigenen Keller und der sorgenvolle Blick

Auf der anderen Seite beäugen auch viele arabische Regierungen die Berichte aus Syrien sehr kritisch. Besonders ungern gesehen: Die Bilder aus den Gefängnissen, die von arabischen Nachrichtensendern wie Al Jazeera in die letzten Winkel der Region verbreitet werden.

Und die vielerorts die Erinnerung daran nähren dürften, dass auch im eigenen Land Zehntausende einfach so verschwunden sind.

In Ägypten zum Beispiel, wo Präsident Abdelfattah al-Sisi seit seiner Machtergreifung 2013 dafür gesorgt hat, dass fast alle, die einst den arabischen Frühling getragen hatten, eingekerkert wurden.

Die vermeintliche Leichtigkeit, mit der HTS am Ende Damaskus einnahm, könnte auch von Organisationen wie der ägyptischen Muslimbruderschaft zum Anlass genommen werden, einen neuen Versuch zur Änderung der Machtverhältnisse zu unternehmen.

Demokratisierung: Große Hoffnungen und erbitterte Ernüchterung

Gleichzeitig sind die Entwicklungen in Ländern wie Ägypten, aber auch der Irak Beispiel dafür, wie große Hoffnung in erbitterte Ernüchterung umschlagen kann: Die Versuche, die beiden Länder zu demokratisieren, sind kläglich gescheitert.

Im Irak wurde auf Geheiß der Vereinigten Staaten ein Regierungssystem eingeführt, dass eine Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen sicherstellen sollte und sich in der Praxis als so überkomplex erwiesen hat, dass Phasen des jahrelangen Stillstands die Regel sind.

Die Muslimbrüder und der politische Islam

In Ägypten hingegen stolperte man darüber, dass die Wählerinnen und Wähler bei den ersten freien Wahlen ausgerechnet den Islamisten Mohammed Mursi aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft zum Präsidenten wählten und damit den säkularen Teil der Gesellschaft auf die Barrikaden brachten.

Letzlich nutzte dann 2013 der damalige Generalstabschef al-Sisi die Gelegenheit zum Putsch, zunächst mit Unterstützung von Hunderttausenden meist jugendlichen Demonstranten.

Man kann diese Entwicklungen natürlich nicht eins zu eins miteinander vergleichen. Doch Parallelen sind da, vor allem zwischen Syrien und Ägypten, die sogar Ende der Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre einen gemeinsamen Staat gebildet hatten.

Beide Länder haben sowohl jeweils einen großen religiösen und einen säkulären Bevölkerungsanteil. Gleichzeitig ist der politische Islam stärker ausgeprägt als säkulare politische Strömungen, denn freie Wahlen einschließlich politischer Parteien, wie sie im Westen seit vielen Jahrzehnten üblich sind, gab es in beiden Ländern nahezu nicht.

In Ägypten endete der Prozess, die Einzelinteressen und Willensbildung in größeren Gruppen zu organisieren, mit Massendemonstrationen, Gewalt und am Ende wieder in der Diktatur.

Wo steht al-Scharaa?

In Syrien wird es deshalb nun darauf ankommen, wie geschickt die neuen Machthaber rund um al-Scharaa den Weg in die Nach-Assad-Zeit finden. Vor allem die Person al-Scharaa wirft dabei auch an dieser Stelle Fragen auf. Wie gesagt: Er ist ein Mann, der die vergangenen Jahre mit der Waffe in der Hand verbracht haben dürfte.

Doch nun wirkt er wie jemand, der seit Jahren Politik macht, genau weiß, was man wann wem sagen sollte. Ist er einfach nur der geborene Staatsmann? Oder hat er Berater im Hintergrund? Falls ja, woher kommen sie und haben sie nur Syrien im Sinn oder andere Motive?

Vieles von dem, was al-Dscholani/al Scharaa und HTS in den vergangenen Jahren getan haben, kann man so oder so interpretieren.

Einst hatte sich HTS mit al Kaida verbündet, gar Kontakte mit dem "Islamischen Staat" unterhalten, der mehrere Jahre lang eine Terrorherrschaft in Teilen des Irak und Syriens errichtet hatte. Man kann das als Zweckbündnis sehen, in einem sehr unübersichtlichen Krieg. Man kann die spätere Distanzierung aber auch als ideologische Entwicklung innerhalb von HTS betrachten, muss es aber nicht.

Säkular-konservatives Elternhaus

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch al-Scharaas Familiengeschichte, die genauso komplex ist, wie die syrische Gesellschaft. Sein Urgroßvater Khalid al-Scharaa war 1925 am Aufstand gegen die französische Mandatsmacht in Syrien beteiligt.

Al-Scharaa selbst stand nicht etwa aus einem islamisch-religiösen, sondern einem säkular-konservativen Elternhaus in Mezzeh, einem liberalen, sehr säkularen Stadtteil von Damaskus.

Sein Vater, der Wirtschaftswissenschafter Hussein al-Scharaa, zeichnet in einem nur auf arabisch verfügbaren Buch namens "Eine Erörterung der syrischen Wiedergeburt" das Zukunftsbild eines pluralistischen Staats mit demokratischer Verfassung.

Der Sohn erklärte in einem vor einem Jahr geführten Interview mit dem US-amerikanischen Radiosender PBS, er sei erst im Zuge der zweiten Intifada religiöser geworden. Was imnmer das bedeutet. Sicher ist: Die Tischgespräche im Hause al Scharaa dürften interessant sein.

Die politische Kampfzone

Wird der neue Machthaber trotzdem den Weg der Islamisierung gehen? Je mehr man sich mit ihm befasst, desto mehr entsteht der Eindruck eines nach Antworten für sein Land Suchenden: Seine Aussagen sind reflektiert, zeigen aber auch, dass sich die Gedankenwelt dahinter verändert.

Pathos ist hier allerdings am falschen Platz. Im Nahen Osten sind viele mit hehren Vorstellungen für ihr jeweiliges Land und dessen Menschen losgezogen und sind am Ende als Diktatoren gestorben.

Denn Tatsache ist, dass man nie allein ist. Offiziere und Beamte wollen ihre Pfründe verteidigen, jene, die den Krieg gewonnen haben, ein Stück vom Kuchen abhaben. Die Gefahr eines Wiederaufflammens des Bürgerkriegs ist auch in Syrien groß.

Und damit auch die Gefahr, dass die neuen Machthaber selbst zunehmend brutaler werden, um Dissenz zu unterdrücken. Denn die unter der Dachmarke HTS zusammengeschlossenen Milizen waren nicht die einzigen, die zu den Waffen gegriffen haben.

De-facto-Herrscher al-Scharaa und seine Leute haben nur sehr begrenzte politische Erfahrtung sammeln können, treffen auf ein System, dass mit jenen Beamten, Offizieren und Gesetzen durchsetzt ist, die das Assad-Regime am Leben erhielten.

Und sie haben es mit einer Öffentlichkeit zu tun, die jede Entscheidung mit Demonstrationen und Protesten kommentiert. Auch das ist etwas, was man bereits in Ägypten zwischen 2011 und 2013 erlebt hat: die Geburt von Debatten, angstfreien Diskussionen.

Eigentlich müsste alles raus und der gesamte Staat entkernt werden. Denn das, was zum Ausbruch des Bürgerkriegs geführt hat, bleibt auch jetzt das offene Thema: die Frage, wie man alle gesellschaftlichen Gruppen angemessen an den Entscheidungsprozessen beteiligt.