Bailout für das Volk

Mit StrikeDebt.org ist Occupy 2.0 entstanden, für die individuelle Empörung wurde ein struktureller Lösungsansatz gefunden

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Die Occupy-Zeltstädte sind verschwunden doch die Finanzmacht des 1 Prozents ist noch lange nicht gebrochen. Wie groß der Druck der Wall Street auf Privatpersonen ist, offenbart allein die Schuldenlast der US-Haushalte: Mit über 11 Billionen US-Dollar stehen sie bei den Banken in der Kreide. Eine Organisation setzt nun zum Befreiungsschlag für die 99 Prozent an.

Cover des Organisierungshandbuchs von StrikeDebt.org

Tausend Menschen, tausend Meinungen, Penner-Camps, Krawallmacher und Lifestyle-Revolutionäre - die Occupy-Bewegung musste sich allerhand Schmäh-Kritik gefallen lassen.

Eine schwebt bis heute mit und ist mitverantwortlich für das langsame Verschwinden der Aufwiegler aus der öffentlichen Wahrnehmung: Occupy formulierte einen gemeinsamen Slogan: "We are the 99 Percent" und entwickelte eine Taktik, vornehmlich das Besetzen. Doch gelang es der Bewegung bisher nicht, sich auf ein gemeinsames Problem mit Lösungsansatz zu einigen. Eine Organisation glaubt nun beides gefunden zu haben.

Die Gruppe StrikeDebt.org, die sich nach eigener Aussage aus verschiedenen Occupy-Fraktionen zusammensetzt, hat dafür zunächst die richtige Frage gestellt: Was ist das eine Druckmittel des Finanzsystems, das uns knechtet? "Debt"—Schulden sind der gemeinsame Nenner, der die 99 Prozent zusammen bringt, heißt die Analyse der Gruppe. "Als Individuen, Familien, und Kommunen, die meisten von uns versinken in den Schulden an die Wall Street." Und ob tatsächlich verschuldet oder nicht, die Auswirkungen der Bürde erreichen alle Menschen.

Problem Schuldenkreislauf

Direkt, wie den Hochschulabsolventen, der in der mauen Wirtschaftslage keine entsprechende Arbeit findet und auf einem 100.000-Dollar-Kredit fest sitzt (gegenwärtig ist der Schuldenberg der US-Studenten über 1 Billion Dollar hoch). Ähnlich geht es Familien, die ihre Kreditkarten hoffnungslos überlasten, um die Rechnung für den Krankenhausaufenthalt zu begleichen.

Aber auch indirekt bekommen die Bürger die Folgen von Verschuldung zu spüren. So wie die öffentlichen Angestellten der Stadt Scranton im US-Bundesstaat Pennsylvania. Im Zuge struktureller Veränderungen wie das Outsourcen von Industrie und gefallener Steuereinnahmen nahm Scranton wie viele andere Städte Kredite auf. Eines Tages drehte Wall Street den Geldhahn zu. Seitdem muss die Stadt sparen und überweist ihren Beamten nur noch den Mindestlohn von 7.25 Dollar pro Stunde. Bisher schuldenfreie Arbeiter stehen damit vor der Wahl, die Hypothekenrate auf Pump zu bedienen oder das Haus lieber gleich der Bank zu übergeben. Andere Städte verkaufen nach griechischem Vorbild gleich ihr kommunales Eigentum. Den Anstieg bei den Ticketpreisen zum Beispiel durch die Privatisierung der Straßenbahn müssen wiederum alle Bürger tragen.

StrikeDebt will genau diesen Kreislauf der Kreditabhängigkeit durchbrechen. Dafür greift die Organisation auf die marktübliche Strategie des Schuldenaufkaufens zurück. Spekulanten nehmen dabei den Banken Problemkredite ab, die diese zu einem Spottpreis gebündelt auf dem Markt in der Hoffnung anbieten, überhaupt noch etwas daran zu verdienen.

Was mit Privatschulden geht, funktioniert ebenso gut mit den Schulden eines ganzen Landes. Hedgefonds-Manager Paul Singer, der 2001 beim Zusammenbruch Argentiniens auf dem Kreditmarkt zuschlug, lässt auch schon mal ein Marine Training Schiff festsetzen, um die Regierung aufzufordern, endlich Geld zu überweisen (US-Gericht könnte Argentinien in die Pleite schicken). Anders als Spekulanten wie Singer will StrikeDebt jedoch keinen Profit aus dem Aufkaufen machen. Die Gruppe annulliert die Schulden einfach.

The Rolling Jubilee

Die Kampagne dazu nennt sich The Rolling Jubilee und ist seit dem Start am 15. November auf dem Weg ein voller Erfolg zu werden. "In den vergangenen Wochen haben wir fast 450.000 Dollars eingesammelt", sagte Andrew Ross, Professor für Sozial- und Kulturanalyse an der New York University und Mitaktivist vor einer Woche in einem Interview mit Russia Today. Mit dem Geld lassen sich bereits jetzt Schulden im Wert von 9 Millionen US-Dollar einkaufen und vernichten, ist Ross überzeugt.

Spenden sammeln durch Online-Crowdsourcing und Telethons, Problemkredite aufkaufen, Schuldenpakete tilgen - StrikeDebt nennt das "Debt Resistance". Eine Gehorsamsverweigerung in Form von Solidarität.

Noch wichtiger als diesen Akt der "Befreiung" sei dabei die öffentliche Aufklärung, so Ross. Denn die meisten Menschen wüssten gar nicht, dass Banken, die ihre Problemkredite an Schuldeneintreiber weiterverkaufen, dafür auch noch Steuervergünstigungen, also quasi ein weiteres Bailout, bekämen.

Der Guardian überhäufte die Aktion bereits mit Lob. Die Idee wäre "brillant", auch weil sie weit über die Politik hinausgehe und damit für Kreditgeber schwer zu bekämpfen sei. Doch so erfolgreich "The Rolling Jubilee" gestartet ist, so genau weiß die Organisation auch, dass sie nur eine begrenzte Wirkung haben kann.

Ruf nach weiteren Alternativen

Man wolle eine Bewegung aufbauen, die das "Schattensystem des Schuldenmarktes" herausfordert. Um es aber zu Fall zu bringen, sagt Ross, müsste die Kampagne nicht nur auf den Punkt der "critical mass" heranwachsen, es bräuchte vor allem weitere Alternativen. "Jede Massen-Annullierung von Schulden erfordert eine Restrukturierung des Schulden- und Wirtschaftssystems", so Ross.

Bis dahin kann sich StrikeDebt rühmen, die Occupy-Bewegung wiederbelebt zu haben, indem sie der individuellen Empörung einen strukturellen Lösungsansatz anbietet. Eine Art Brückentechnologie, die dazu noch den Menschen die verborgenen Mechaniken und Unstimmigkeiten der Wirtschaft aufzeigt. Unbedingt dazu gehörte schon immer die Steuer. Und so überrascht es wohl kaum, dass nach dem gegenwärtigen Code annullierte Verbindlichkeiten formal als Einkommen gelten könnten.

Es bestehe durchaus die Gefahr, schreibt die Website The Awl, das die Menschen, denen Schulden erlassen wurden, Steuern nachzahlen müssten: wegen der "Streichung von Schulden-Einkommen".