Balanceakt nach innen und außen

Die neue ukrainische Regierung macht Tempo bei den versprochenen Reformen, gleichzeitig gewinnt sie merkwürdige Bundesgenossen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kaum hatte Präsident Viktor Juschtschenko Anfang Februar sein neues Kabinett vorgestellt, zeigte Premierministerin Julija Tymoschenko, dass sie ihrem Ruf als Eiserner Lady gerecht werden will. Sie reduziert die Anzahl der Ministerien und lässt dubiose Privatisierungen untersuchen. Staatschef Juschtschenko warnt derweil separatistisch gesinnte Kräfte in der Ostukraine.

Präsident Viktor Juschtschenko am 23. Februar vor dem Europäischen Parlament: "Die Zukunft der Ukraine liegt in der EU."

Gelegentlich kommt Lob von unerwarteter Seite:

Ich kenne Juschtschenko jetzt seit acht Jahren. Vielleicht ist er etwas zu mild. Aber keine Bange: Er war noch nicht Präsident. Sobald wir Verantwortung tragen, werden wir hart. Juschtschenko ist ein normaler Mann...

Aleksandr Lukaschenko

Dass sich der neue ukrainische Präsident über derlei nette Worte seines weißrussischen Amtskollegen Aleksandr Lukaschenko besonders gefreut hat, darf bezweifelt werden. Dennoch steckt in dem Kompliment des Despoten aus Minsk nicht nur Anbiederung an den neuen starken Mann in Kiev, dem lange der Ruf eines Zauderers anhing.

Denn Juschtschenko hat sich nach seinem Amtsantritt wenig Zeit für populäre und unpopuläre Maßnahmen gelassen. Schon die Ernennung von Julija Tymoschenko zur neuen Premierministerin verrät Mut: Die temperamentvolle Dame mit dem folkloristischen Zopf ist nicht überall in der Ukraine besonders beliebt, im Osten des Landes - und bei einigen Herren im Moskauer Kreml - ist sie nachgerade verhasst.

Für Überraschungen sorgte die Zusammensetzung der neuen ukrainischen Regierung. Ihre parlamentarischen Säulen sind vor allem die Juschtschenko-Partei "Unsere Ukraine", der Tymoschenko-Block sowie die Sozialistische Partei unter Oleksandr Moros. Bemerkenswert ist dabei, dass der Tymoschenko-Block neben der Regierungschefin lediglich einen einzigen einflussreichen Posten im Kabinett besetzen konnte: Parteifreund Oleksandr Turtschynov wurde Chef des ukrainischen Sicherheitsdienstes.

Das neue Kabinett unter Premierministerin Julija Tymoschenko

Von den koalierenden Sozialisten erhielt Oleksandr Baranivskyj das Landwirtschaftsressort, Juriy Lutzenko das Innenministerium und Stanislav Nikolajenko das Bildungsministerium. Ihre Parteifreundin Valentyna Semenjuk ist als Leiterin des einflussreichen Staatlichen Eigentumsfonds im Gespräch. Diese Ernennungen sind auch deshalb interessant, weil die Sozialisten das Juschtschenko-Programm eigentlich als "zu liberal" ansehen und weil vor allem Baranivskyj der Ruf eines politisch Vorgestrigen nachgeht.

Straßenkämpfer und KGB-Fernmelder

Mit Lutzenko steht erstmalig in der Ukraine ein Zivilist an der Spitze des Innenministeriums - einer Organisation, die immerhin 500.000 der insgesamt 48 Millionen Ukrainer beschäftigt. Hinzu kommt, dass der Elektroingenieur über keinerlei Erfahrung in der Polizeiarbeit verfügt. Seine Meriten liegen in der Organisation von Massenprotesten während der vergangenen fünf Jahre mit dem Ziel, den damaligen Staatschef Leonid Kutschma zum Rücktritt zu drängen. Während der Demonstrationen im Umfeld der Präsidentschaftswahlen Ende 2004 erhielt er wegen seiner gleichzeitig offensiven und besonnenen Taktik den Beinamen "Feldkommandeur der Orangenen Revolution".

Im übrigen war Lutzenko öfter in den Fokus der Medien geraten, weil er es in seinen Oppositionsjahren immer wieder schaffte, in der Verchovna Rada (Parlament) die Abstimmungselektronik lahmzulegen, wenn Pro-Kutschma-Abstimmungen anstanden. Er führte das augenzwinkernd auf Qualifikationen zurück, die er während seines Wehrdienstes in einer Fernmeldeabteilung des sowjetischen KGB erworben hatte.

Auch der neue Verteidigungsminister Anatoliy Hrytzenko ist - anders als seine Vorgänger - kein Berufsmilitär, sondern stand bisher an der Spitze eines Kiever Politik-Beratungsinstituts. Mit der Besetzung der sogenannten Machtministerien durch Zivilisten setzt Juschtschenko klare Zeichen - auch für die übrigen UdSSR-Nachfolgestaaten.

Maßnahmen gegen "zuviel Tymoschenko"?

Ukrainische Beobachter erklären die starke Präsenz der Sozialisten im Kabinett mit der Absicht von Juschtschenko, seine energische Premierministerin vor allzu radikalen Schritten und vor allzu viel Machtanhäufung abzuhalten. Innenressort-Chef Lutzenko hat bereits gegenüber der Presse dem "revolutionären Weg" von Tymoschenko seine eigene "evolutionäre Entwicklung" gegenübergestellt. Außerdem könnte eine Art sanfter Fronde innerhalb der Regierung den Präsidenten zum dominanten Vermittler zwischen den Positionen machen.

Dieser Trend wird noch verstärkt durch die Ernennung von Jurij Bessmertnyj zum Vize-Premier für Verwaltungsreform. Der einstige Wahlkampfmanager Juschtschenkos ist dem Vernehmen nach seiner neuen Chefin durch gegenseitige Abneigung verbunden. Bereits vor seiner Bestallung in das neue Amt machte er in der Presse Andeutungen, wonach Tymoschenko zu den Wahlen zur Verchovna Rada im Jahr 2006 oder spätestens vor den Präsidentschaftswahlen 2009 die Juschtschenko-Truppe zu verlassen, um sich selbst als Kandidatin für das höchste Staatsamt aufzubauen.

Den Wirtschaftsblock im Kabinett übernehmen Anatolij Kinach als Erster Vizepremier und Serhyj Terjochin als Wirtschaftsminister. Beide verfügen über ökonomische Kenntnisse und Regierungserfahrung. Kinach folgte im April 2001 Juschtschenko als Premier des Landes und wurde 2002 von Viktor Janukovitsch abgelöst .

Auch in der Außenpolitik bestimmen erfahrene Veteranen den Kurs, der sich deutlicher als bisher an einer Einbindung des Landes in "europäische Strukturen" und auch in die Nato orientiert. Dies wird deutlich an der Schaffung der Position eines Vizepremiers für europäische Integration, die Oleh Rybatschuk übernimmt. Leiter des Auswärtigen Amts wurde der altgediente Karrierediplomat Borys Tarasjuk.

"Das Business bleibt nicht in der Opposition"

Beobachter in und außerhalb der Ukraine waren überrascht von der Zustimmung, die Julija Tymoschenko am 4. Februar im Parlament, der Verchovna Rada, erhielt. Sie konnte 357 der 450 Abgeordneten für sich gewinnen, darunter auch viele Abgeordneten der Janukovitsch-"Partei der Regionen". Derlei klare Mehrheiten waren in den vergangenen Jahren selten geworden. Lediglich die Fraktion der Kommunisten wollten sich mit der ausgesprochenen Marktwirtschaftlerin nicht abfinden.

Für Iosyp Vinskyj von der Sozialistischen Partei ist die Zustimmung des einstigen Janukovitsch-Flügels in der Rada ein Beweis für dessen "vollständigen moralischen Niedergang". Diese Abgeordneten hätten nie ein politisches Programm vertreten, sondern immer nur die Interessen von Lobbies: "Und das Business bleibt nicht in der Opposition, sondern sucht den Kontakt mit den neuen Machthabern."

Von Oligarchen finanzierter sozialer Ausgleich

Ob sich Juschtschenko und seine Premierministerin von den Neuen Reichen einwickeln lassen werden, bleibt abzuwarten. Derzeit steht eine aktive Sozialpolitik auf der Tagesordnung des Kabinetts. So hält Juschtschenko an der Entscheidung fest, die monatliche Mindestrente auf 285 Grivna (40 Euro) anzuheben. Dies war im September 2004 von dem damaligen Premier Viktor Janukovitsch beschlossen worden - der Verdacht, dass er damit die Wahlen beeinflussen wollte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Premierministerin Julija Tymoschenko auf der Kabinettsitzung am 16. Febriar

Juschtschenko will auch durchsetzen, dass künftig die Mindestlöhne und Renten nicht unter dem Existenzminimum von 430 Grivna (60 Euro) liegen sollen. Darüber hinaus will er seine Landsleute für ihre Ersparnisse entschädigen, die in der nachsowjetischen Zeit durch die damaligen Mega-Inflationen aufgefressen wurden. Sie sollen als staatliche "Binnenverschuldung" anerkannt werden.

Außerdem sollen ukrainische Eltern für jedes neugeborene Kind eine einmalige Zahlung von 8.500 Grivna (1.200 Euro) erhalten. Einige Spötter sprechen bereits von einem zu erwartenden "orangenen Babyboom" zwischen Lviv/Lemberg und Luhansk.

Angesichts der ohnehin chronisch leeren Staatskassen ist die Frage berechtigt, woher die Mittel zur Finanzierung dieser Programme herkommen sollen. Juschtschenko plant, dazu vor allem zwei Quellen heranziehen.

Zum einen will er die Privatisierungsgewinnler in die Pflicht nehmen - derzeit wird in Kiev gemunkelt, die Regierung erstelle eine Liste "unehrlicher Privatisierungen". So soll die Investorengruppe um die Oligarchen Viktor Pintschuk (gleichzeitig Kutschma-Schiegersohn) und Rynat Achmetov weitere 500 Millionen Dollar für den von ihnen 2004 erworbenen Metallurgie-Giganten Kryvorischstal "nachzahlen" - oder aber die Privatisierung wird rückgängig gemacht. Damals war das Stahlwerk für 800 Millionen Dollar an Pintschuk und Achmetov gegangen, obwohl westliche wie russische Interessenten deutlich mehr geboten hatten.

Den zweiten Weg zu mehr staatlichen Einnahmen hat Viktor Juschtscheno auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos beschrieben:

Unser Ziel ist es, die ukrainische Wirtschaft in ein soziales und marktorientiertes System mit stabilem Wachstum zu verändern. Dazu müssen wir eine Reihe von Schritten unternehmen. Wir müssen die Schattenökonomie eliminieren, die derzeit 55 Prozent unserer Wirtschaft ausmacht. Die Steuern werden gesenkt, aber jeder wird sie zahlen. Privilegien für ein paar Auserwählte werden bald wegfallen.

Der Präsident machte indessen auch klar, dass er jegliche Drohung einer Abspaltung von Teilen der Ukraine mit der ganzen Härte des Gesetzes ahnden werde. Anlässlich der Einführung des neuen Gouverneurs in der einstigen Janukovitsch-Hochburg Donetzk bezeichnete er Politiker, die in dieser Richtung polemisierten, als "krank", und fügte hinzu: "Gebt jede Idee einer Abtrennung vom Rest des Landes auf - oder bereitet euch auf einen harten Konflikt vor!"

Ukrainische Beobachter wie Serhiy Harmasch von der Internet-Publikation "Ostrov" in Donetzk erklärten, die regionalen Polit-Eliten seien geschockt gewesen von der Deutlichkeit der Juschtschenko-Rede. Harmasch geht aber davon aus, dass die harte Linie des Staatschefs Eindruck macht. Auch die Bevölkerung der Ost-Ukraine habe die Nase voll von politischen und kommerziellen Kabalen auf regionaler und lokaler Ebene.

EU im Dilemma

Aber Viktor Juschtschenko tritt nicht nur innerhalb seines Landes aufs politische Gaspedal - er nimmt auch den Westen in die Pflicht. In Davos erklärte er unmissverständlich:

Mein Plan zur Umgestaltung der Ukraine beruht darauf, dass wir ein strategisches außenpolitisches Ziel erreichen: die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Der Großteil der EU-Mitgliedsstaaten steht dieser Absicht bisher reserviert entgegen. Dass Brüssel der Ukraine allerdings eine deutlichere europäische Option als bisher bieten muss, ist jedoch auch den Skeptikern klar. Ein erster Schritt war die Unterzeichnung eines auf drei Jahre angelegten Aktionsplans durch Vertreter der EU und Ukraine am 21. Februar. Im Wesentlichen umfasst der Plan die Unterstützung für marktwirtschaftliche Reformen in der Ukraine, für den Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation und für den Abschluss eines Freihandelsabkommens zwischen Brüssel und Kiev.

Premierministerin Julija Tymoschenko zeigt derweil, dass sie nicht nur über politische Talente verfügt. Sie suchte mit einer ganzen Riege von Kabinettsmitgliedern ein Kiever Eisstadion auf und zog mit ihren Schlittschuhen zunächst vorsichtige, dann aber energische Bahnen: "Wir wollen beweisen, dass die neue ukrainische Regierung fest auf ihren eigenen Füßen steht."