Barcelona: Katalanische Regierung ein "Scherbenhaufen"

Demonstration am 1. Oktober 2022 in Barcelona. Foto: Ralf Streck

Basisabstimmung in der Partei vom Exilpräsidenten Puigdemont bringt Regierungskoalition in Katalonien ans Ende. Für Spaniens Regierungschef Sánchez wird es im Superwahljahr 2023 kritisch.

Seit Monaten kriselt es in der katalanischen Regierung. Der Unmut an der Basis ist gewachsen, weil es auf dem Weg in die Unabhängigkeit von Spanien nicht vorangeht. Nun hat die Partei Gemeinsam für Katalonien (Junts per Catalunya, kurz: JxCat), mit dem abgesetzten katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont als prominente Zentralfigur, die Basis darüber entscheiden lassen, ob nach nur eineinhalb Jahren die Regierungskoalition aufgegeben wird.

An der Urabstimmung der Partei, die aus einem breiten Bündnis entstand, in das der christdemokratische Exilpräsident Carles Puigdemont sogar die radikale Linke eingebunden hatte, beteiligten sich mehr als 79 Prozent der Mitglieder – so viel wie nie zuvor.

Knapp 56 Prozent haben dafür gestimmt, die Regierung zu verlassen.

"Die Regierung von Pere Aragonès ist gescheitert", erklärte die JxCat-Präsidentin Laura Borràs. Sie habe die "demokratische Legitimität" verloren, fügt sie an. "Junts hat gewonnen, Aragonès verloren".

Sie wirft dem katalanischen Regierungschef Pere Aragonès und seiner Partei, der Republikanischen Linken (Esquerra Republicana de Catalunya, ERC), vor, dass sie den Vereinbarungen mit den spanischen Sozialdemokraten den Vorrang vor seinen Abkommen mit den Unabhängigkeitsparteien in Katalonien – die ihn ins Amt gewählt haben – gegeben haben.

Interne Risse, bedeutende Tage

Die Krise hat sich nicht aus Zufall um zwei für die Bewegung bedeutsame Termine herum zugespitzt: dem katalanischen Nationalfeiertag am 11. September und dem 1. Oktober.

Dass sich Aragonès und die ERC an der Großdemonstration zum Nationalfeiertag nicht beteiligten, sondern sogar versuchten, sie durch Demobilisierung kleinzuhalten, hat viele in der Unabhängigkeitsbewegung gegen sie aufgebracht.

Die ERC fühlte sich davon angegriffen, dass die Veranstalter die Regierung dafür hart kritisierten, dass – gegen alle Versprechen – keine Fortschritte auf dem Weg zur Unabhängigkeit zu sehen sind.

So verwandelte sich der riesige Protest am Nationalfeiertag auch in einen Protest gegen die ERC, die seit eineinhalb Jahren auf einen Dialog mit der sozialdemokratischen Regierung in Madrid setzt. Dort dient die Partei als Mehrheitsbeschaffer, erreicht im Gegenzug aber kaum etwas. Stattdessen wird sie und ihr Chef Aragonès über die Spionagesoftware Pegasus ausspioniert.

Die Unterstützung für Sánchez ...

Ein Dialog hat real nie begonnen. Mit immer neuen Ausreden hält Ministerpräsident Pedro Sánchez die ERC hin. Sánchez lehnt es ab, über ein Referendum nach Vorbild Schottlands oder über ein Ende der Repression auch nur zu sprechen, wie es die Sprecherin der ERC, Marta Vilalta, auch im Telepolis-Gespräch von ihm gefordert hatte

Nach diesen Vorgaben hätte die ERC die Unterstützung für Sánchez längst aufkündigen müssen, wie es die Marta Vilalta angekündigt hatte.

Mit 700.000 Menschen wurden am Nationalfeiertag nun fast doppelt so viele Menschen wie im Vorjahr gezählt. Die Demobilisierung scheiterte und es zeigte sich, dass der Unmut über den "Schmusekurs" in Madrid sich immer klarer Bahn bricht.

Als am 1. Oktober an das militärähnliche und brutale Vorgehen der spanischen Sicherheitskräfte gegen friedliche Wähler vor fünf Jahren beim Referendum erinnert wurde, versammelten sich Zehntausende Menschen in Barcelona.

Dabei wurde offen in großer Zahl der Rücktritt von Aragonès gefordert.

... und der Machtkampf

Damit stieg auch der Druck auf JxCat. Für die hatte der neue Generalsekretär Jordi Turull, der ehemalige politische Gefangene und Ex-Regierungssprecher der Puigdemont-Regierung, schon ein Ende der Koalition angedroht, da der Koalitionsvertrag nicht umgesetzt wird:

"Wenn wir uns davon entfernen, müssen wir Entscheidungen treffen."

Doch Aragonès suchte keine Einigung, sondern den Machtkampf. Er entließ provokativ seinen Vizepräsidenten Jordi Puigneró (JxCat). Er wollte den Juniorpartner erniedrigen, der wegen einer Spaltung nur knapp hinter der ERC zurückgeblieben war und nur über einen Sitz weniger als die ERC verfügt.

Er begründete die Entlassung mit einem "Vertrauensverlust". Sein Vize habe ihn nicht informiert, dass JxCat darüber nachdenke, die Vertrauensfrage zu stellen. Dabei war die im Koalitionsvertrag ohnehin nach zwei Jahren vereinbart, um über die Dialog-Ergebnisse zu entscheiden. Diese Zeit hatte Aragonès für seinen Weg gefordert. Die sind fast ergebnislos abgelaufen.

Scherbenhaufen vor dem Superwahljahr 2023

Auch die ERC gibt zu, dass im Superwahljahr 2023 keine Fortschritte zu erwarten sind, wenn in Spanien Kommunal-, Regional- und Parlamentswahlen anstehen. 2023 sei praktisch abgeschrieben. Dass noch etwas passiert, dass ein realer Dialog beginnt, glaubt niemand ernsthaft.

ERC und Aragonès haben die Lage falsch eingeschätzt. Wie Telepolis aus dem Umfeld des katalanischen Regierungschefs erfahren konnte, hatte man erwartet, dass die Puigdemont-Partei sich "in die Hosen machen" würde und einknicken und dass man sie danach "handzahm führen" könne. Danach sah es zunächst auch aus.

JxCat zog für die geforderten Verhandlungen über Garantien zur Umsetzung der Vereinbarungen sogar die Forderung zurück, Puigneró wieder ins Amt zu heben. Aragonès, der bei der Amtseinführung die Umsetzung der Unabhängigkeit in dieser Legislaturperiode versprochen hatte, lehnte aber Verhandlungen rundweg ab.

Jetzt steht er vor einem Scherbenhaufen. Hatte er einst die Zustimmung von 74 Parlamentariern, bleiben ihm gerade noch die 33 der ERC, da ihm schon zuvor die antikapitalistische CUP die Unterstützung entzogen hat.

Für Turull ist klar, dass Aragonès nur noch zwei Optionen hat: "Entweder stellt er die Vertrauensfrage oder er setzt Neuwahlen an". Es sei "traurig", dass eine Legislaturperiode so endet, in der die Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten, mit 52 Prozent der Stimmen eine klare Mehrheit auch im Parlament erhalten haben.

Die CUP hat schon Druck aufgebaut und angekündigt, im Parlament die Vertrauensfrage zu beantragen.

"Ich werde weiterregieren", erwiderte aber Aragonès. Er will "die Bürger nicht im Stich lassen", und lehnte Neuwahlen kategorisch ab.