Begegnungen in Bagdad
Der amerikanische Reporter Jon Lee Anderson über die amerikanisch-britische Militäroffensive und den Alltag im "befreiten" Irak
Kaum ein Tag vergeht derzeit im Irak, an dem mal niemand getötet oder schwer verletzt wird. Die Anzahl der (Selbstmord-)Anschläge ist unverändert hoch, weder irakische Sicherheitskräfte noch US- oder britisches Militär bekommen die Situation gute zwei Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins unter Kontrolle. Woran liegt das? Einige gute Antworten auf diese Frage gibt der amerikanische Reporter Jon Lee Anderson in seinem Buch "Die verwundete Stadt. Begegnungen in Bagdad", das jetzt auch auf deutsch vorliegt.
Seit Jahren berichtet Anderson für das renommierte Magazin "New Yorker" aus Bagdad. In seinem Buch liefert er nun eine hervorragend zu lesende Reportage, gespickt mit Berichten, Interviews, Analysen und Exkursen in die Geschichte des Irak. Die Reportage beginnt ein halbes Jahr vor dem Start der amerikanisch-britischen Militäroffensive und endet ein Jahr nach dem Fall Bagdads im Frühsommer des Jahres 2004, als die Folter irakischer Gefangener im Gefängnis Abu Ghraib durch Soldaten der US-Armee gerade bekannt wurde.
Anderson zieht zu diesem Zeitpunkt sein Fazit, er schreibt:
Der Irak war inzwischen ein viel gefährlicherer Ort als noch ein Jahr zuvor. Die Iraker waren durch die Operation Iraki Freedom von ihrem Diktator befreit worden, konnten aber ihre neue Freiheit nicht ohne weiteres genießen.
Denn jetzt waren "auch Terroristen und Verbrecher so frei, dass sie gegen jeden vorgingen, der ihnen nicht passte, wann immer und wo immer sie wollten. Freiheit ist nur ein symbolischer Wert, wenn ein Staat nicht in der Lage ist, ihre Vorteile für die Bürger nutzbar zu machen."
Die Hauptverantwortung dafür weist Anderson der US-Regierung zu:
Nach monatelanger Suche hatten auch CIA-Experten keine versteckten Massenvernichtungswaffen gefunden, aber das schien jetzt weniger wichtig als die Tatsache, dass Präsident Bush den Irak zur neuen Frontlinie im Krieg gegen den Terror erklärt hatte. Möglicherweise war das eine Prophezeiung gewesen, die sich inzwischen selbst erfüllt hatte.
Anderson, der im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten Bagdad auch in der Gefechtsphase nicht verließ, präsentiert außerdem zahlreiche Beispiele für Ahnungs- und Planlosigkeiten der US-Führung, was den Alltag im "befreiten" Irak angeht. Anstatt die mächtigen irakischen Scheichs, die als Stammesführer oft abertausende Menschen repräsentieren und politisch vertreten, in die Planungen der Nachkriegsordnung einzubeziehen, wurde häufig Exilirakern der Vorzug gegeben, unter ihnen allerlei dubiose Gestalten, die nichts anderes als ein Empfehlungsschreiben der CIA vorweisen konnten. Für gute Stimmung bei vielen Irakern dürfte auch nicht gesorgt haben, dass nach der militärischen Einnahme Bagdads Krankenhausplünderer ungehindert ihrer Wege ziehen durften, während sich muslimische Frauen Leibesvisitationen unterziehen mussten. So schafft man sich Feinde, die keine sein müssten, und steht der Bevölkerung, die man befreien wollte, am Ende, wie Anderson schreibt, "nur mit kugelsicheren Westen, Kevlar-Helmen und Waffen gegenüber". Hinzu komme die schlechte Energieversorgungslage (und das in einem Erdöl exportierenden Land), hohe Arbeitslosen- und Armutsraten und mangelnde Zukunftsperspektiven.
Zwei Punkte aber haben es Anderson besonders angetan: Die koloniale Vergangenheit des Irak und der daraus abgeleitete, fundamentale Widerstand vieler Iraker gegen Fremdbestimmung. Schon die Versuche der Briten und Türken, das Land zu beherrschen, wären niemals ganz erfolgreich gewesen. Kinder und Kindeskinder der irakischen Aufständischen gegen die imperiale Macht der Briten in den zwanziger Jahren oder der Dominanz der Türken in den Jahrzehnten zuvor erzählen Anderson von irakischen Kriegermythen und Heldensagen. Deutlich dabei wird auch, wie stark Saddam Hussein und seine Baath-Partei mit solchen Legenden politisch gearbeitet haben: Sie nahmen über lange Zeit in den Geschichtsbüchern und in der nationalen Kultur einen Rang ein, der ihnen im präsentierten Ausmaß gewiss nicht zusteht.
Solche Einblicke ins nationale Gedächtnis des Landes gelingen Anderson durch seine zahlreichen Gespräche mit diversen Irakern – vom hohen Baath-Funktionär bis zum im Iran lebenden Regimegegner und vom einfachen Kellner bis zum Lieblingskünstler Saddams. Das bringt nicht nur den Journalisten seinem Thema näher, umgekehrt suchen oft auch die Interviewten in Anderson einen Vertrauten. Von einigen Gesprächspartnern bekommt er vor dem Krieg den Wunsch zu hören, in einem Irak ohne Saddam leben zu wollen.
Doch fremde Soldaten sind deswegen noch lange nicht willkommen. Stellvertretend für viele bringt Scheich Korani, ein schiitischer Stammesführer aus dem Süden des Landes, die Stimmung auf den Punkt:
Natürlich wollen wir alle Saddam loswerden", sagte er leise. "Aber ich glaube, die Amerikaner werden im Irak Ärger bekommen. Wenn sie nämlich einen Militärgouverneur im Irak einsetzen, werden die Iraker stets denken: Er ist Amerikaner".
Eine weitere Stärke gewinnt Andersons Buch dadurch, dass in ihm deutlich wird, wie totalitär das Land unter der Baath-Herrschaft war. Der Autor entdeckt frappante Ähnlichkeiten zwischen dem Irak unter Saddam Hussein und der Sowjetunion unter Josef Stalin – zumindest was die Struktur des politischen Apparats und den Umgang mit Oppositionellen angeht. In beiden Ländern verschwanden zahlreiche Menschen spurlos, es gab Geheimprozesse, in denen Todesurteile gefällt wurden, anderen Hinrichtungen ging erst gar kein Gerichtsurteil voraus, Gefangene wurden gefoltert und getötet.
Einiges davon war im Irak bekannt und dennoch ließen sich kaum Proteste oder Widerstand dagegen vernehmen. Ala Bashir, einer von Saddams Leibärzten, erklärt Anderson, warum das so war:
Sie müssen bedenken, dass bei jedem Iraker irgendein Angehöriger aus der Familie im Gefängnis sitzt, entweder hier oder im Iran als Kriegsgefangener.
Über die Gefangenen habe sich das Regime die Angehörigen gefügig gemacht. Hinzu komme das weit verbreitete Machtnetz von Partei und Geheimdienst, dem Muchabarat.
Daran knüpft Anderson eine Entmachtung später an, wenn er die Situation im Bagdad des Jahres 2004 so beschreibt:
Entrechtete Stammesführer und arbeitslose Muchabarat-Agenten waren nur Teile des entstehenden komplexen Mosaiks im Irak nach Saddam, in dem jede nur vorstellbare politische Partei, jede Glaubensgemeinschaft und jede ethnische Gruppe um einen Platz an der Sonne kämpfte.
Andersons Perspektive ist die eines Journalisten, sie ist unparteiisch, aber nicht beliebig. Inmitten von Krieg und Terror bezieht er Stellung für das Recht der Bewohner der irakischen Hauptstadt auf Frieden und ein normales Leben.
Jon Lee Anderson: Die verwundete Stadt. Begegnungen in Bagdad. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins. München 2005, 536 S., 22,90 Euro