"Behinderte Menschen werden genauso erbarmungslos sanktioniert wie gesunde"

Heidi Steffen über den Umgang der Job-Center mit hörgeschädigten Menschen. Teil 1

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Heidi Steffen, die mit ihrem Verein Durchblick Hörgeschädigte betreut, ist der Meinung, dass in deutschen Job-Centern auf die Kommunikationsschwierigkeiten von arbeitslosen Hörgeschädigten zu wenig Rücksicht genommen wird und dass sie von Fallmanagern rüde behandelt und diskriminiert werden. Im Telepolis-Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen.

Frau Steffen, ihre Stimme klingt ganz schön heiser, was haben Sie denn soeben gemacht?

Heidi Steffen:: Ich telefoniere seit dreieinhalb Stunden mit dem Arbeits- und Sozialministerium. Ich möchte eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob es jetzt in den sechs Wochen Ferien eine Möglichkeit für die Kinder und Jugendlichen hörgeschädigter Hartz IV beziehender Eltern gibt, zwecks einer Weiterbildung eine Busfahrkarte finanziert zu bekommen. Diese kann ja nicht von den Bezügen bezahlt werden.

Niemand konnte mir bislang auf diese einfache Frage eine Antwort geben. Gerade eben habe ich eine Telefonnummer für das Referat 505 erfahren, wo ich Antwort bekommen soll. Der junge Mann soeben war sehr nett, was mir auch selten passiert. Heute wurde mir bereits dreimal während des Gesprächs aufgelegt.1.

"Nur eine Mini-Stelle"

Sie betreuen seit neununddreißig Jahren Hörgeschädigte als Oraldolmetscherin und Interessenvertreterin. Welche Auswirkungen haben die Hartz-IV-Reformen für diese Leute?

Heidi Steffen: Die erste Auswirkung ist meiner Wahrnehmung nach, dass man für sie absolut nichts tut: Man lässt sich die Eingliederungsvereinbarung unterschreiben, dann offeriert man ihnen zwei bis drei Vorschläge minderwertiger Arbeitsplätze, die dann aber auch schon mindestens vier Wochen abgearbeitet und anderweitig durch Hörende besetzt wurden. Dann gibt es auch noch die Vermittlungsgutscheine, die man aber meiner Erfahrung nach nur schwer eingelöst bekommt.

Ein Beispiel: Im Jahr 2010 hat meine arbeitslose, hochgradig hörgeschädigte Tochter durch eigene Initiative einen Mini-Job im Pflegedienst als Hauswirtschafterin bei einem schwerkranken Mann bekommen.2. Schon bei Pflegestufe 1 werden 10 Std. Hauswirtschaft von der Krankenkasse bezahlt - und das sind hörgerätetaugliche Arbeitsplätze.

Ich habe dann versucht beim Job-Center den Vermittlungsgutschein einzureichen, der aber nicht angenommen wurde. Begründung: Der Job wäre nur eine Mini-Stelle. Dabei habe ich über drei Monate mit allen Pflegediensten mehrfach verhandelt, die zwar den Schwerkranken mit Pflegestufe 1 aufnehmen, aber nicht meine Tochter für den hauswirtschaftlichen Bereich einstellen wollten. Das Geld habe ich also nicht gesehen.

Außerdem war ich für meine Tochter laufend bei ihrer Arbeitssuche als Dolmetscherin tätig und habe dies dann in Rechnung gestellt. Dieses Geld habe ich ebenfalls nicht bekommen, auch andere Rechnungen stehen noch aus. Dolmetscher werden laut Gesetz nach dem JVEG bezahlt, nur nicht bei den Jobcentern und schon gar nicht für die zusätzliche geleistete Arbeit und investierten Kosten.

"Rückrufe der Mitarbeiter erfolgen äußerst selten"

Welche Erfahrung haben Sie generell mit den Job-Centern gemacht?

Heidi Steffen: Wie gesagt setze ich mich seit 39 Jahren und seit 2005 mit einer eigenen Einrichtung für die Hörgeschädigten bei Behörden ein. Bei der ARGE ist man unendlich lange in der Warteschleife der Callcenter und Rückrufe der Mitarbeiter erfolgen äußerst selten. Dafür bekomme ich aber nicht nur kein Geld, sondern die Job-Center ersetzen mir nicht einmal die Auslagen vollständig, die ich zum Beispiel als Dolmetscherin habe. Ich muss also noch Geld mitbringen und auf meine Kosten mit Firmen telefonieren, mit ihnen verhandeln und auch noch auf eigene Kosten mit dem Hörgeschädigten zu den Vorstellungsgesprächen fahren.

Ich arbeite deshalb vorwiegend kostenfrei für die Job-Center und muss auch noch ihre Schriftsätze in einfache Sprache übersetzen, damit meine Hörgeschädigten erfahren, was die Jobcenter von ihnen wollen, oder ihre Formblätter ausfüllen. Beschwerden darüber wurden später umgedreht, oder ausgebremst. Barrierefreiheit ist in den Jobcentern, in denen ich war, für Hörgeschädigte absolut nicht vorhanden. Dolmetscher werden von diesen Jobcentern nicht, wie es im Gesetz steht, freiwillig zugezogen. Und letztendlich bezahlt man diese oft erst nach Klagen vor dem Sozialgericht.

Werden Hörgeschädigte von den Ämtern genauso behandelt wie gesunde Leute?

Heidi Steffen:: Ja. Ob jemand hörgeschädigt ist, interessiert die Ämter absolut nicht. Die Hörgeschädigten bekommen Angebote für Stellen, die nicht für Menschen mit Hörgerät geeignet sind, oder die schon längst besetzt sind. Oder sie müssen an irgendwelchen, sinnlosen Maßnahmen teilnehmen, die für Hörgeschädigte ungeeignet sind, weil sie dort nicht ausreichend hören können und weil dort keinerlei Rücksicht auf ihre Hörbehinderung genommen wird.

Sie bekommen auch nicht mehr Geld vom Job-Center, obwohl sie beispielsweise die Batterien und die Ersatzteilrechnungen für ihre Hörgeräte selbst bezahlen müssen. Das Gehörlosengeld, ähnlich wie das Blindengeld, wird in ganz vielen Bereichen Deutschlands nicht gezahlt und die Steuerfreibeträge können sie wegen des fehlenden Verdienstes nicht nutzen. Sie werden also rundum benachteiligt.

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