"Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo"
Seite 2: Statistisch signifikant, nicht klinisch relevant
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- Statistisch signifikant, nicht klinisch relevant
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In die Diskussion schaltete sich auch PD Dr. Martin Plöderl ein, Suizidpräventionsforscher an der Medizinischen Paracelsus-Universität in Salzburg. Er machte den Hinweis, der Effekt der neuen Lancet-Studie sei zwar statistisch signifikant, nicht aber klinisch relevant. Tatsächlich wurde in der medialen Berichterstattung vor allem die Botschaft verbreitet, Antidepressiva würden wirken - wie stark diese Wirkung ist, wurde jedoch kaum kommuniziert. Was ist Ihre Sicht auf diesen Punkt?
Michael P. Hengartner: Ja, das ist genau das grundlegende Problem. Es wird - wohl bewusst - selten über die Effektstärke berichtet. Ich habe oben bereits erläutert, dass bei einer Effektstärke dieser Größenordnung rund 90% der Wirksamkeit auf Placeboeffekte zurückzuführen ist. Dies heißt aber nicht, dass die restlichen 10% zwingend auf die medikamentöse Wirkung zurückzuführen sind.
Wie in meiner Übersichtsarbeit und im Interview erwähnt, gibt es zahlreiche methodische Verzerrungen, welche diesen restlichen Effekt erklären können. Prof. Peter Gotzsche, Direktor des Nordic Cochrane Center und einer der arriviertesten Forscher in der Medizin, hatte beispielsweise berechnet, dass die Wirksamkeit von Antidepressiva vollends verschwindet, wenn die Verzerrung durch den Beobachtereffekt statistisch mitberechnet wird. Der Beobachtereffekt beruht auf dem Umstand, dass die Begutachter in den Studien aufgrund spezifischer Nebenwirkungen meistens erahnen können, welcher Patient den Wirkstoff bekommt und wer das Placebo.
Medikamente, die wirken, weil sie neu sind?
Diese Verzerrung zeigte sich übrigens auch in der Lancet-Studie: So wurden Medikamente, wenn sie neu auf den Markt kamen und die Hoffnung auf Wirksamkeit hoch war, deutlich wirksamer eingeschätzt, als wenn sie nicht mehr ganz neu waren. Da ein Medikament ja nicht an Wirksamkeit verliert, nur weil es bereits ein paar Jahre auf dem Markt ist, ist dies ein klares Indiz dafür, dass die Erwartungshaltung der Begutachter die Ergebnisse verfälscht hat.
Aber auch diese wichtige Information wurde in den Medienberichten mit einigen wenigen Ausnahmen unterlassen - Spiegel Online veröffentlichte im Gegensatz zu anderen Medien einen durchweg kritischen Bericht und hatte auf diesen Umstand hingewiesen. Dass aber führende Psychiatrieprofessoren wie Carmine Pariante in ihren Stellungnahmen solch wichtige Aspekte mit keinem Wort erwähnen, finde ich sehr bedenklich und stellt deren wohlwollende Interpretation der Studie in Frage.
Um die zweifelhafte Wirksamkeit der Medikamente nochmals mit anderen Zahlen zu verdeutlichen: Der mittlere Unterschied zwischen Antidepressiva und Placebo in der Lancet-Studie und früheren Analysen entspricht rund 2 Punkten auf der meistverwendeten Depressions-Beurteilungsskala, welche von 0 bis 54 Punkte reicht. Oftmals wird auf dieser Skala eine Differenz von mindestens 3 Punkten für einen klinisch minimalst bedeutsamen Effekt vorausgesetzt. Dieser Wert wurde jedoch eher willkürlich festgelegt.
Wissenschaftliche Befunde suggerieren, dass eine Fachperson erst ab 7 Punkten eine minimale Verbesserung in der depressiven Symptomatik eines Patienten wahrnehmen kann. Selbst wenn man annimmt, dass der ermittelte Effekt von 2 Punkten nicht durch Verzerrungen aufgebläht wurde, was sehr unwahrscheinlich ist, so ist die angebliche Wirksamkeit von Antidepressiva dennoch dermaßen klein, dass selbst der geübteste Kliniker diesen Effekt bei seinen Patienten unmöglich feststellen könnte.
Und die Psychotherapie?
Ihnen wurde auch eine zu unkritische Sicht auf die Psychotherapie vorgeworfen. Am Anfang unseres Gesprächs hatten Sie erwähnt, sich auch mit der Psychotherapieforschung beschäftigt zu haben. Darauf sind wir aber nicht mehr zurückgekommen. Vielleicht können Sie hier nun ergänzen, zu welchen Ergebnissen sie diesbezüglich gekommen sind. Verdienen Sie eigentlich selbst Geld als Psychotherapeut?
Michael P. Hengartner: Ich habe soeben eine kritische Arbeit zur Wirksamkeit von Psychotherapie publiziert. Auch hier haben systematische Verzerrungen in der Methodik zu einer deutlichen Überschätzung der kurzfristigen Wirksamkeit geführt.
Jedoch wissen wir inzwischen auch, dass sich der primäre Nutzen der Psychotherapie im Vergleich zur medikamentösen Behandlung nicht in der kurzfristigen Symptomreduktion äußert, sondern hauptsächlich in einer dauerhaften und nachhaltigen Beschwerdefreiheit. Dies wurde in mehreren Meta-Analysen repliziert.
Zudem verbessert Psychotherapie auch das soziale Funktionsniveau der Patienten, was Medikamente nicht können. Und ich verdiene kein Geld als Psychotherapeut. Ich bin momentan einzig und allein in Forschung und Lehre tätig.
Steigende Diagnosezahlen
Zum Schluss noch eine Frage aus aktuellem Anlass: Die Barmer Ersatzkasse veröffentliche gerade am 22. Februar ihren Arztreport 2018. Darin heißt es, die Anzahl der Diagnosen für depressive Störungen bei jungen Erwachsenen sei von 4,3% im Jahr 2005 auf 7,6% im Jahr 2016 gestiegen, also um beachtliche 75%.
Auch die Anzahl derer, die Antidepressiva verordnet bekamen, sei von 2,1% auf 3,3% gestiegen. Sogar noch stärker, nämlich um 89%, habe die Diagnose für Reaktionen auf schwere Belastungen zugenommen: Diese erhielten inzwischen 6,6% der jungen Erwachsenen.
Nun behaupten aber die führenden Forscher zur Häufigkeit psychischer Störungen seit vielen Jahren, es gebe keinen Anstieg. Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung selbst mit der Epidemiologie, also mit der Häufigkeit psychischer Störungen. Was ist Ihre Sichtweise auf dieses Thema?
Michael P. Hengartner: Diese Zahlen in der genannten Arbeit beruhen auf diagnostizierten Fällen, das heißt, auf der Diagnosestellung durch zuständige Fachpersonen (z.B. Hausärzte oder Fachärzte in Kliniken). Nun hat die Sensibilisierung für die Diagnose Depression tatsächlich dazu geführt, dass sie von Fachpersonen stärker berücksichtigt wird und darum auch häufiger diagnostiziert wird, wohingegen die Störung vor vielleicht 20-30 Jahren, selbst wenn vorhanden, oftmals nicht erkannt wurde und darum auch nicht diagnostiziert wurde. Darum der Anstieg der Diagnose in den letzten Jahren.
Hierbei geht es aber nur um die Bestimmung der Störung, das heißt, um die Diagnosestellung. Die Verbreitung der Störung in der Allgemeinbevölkerung hat deswegen nicht zugenommen. Fast alle epidemiologischen Studien kommen zum Schluss, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von Depressionen in der Bevölkerung seit vielen Jahren nahezu unverändert hoch ist. Zu diesem Ergebnis kam auch eine neuere Studie.
In dieser Arbeit wird auch aufgezeigt, dass die massive Zunahme der Antidepressivaverschreibungen nicht zu einer Reduktion der Depressionshäufigkeit geführt hat. Das finde ich sehr interessant, denn sollten die Medikamente tatsächlich wirksam sein, dann hätte die vielfache Zunahme in den Verschreibungsraten seit den 1990er Jahren ja zu einem deutlichen Rückgang der Störung führen sollen.
Antidepressiva, sofern wirksam, sollten ja nicht nur die Symptome abmildern oder gänzlich beseitigen. Sie sollten angeblich auch Wiedererkrankungen vermeiden. Folglich sollte die Rechnung lauten: Je mehr Antidepressiva, desto weniger depressive Episoden. Leider ist es aber nicht so.
Das ist natürlich auch den Autoren aus der obengenannten Studie aufgefallen. Nur interpretieren sie diesen Widerspruch dahingehend, dass die Medikamente nicht an die richtigen Personen in der richtigen Dosierung verschrieben werden. Dies mag zu einem gewissen Grad sicherlich zustimmen, doch meines Erachtens ist die plausiblere Erklärung, dass die Medikamente größtenteils einfach wirkungslos sind. Nur so kann ich mir erklären, dass die Häufigkeit von Depressionen nicht rückläufig ist.
Wer differenzierte und wissenschaftlich fundierte Informationen über Antidepressiva sucht, insbesondere auch über die oftmals verschwiegenen schädlichen Langzeitfolgen oder über schwere Enzugssymptome beim Absetzen, sei auf die Internetseite des "Council for Evidence-Based Psychiatry" verwiesen. Diese Seite wird von führenden Experten auf dem Gebiet unterhalten und laufend aktualisiert.
Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.