Berg-Karabach: Der endlose Konflikt im "schwarzen Garten"

Seite 4: Ein Beratungsangebot

Eine Beratung der Konfliktparteien und der hinter ihnen stehenden Mächte in diese Richtung nehmen Vertreter von Eurac Research und der Südtiroler Landesverwaltung jederzeit gerne vor. Für solche Beratungen hat Eurac Research im Februar 2019 zudem ein eigenes Center gegründet, das "Eurac Center for Autonomy Experience", das zugleich eine Brücke zwischen Wissenschaft und Landesverwaltung darstellt. In diesem Rahmen könnte man Vertreter der Konfliktparteien mit bewusst nachhaltigkeitsorientierter Vor- und Nachbereitung nach Südtirol einladen. Gegebenenfalls könnte man auch den Südtiroler EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann einbeziehen, der Präsident der Europäischen Parlamentarischen Gesellschaft (EPG) sowie Vorstandsmitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) ist.

Allerdings waren bisherige Autonomieerfahrungen in Berg-Karabach eher wechselhaft bis negativ. Autonomie wurden versprochen, zum Teil gewährt und wieder genommen. Für jede mögliche Autonomielösung kommt zudem viel auf die konkrete territoriale Verteilung der ethnischen Gruppen an - leben sie gemischt oder nach Gruppen getrennt?

Da in Berg-Karabach heute 99 Prozent Armenier leben, in den umgebenden Distrikten hauptsächlich Aserbaidschaner, sind Prinzipien der Südtirol-Autonomie wie der sogenannte "ethnische Proporz" kaum anwendbar. Dieser sieht die Verteilung der Einnahmen sowie der Stellen in der Landesverwaltung nach ethnischen Kriterien vor. Bei nur ein Prozent Aserbaidschanern ist dies hier jedoch kaum relevant, kann aber ein Zeichen guten Willens sein. Trotz dieser Einschränkungen ist aber eine Selbstverwaltung prinzipiell machbar, gegebenenfalls auch eine territoriale Steuerhoheit.

Wesentliche Unterschiede zum Südtirol-Konflikt

Ein wesentliches Hindernis ist der fehlende Wille beider Seiten zu einer definitiven Lösung - und im Unterschied zu Südtirol die nicht-identische Religion mit einem Islam, der sich international in einer Krise befindet, wie Fareed Zakaria schon 2014 in der Washington Post schrieb, sowie die Nicht- oder Halbdemokratie auf beiden Seiten sowie in beiden Hintergrundmächten Russland und Türkei. Das unterscheidet die Lage von jener, die zwischen 1972 und 1992 zum Abschluss der Grundlagen des heutigen Südtirol-Modells geführt hat. Damals wurde die Autonomie zwischen Österreich und Italien verhandelt - also zwischen zwei Staaten, die beide katholisch waren, beide Demokratien und wo nach der Kriegserfahrung ein Wille zur Konsensfindung bestand.

Wie Erhard Crome treffend hervorgehoben hat, gab es im Fall Südtirol "keine religiöse Aufladung des Konflikts - alle waren katholisch. Und: es gibt heute als Dach über dem Ganzen die EU (wie über Elsass-Lothringen): alle sind Unionsbürger, bezahlen mit demselben Euro und die Grenzen sind offen. Das alles fehlt in der Kaukasus-Region und trägt gewissermaßen zur Konfliktaufladung bei."

Weitere Unterschiede sind die Südtirol-Konzeption dynamischer Autonomie, die den Teilinteressen beider Seiten zuwiderläuft, aber auch das Problem, dass in Südtirol Polizei und Militär dem Staat Italien vorbehalten bleiben. Das erscheint vielen in Berg-Karabach als Usurpation und macht die Akzeptanz einer Autonomieregelung ohne eigene Polizeigewalt fraglich. Im Grunde handelt es sich hier jedoch eigentlich um ein unterentwickeltes Verständnis dafür, was Autonomie ist: eine Kompromisslösung. Autonomie im Sinn des Südtirol-Arrangements bedeutet bei aller Selbstständigkeit doch die Zugehörigkeit zu einem Staat anderer kultureller Identität und Historie. Ein Problem ist darüber hinaus die weitgehend fehlende Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Befriedungsprozess.

Oder wie es Uwe Halbach treffend auf den Punkt brachte:

"Die OSZE-Mediation in dem Konflikt vollzieht sich auf hoher diplomatischer Ebene. Zivilgesellschaftliche Kräfte sind in den Prozess nur unzureichend einbezogen. In einem autoritär regierten Staat, wie Aserbaidschan, haben Nichtregierungsorganisationen einen schweren Stand, und das gilt erst recht für Akteure, die sich für einen Dialog mit dem Konfliktgegner einsetzen. Aber auch auf armenischer Seite stoßen friedenspolitische Kräfte auf erhebliche Vorbehalte.

Auf beiden Seiten besteht ein hohes Maß an Misstrauen und ein äußerst geringes Maß an Kompromissbereitschaft. Diese mentalen Barrieren verhärteten sich durch den ‚April-Krieg‘ von 2016 weiter. Nach dem Machtwechsel durch die ‚Samtene Revolution‘ in Armenien kam es 2018 zu einer kurzen Entspannungsphase, in der in Jerewan und in Baku Kompromissbereitschaft signalisiert wurde. Doch schon Anfang 2019 wurde der Ton wieder rauer, und die Fronten verhärteten sich wieder."

Insgesamt ist die Gretchenfrage: "Gibt es Spielraum für politische Initiative?" aus aktueller Sicht nur unzureichend zu beantworten. Die komplizierte Situation bedarf weiterer Verhandlungen und Klärungsprozesse. Wahrscheinlich ist aber mittel- bis langfristig: Ohne maßgeschneiderte Autonomielösung für Berg-Karabach wird, unabhängig von der bestehenden oder fehlenden Bereitschaft der Regierenden, der Konflikt weiter schwelen. Die internationale Gemeinschaft sollte nicht auf die Entzündung neuer Revanchismen warten.

Die innenpolitische Zuspitzung der Lage in Armenien nach dem verlorenen Krieg von 2020 mit einem von Regierungschef Paschinjan verurteilten "Versuch eines Militärputsches" im Februar 2021, nachdem sich das Militär auf die Seite der Opposition gestellt und den Rücktritt von Paschinjan gefordert hatte, war ein ernstes Warnzeichen. Wie sich US-Präsident Joe Bidens Ankündigung vom April 2021, die Massenmorde an Armeniern im 20. Jahrhundert als Völkermord einzustufen, auf das Verhalten der Türkei in der Region auswirken wird, bleibt ebenfalls abzuwarten.

Die Perspektive ist gegeben, aber begrenzt. Österreich und Italien können hauptsächlich über die EU mit der Trumpfkarte Südtirol-Modell aktiv werden und punkten. Für einen nachhaltigen Erfolg genügen keine diplomatischen oder zwischenstaatlichen Versöhnungs-Gesten, sondern ist mühsame Detailarbeit vor Ort nötig. Auch in Berg-Karabach wird weiterhin gelten: Die Geschichte ist ein übermenschlicher Prozess, der von Menschen gemacht wird. Im paradoxalen Spannungsfeld zwischen Möglichem und Nicht-Beeinflussbarem wird sich jede Konfliktlösungsstrategie vor Ort bewusst bewegen müssen.

Roland Benedikter ist Ko-Leiter des Centers for Advanced Studies von Eurac Research Bozen und Forschungsprofessor für multidisziplinäre Politikanalyse in residence am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw-Breslau. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.

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