Berg-Karabach: Der endlose Konflikt im "schwarzen Garten"
Seite 3: 2. URSACHEN UND HINTERGRÜNDE
Die Ursachen und Hintergründe, warum im Herbst 2020 nach immer wieder schwelenden Kleinkonflikten ein neuer offener Krieg ausbrach, liegen wie stets bei größeren militärischen Konfrontationen im Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Hauptsächlich wirkten hier fünf Dimensionen zusammen, die sich unter den gegebenen Bedingungen gegenseitig verstärkten. Wie stets war die historische Situation ausschlaggebend, da Einzelgründe meist nur dann zu einem Krieg führen, wenn die sie umgebende größere Geschichte es ermöglicht oder begünstigt. Die fünf Dimensionen sind folgende:
1. De-Internationalisierung und Trend zum Neonationalismus in der globalen Großwetterlage: Der Kaukasus gilt als Pulverfass mit vielen "unlösbaren" Konflikten, die nach Meinung vieler Beteiligter solange eingefroren werden müssen, bis der historische Augenblick für eine konsensuale Lösung kommt. Das setzt aber einen gewissen Status des Primats von Multilateralismus und internationalem Recht auf allen Seiten voraus. Dieser Status wurde in den vergangenen Jahren geschwächt, und damit veränderte sich das internationale und davon abhängig auch territoriale Klima.
Seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre herrschten global Neonationalismen vor, die zu stärkeren nationalen Initiativen ermutigen, sodass eine wachsende Bereitschaft herrschte, Balancen zwecks Befriedigung eigener Interessen außer Kraft zu setzen. Staaten besannen sich auf Eigeninteressen zurück, auch regional. Die Politik der Einflusssphären erlebte ihre Wiederauferstehung auch mittels des "return of geography" (Paul Dibb), auch "revenge of geography" (Robert D. Kaplan) genannt, als strategische Mentalität.
Daher kann man den jüngsten Krieg als neonationalen Krieg bezeichnen, insbesondere zwischen den beteiligten Staaten Aserbaidschan und Armenien, aber auch der dahinterstehenden Interessensmächte Russland (Armenien) und Türkei (Aserbaidschan). Iran als regionale Macht mit direkter gemeinsamer Grenze war als dritte Partei indirekt involviert, hat aber bis zu einem Drittel Aserbaidschanisch-Stämmige (Aseris) in seiner Bevölkerung und will deshalb nicht in einen neuen Nationalismus Aserbaidschans hineingezogen werden.
2. Stellvertreterkrieg Russland-Türkei mit neuen Großmachtambitionen. Der Berg-Karabach-Krieg 2020 war auch ein "proxy war": ein Stellvertreterkonflikt. Es entstanden neue regionale Großmachtansprüche angrenzender Mächte. Das hat zu strategischen Manöver in der Zone geführt. Dabei herrschte eine paradoxe Logik vor: Beide Mächte, Russland und die Türkei, konnten aus dem Konflikt Profit schlagen.
Denn mittels des jüngsten Bergkarabach-Konflikts vom Herbst 2020 haben sich beide Großmächte faktisch gegenseitig geholfen, ihre Präsenz im Kaukasus zu stärken und ihre beiderseits territoriale Großmachtpolitik im Stile des 19. Jahrhunderts "dialektisch" auszubauen und die Gesamtzone unter sich aufzuteilen. Einerseits ist Aserbaidschan abhängiger von der Türkei geworden; andererseits hat sich Russland neben seiner bereits bestehenden Militärbasis noch stärker in der Gegend festgesetzt, indem es die Befriedungstruppen stellt und Armenien noch abhängiger von seiner Schutzmacht geworden ist.
Allerdings besteht die Gefahr, dass es, wenn dieser Prozess der regionalen Stärkung beider Hintergrundmächte abgeschlossen ist, zu Konflikten zwischen Russland und der Türkei kommen kann - die zugleich in anderen Zusammenhängen wie Syrien zum Teil Partner sind oder zumindest teilweise strategisch zusammenarbeiten.
3. Innenpolitische Gründe. Aufrüstung, die beidseits von Russland bereitgestellt wurde, war seit 1994 auf beiden Konfliktseiten zunehmend zivilreligiös aufgeladen. Der Identitäts-Revanchismus wurde stärker. Dazu kam ein gewisser Populismus auf beiden Seiten, der naturgemäß mit der ethnischen Komponente spielte. Auf beiden Seiten wuchsen nationalistische Populismen, die Symbolstrategien verwendeten, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Ein innenpolitisch-nationalistischer Streitpunkt war die Autobahn Jerevan-Stepanakert, die ein Instrument zur "Integration" Berg-Karabachs war und auch von beiden Seiten so verstanden wurde - ähnlich wie auf dem Balkan die Autobahn Tirana-Pristina.
4. Die christlich-islamische Bruchlinie. Armenien ist christlich und sieht sich sogar als "urchristliche" Nation, Aserbaidschan ist islamisch mit sunnitischer Ausrichtung. Beide Seiten waren in Sowjet- und Post-Sowjet-Zeiten säkularisiert. Die Verantwortlichen versuchten, die religiöse Komponente abzuschwächen. Doch seit der "Rückkehr der Religion" in den 1990er Jahren hat sie sich verstärkt. Dazu gehörte auch die Rolle christlichen Aktivismus der armenischen Diaspora in Frankreich, aber auch des Islam - ebenfalls in Frankreich -, das in den vergangenen Jahren immer wieder von Terror im Namen der Religion erschüttert wurde. Das wirkte in das Konfliktgebiet zurück. Dass Frankreich im OSZE Minsker Rat sitzt, ist dabei eine nicht ganz unwichtige Fußnote.
5. Wirtschaftliche Interessen. In der Nähe der umstrittenen Gebiete verlaufen zwei Pipelines. Die Frage der Ressourcenkontrolle darf nicht unterschätzt werden, da sie gerade in Zeiten der anstehenden Energiewende für davon abhängige Nationen als besonders bedeutend empfunden wird.
Zu den Ergebnissen des jüngsten Konflikts stellen sich viele Fragen. Warum hat Aserbaidschan den Krieg 2020 gewonnen, wo es doch jenen von 1994 verloren hat? - Weil es inzwischen wirtschaftlich und als Folge davon auch militärisch weit stärker ist als 1994, vor allem wegen seiner Bodenschätze, insbesondere Öl und Gas - und weil es von der Türkei aktiv unterstützt wurde. Dagegen agiert auf armenischer Seite Russland tendenziell zurückhaltender wegen seiner vorhergehenden Ukraine- und Krim-Politik.
Eine wichtige Rolle bei der Neueskalation zum offenen Konflikt spielte auch die allgemein expansivere Haltung der autoritären türkischen Regierung von Recep Tayyip Erdogan - vor allem seit dessen "umfassender" Machtübernahme 2014 sowie nach dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016. Erdogan träumt von einer islamischen Großmacht zwischen Ost und West und sieht Aserbaidschan ebenso als sein Einflussgebiet an wie die chinesische Provinz Xinjiang (Uiguren). Er betreibt Großmachtpolitik vom Kaukasus über Syrien bis nach Libyen.
Deshalb meinten manche, dieser Krieg sei ironischerweise das Ende eines unabhängigen Aserbaidschan, weil das Land von der Türkei abhängiger denn je geworden sei. Darin liegen, wie immer bei Konflikten, Revanche-Gelüste derer, die sich für unterschätzt oder nicht ernst genommen halten. Erdogan will vor allem der EU Einflussstärke beweisen.
Dazu erklärte zusammenfassend der Geschäftsführende Direktor des Welttrends-Instituts für Internationale Politik Potsdam, Erhard Crome, im Dialog mit dem Autor:
"Das Agieren Russlands und der Türkei in der Region meist als Konkurrenz dargestellt. Dabei ist die Quintessenz ihres Agierens im Kaukasus wie im Nahen Osten, dass sie ihre Positionen beide ausbauen, nicht gemeinsam, sondern in einer Scheinkonkurrenz, die im Grunde auf Wechselseitigkeit hinausläuft. Dabei drängen sie den Westen, EU wie USA, aus den Konflikten und deren Lösung hinaus und geopolitisch aus der Region.
Die Türkei hat ihre Kontrolle über Aserbaidschan erhöht. Putin wollte nie schlechte Beziehungen zu Alijew. In Armenien hatte Paschinjan bei seiner ‚samtenen Revolution‘ Richtung Westen geblinzelt. Insofern kam dessen bzw. Armeniens Niederlage 2020 gerade recht: Russland ist in der Region jetzt mit Friedenstruppen stärker und vertraglich untersetzt präsent, und ein neuerlicher Maidan rückte in weite Ferne.
Paschinjan hat Putin zu verdanken, dass Armenien nicht ganz Karabach verlor, und Erdogan hat dafür gesorgt, dass Aserbaidschan nicht das ganze gewinnen konnte. Das West-Blinken wird von Biden mit der Anerkennung des Genozids an den Armeniern im ersten Weltkrieg gerade beantwortet. Das scheint mir aber eine eher hilflose symbolische Geste zu sein. Im übrigen umgehen alle Analytiker eine interessante geopolitische Frage: indem Erdogan die derzeit arbeitslosen IS-Kämpfer nach Libyen, den Tschad oder in den Kaukasus lässt, damit sie dort als Glaubenskämpfer sterben können, reduziert er deren Anzahl in Idlib. Das heißt, Russland und Assad müssen dort nicht mehr groß bombardieren, bevor das Gebiet eines Tages wieder der Regierung in Damaskus unterstellt wird, wer immer dann dort Präsident ist."
3. LÖSUNGSANSÄTZE
Für Lösungsansätze und Perspektiven kommen im wesentlichen drei Bausteine in Betracht:
1. Das Waffenstillstandsabkommen vom 10. November 2020 forderte unter anderem die Einstellung der Kampfhandlungen, die Rückgabe aller zuvor von armenischen Truppen kontrollierten Distrikte in der Umgebung Berg-Karabachs an Aserbaidschan, die Stationierung russischer Friedenstruppen in Berg-Karabach, die Rückkehr von Flüchtlingen unter Aufsicht der UN-Flüchtlingsorganisation.
2. Die sechs Madrider Prinzipien wurden von der OSZE 2007 vorgelegt. Sie waren nicht als Lösung, sondern als Entspannungs- und zugleich Einfrierungsmechanismen gedacht, die - in zum Teil bewusst unpräziser Weise - einen Weg zur Lösungsvorbereitung einleiten sollten. Oder wie es Uwe Halbach (Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin) zusammenfasste:
"Seit 1992 vermittelt die Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in dem Konflikt, zu der auch Deutschland gehört. Seit 1997 steht sie unter der Leitung von drei Ko-Vorsitzenden: USA, Russland und Frankreich… Seit 2007 liegen die sechs Madrider Prinzipien auf dem Verhandlungstisch. Sie sehen sechs zentrale Grundsätze ("basic rules") für eine Konfliktlösung vor:
1. Die Rückführung von fünf der sieben Provinzen in der Umgebung Berg-Karabachs unter aserbaidschanische Staatshoheit;
2. einen Interim-Status für Berg-Karabach (bis zur endgültigen Lösung), der Sicherheit und Selbstbestimmung für seine Bevölkerung garantiert;
3. einen Korridor zwischen der Republik Armenien und Berg-Karabach (der sogenannte Lachin-Korridor)
4. die zukünftige Regelung des Status Berg-Karabachs durch gesetzlich bindende Willensbekundung der Konfliktparteien;
5. das Recht aller Vertriebenen und Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimatorte sowie
6. internationale Sicherheitsgarantien und Peacekeeping."
Punkt 1 hat sich mit dem Kriegsausgang vom 10. November 2020 erledigt, denn alle sieben Distrikte wurden von Aserbaidschan zurückerobert und im vorläufigen Waffenstillstand Aserbaidschan zugesprochen. Die restlichen Punkte sind offen, wobei Punkt 5 zumindest rhetorisch konsensfähig scheint.
3. Das Südtirol-Modell. Hier ginge es um eine territoriale Selbstverwaltung Berg-Karabachs, gegebenenfalls unter Einbeziehung ethnischer Proportionalitäten (Proporz-Modell), und mit internationaler Absicherung zur Stabilisierung trotz möglicherweise weitergehender Mikro- und Meso-Konflikte. Der Weg zu dauerhafter Befriedung könnte neben den sechs Madrider Prinzipien, die an sich nur Übergangsorientierungen zur Eindämmung bleiben, sein: Autonomie für Berg-Karabach innerhalb Aserbaidschans nach Südtirol-Vorbild, möglicherweise in Teilaspekten auch für die nun (wieder) unter aserbaidschanischer Verwaltung stehenden sieben Distrikte, um die regionale Einheit und Verständigung zu fördern.
Das Südtirol-Modell hat der aserbaidschanische Präsident Ilhan Aliyev im Oktober 2020 als mögliche Konfliktlösungsstrategie ins Spiel gebracht, was dazu führte, dass beide Konfliktparteien Italien zeitweise als Vermittlungsmacht anriefen. Dabei ist, wie im Südtirol-Konflikt, die Haltung der Schutzmacht mit entscheidend: im Fall Südtirol war es Österreich. Die Situation wird im Fall Berg-Karabach dadurch erschwert, dass es hier zwei Schutzmächte sind: Russland und die Türkei. Dazu kommt die ungeklärte Rolle des Irans.
Was also ist realistisch?
4. PERSPEKTIVEN
Territoriale Selbstverwaltung auf der Grundlage einer Autonomie bei Zugehörigkeit zu einem der Konfliktstaaten kann ein gangbarer Weg für Berg-Karabach sein, der Erfolge verspricht. Das Südtirol-Modell ist dazu eine gute Vorlage. Es ist ebenfalls ein polyethnisches Berggebiet und bietet beiden Seiten das Narrativ einer Erfolgsgeschichte, sodass es den Befürwortern territorialer Autonomie von Anfang an eine gewisse Legitimation verleihen kann.
Auf der anderen Seite stehen die Unterschiede in der historischen, politischen, kulturellen und religiösen Situation. So idealtypisch das Südtirol-Modell auf den ersten Blick zu "passen" scheint, so kommt doch in Zeiten der "Re-Globalisierung" viel, ja Entscheidendes auf Kontextualisierung und "Glokalisierung" an. Beide hängen entscheidend vom Willen aller Seiten sowie der umgebenden historischen Situation ab. Dieser Willen ist derzeit vor allem bei den Siegern nicht gegeben, während bei den Verlierern Trauma-begünstigte "Rückhol"-Fantasien vorherrschen.
Aus dieser Sicht wird das Südtirol-Modell zwar nicht unmittelbar anwendbar sein, kann aber als Prozess- und Entwicklungsperspektive zur Stabilisierung der Situation beitragen. Es könnte in den kommenden Jahren um eine Grundsatzerklärung sowie um die versuchsartige Arbeit an der Anpassung verschiedener Klauseln und Mechanismen gehen. Als Voraussetzung dafür könnte vorab eine gemeinsame Einladung von Delegationen aus allen drei beteiligten Gebieten: Berg-Karabach, Aserbaidschan und Armenien nach Südtirol sinnvoll sein, um sich das Autonomie-Modell in Praxis, Errungenschaften, Chancen und Grenzen direkt anzusehen, am besten in Kooperation und Austausch mit Wien und Rom.
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