Beschleunigt das urbane Leben das Ende der Volksparteien?

Nach dem jüngsten Wahldebakel in Dresden stellt die Union in keiner Großstadt mehr den Oberbürgermeister, auch für andere Parteien werden die Metropolen zum schwierigen Terrain

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"Die CDU regiert in keiner Großstadt mehr", titelte die FAZ im Sommer 2014. Diese Feststellung war nicht ganz korrekt, denn nach einer Definition der Internationalen Statistikkonferenz von 1887 gelten bereits Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern als Großstadt. Der Union helfen solche Spitzfindigkeiten allerdings nicht weiter, weil sich CDU und CSU kaum damit trösten können, dass sie noch die Oberbürgermeister in Augsburg, Osnabrück, Hamm, Krefeld oder Münster stellen.

Nach dem katastrophalen Ergebnis von 15,4 Prozent, das Sachsens Innenminister Markus Ulbig Anfang Juni beim Urnengang in Dresden einfuhr, sind die Oberbürgermeister der 15 größten deutschen Städte SPD-Mitglieder - mit Ausnahme von Stuttgart, wo 2012 der Grüne Fritz Kuhn gewählt wurde. In diesen Kommunen leben über 13 Millionen Menschen und damit zahlreiche potenzielle Wähler. Duisburg und Nürnberg (Platz 14 und 15) zählen knapp weniger, alle anderen aber mehr als 500.000 Einwohner - die drei größten Städte Berlin, Hamburg und München haben zusammen rund 6,5 Millionen.

Dresden ist somit nur das jüngste Beispiel eines gravierenden Bedeutungs- und Machtverlustes, der die Union vor allem im urbanen Umfeld trifft. In den vergangenen Jahren kassierten CDU und CSU bei Oberbürgermeister-Wahlen Niederlagen in Serie - von Berlin bis München und von Köln bis Leipzig und Dresden. Dabei gingen auch einstige Bastionen verloren, wie etwa Stuttgart, wo die Union mit Manfred Rommel und Wolfgang Schuster vier Jahrzehnte lang den Oberbürgermeister stellte, oder Frankfurt am Main, wo Petra Roth nach 17 Jahren von Peter Feldmann (SPD) abgelöst wurde. Sogar in Düsseldorf, der Hauptstadt des zumeist SPD-regierten Nordrhein-Westfalens, stellte die CDU mit Joachim Erwin und Dirk Elbers 15 Jahre lang das Stadtoberhaupt. Heute regiert hier mit Thomas Geisel wieder ein Sozialdemokrat.

Der Verlust der OB-Posten wird mitunter dadurch kompensiert, dass CDU oder CSU in einigen Stadträten (München, Frankfurt oder Dresden) noch immer die stärkste Fraktion stellen. Er ist allerdings auch nur Teil eines Problems, dass die Union derzeit einzig im Bund nicht zu verfolgen scheint. Denn auch auf Landesebene gingen seit 2010 mit Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Thüringen wichtige Schaltzentralen verloren. Sogar in den ländlichen Hochburgen gibt es Einbußen. Im saarländischen Landkreis St. Wendel stimmten 2014 zwar stolze 51,4 Prozent der Wahlberechtigten für die CDU - 2004 waren es aber noch 61 Prozent. Und auch in den "tiefschwarzen" niedersächsischen Landkreisen Cloppenburg und Vechta, wo die Union traditionell deutlich mehr als 60 Prozent einfährt, wanderten zuletzt einige Stimmen zur Konkurrenz.

Die Wähler in Baden-Württemberg sind noch wechselfreudiger. Hier hat sich die CDU mit dem langjährigen strikten Abgrenzungskurs gegenüber den Grünen - gerade in den ländlichen Regionen - keinen Gefallen getan. Doch auch die Freien Wähler sind vielerorts längst zur zweistelligen Konkurrenz geworden.

Ursachenforschung: Ein Beauftragter, Beschlüsse und eine Kommission

Das Problem ist der Union nicht neu. Schon 2006 versuchte sich die Konrad-Adenauer-Stiftung an einer Analyse des regionalen Wahlverhaltens und der Erfolgsaussichten der Parteien. Die Untersuchung blieb allerdings ohne klare Befunde. Ob Großstädter generell andere politische Orientierungen pflegen als Bewohner von ländlichen Räumen und inwieweit die Region das Wahlverhalten prägt, vermochten die Autoren nicht eindeutig zu beantworten.

Philipp Mißfelder versuchte es sechs Jahre später mit einem eindringlichen Appell, begann die verbale Rückeroberung der Städte aber mit einem Lob des Landlebens.

Traditionell sind CDU und CSU im ländlichen Raum besonders stark. Hier, wo erfolgreiche mittelständische Unternehmen, die in ihren Bereichen oft zur Weltspitze zählen, aber auch viele familiär geprägte Landwirtschaftsbetriebe das wirtschaftliche Rückgrat bilden und Hunderttausenden Menschen sichere Arbeitsplätze bieten, schlägt das Herz der Union.

Philipp Mißfelder, November 2012

Die Deutsche Weinkönigin von 1995 und heutige CDU-Vorsitzende von Rheinland-Pfalz glaubt ohnehin nicht, dass sich ein Gefühl für Großstädte "von oben verordnen" lasse. "Unser Land besteht nicht nur aus Latte-Macchiato-Bistros", gab Julia Klöckner 2014 zu Protokoll.

Kai Wegner, der "Großstadtbeauftragte" der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, will aber gerade zeigen, dass seine Partei "das großstädtische Lebensgefühl versteht" und über Stadtentwicklung, Wohnungsbauförderung oder Mietpreisbremsen ebenso mitreden kann wie über internationales Flair und moderne Lebenswelten. Auf seiner Homepage hat er eine Linksammlung angelegt, die das beachtliche Medienecho auf die Großstadt-Pleiten der Union dokumentiert.

Wie sich Wegner moderne Großstadtpolitik vorstellt, bleibt allerdings ebenso vage wie die "Hamburger Erklärung", die im Januar dieses Jahres als Beschluss des CDU-Bundesvorstandes veröffentlicht wurde. Unter der Überschrift "Das Richtige tun für lebenswerte Städte und Metropolen" reiht sich 12 Seiten lang ein Gemeinplatz an den nächsten.

Die Attraktivität von großen Städten und Metropolen hängt besonders von einer dynamischen Wirtschaft, einer exzellenten Bildungs- und Forschungslandschaft, zukunftsfähigen Mobilitätssystemen und einem attraktiven Lebensumfeld mit hoher Lebensqualität ab.

Hamburger Erklärung der CDU, Januar 2015

Wenn der Beschluss als Versuch gedacht war, die Hamburger und Bremer kurz vor den Bürgerschaftswahlen noch auf die Seite der Union zu ziehen, ging er gründlich daneben. Im Februar stimmten in Hamburg 15,9 Prozent für die CDU, drei Monate später waren es in Bremen 22,4 Prozent.

Im März 2015 präsentierte die CDU übrigens schon das nächste Strategiepapier - diesmal für die ländlichen Regionen. Grundsätzliches soll aber eigentlich erst eine Kommission zur Parteireform erarbeiten. "Meine CDU 2017" wird von Generalsekretär Peter Tauber geleitet, dürfte aber auf eine ähnliche Schwierigkeit stoßen wie andere Unionsaktivitäten in Sachen Metropole.

Gerade bei den Wahlen zum Oberbürgermeisteramt geht es nicht nur um Inhalte, sondern auch um Personen - und damit direkt auf die nächste Baustelle von CDU und CSU, deren "Nachwuchsarbeit" seit Jahren einiges zu wünschen übrig lässt.

Wahlsieger ohne Massenbasis

Das Großstadtproblem der CDU ist ein beliebtes Thema geworden, das sich allerdings ausweiten ließe. Denn die Sozialdemokraten, die beim ersten Blick auf die wichtigen Oberbürgermeister-Wahlen wie der urbane Trendsetter aussehen, müssen sich über ihre großstädtische Klientel ebenfalls Gedanken machen.

Das glaubt zumindest Forsa-Chef Manfred Güllner, der dem Wählerschwund der SPD im März einen "Hauptstadtbrief" gewidmet hat. Güllner vergleicht die abgegebenen Stimmen im Verhältnis zur Anzahl der Wahlberechtigten über mehrere Jahrzehnte und kommt zu einigen bemerkenswerten Ergebnissen.

So hat die SPD in ihrer einstigen Hochburg im sozialdemokratischen Musterland Hessen, in Frankfurt am Main, zwischen 1968 und 2011 über drei Viertel (75,7 Prozent) ihrer einstigen Wähler verloren. Gewählt wurde sie bei der letzten Kommunalwahl im März 2011 in Frankfurt am Main nur noch von 9 von 100 Wahlberechtigten. (…)

Um fast zwei Drittel schrumpfte die Wählerschaft der SPD zwischen 1966 und 2014 in München und zwischen 1967 und 2011 im Westteil Berlins. Selbst in Städten im Ruhrgebiet, einst die "Herzkammer" der SPD, verlor die SPD wie auch in den beiden Großstädten der Rheinschiene - Köln und Düsseldorf - und in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover jeweils um 60 Prozent ihrer früheren Wähler.

Manfred Güllner, März 2015

Ein Blick auf die Wahlbeteiligung legt überdies die Frage nahe, wie repräsentativ manche Abstimmungen überhaupt noch sein können (Demokratie wird zu einer exklusiven Veranstaltung) - und diese Frage betrifft auch alle anderen Parteien. In Hamburg machten 56,5 Prozent von ihrem Wahlrecht Gebrauch, in Bremen nur 50,2 Prozent. An der Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt in Düsseldorf beteiligten sich im Juni 2014 gerade einmal 41,7 Prozent - die Reihe der Beispiele ließe sich lange fortsetzen.

Neuer Anlauf im September

In Dresden wird CDU-Mann Markus Ulbig gar nicht erst zur Stichwahl antreten. Seine Wähler dürften sich vorwiegend an Dirk Hilbert (FDP) halten, für den auch Pegida-Kandidatin Tatjana Festerling, die auf 9,6 Prozent kam, verzichtet. Hilbert war rund vier Prozentpunkte hinter Sachsens Wissenschafts- und Kunstministerin Eva-Maria Stange (SPD) gelandet, die von Linken, Grünen, SPD und Piraten unterstützt wurde. Er geht nun als Favorit in die zweite Runde am 5. Juli.

Derweil richten sich die Hoffnungen der CDU bereits auf den September. Am 13. muss sich Wuppertals Oberbürgermeister Peter Jung, der seit 2004 im Amt ist, gegen Kandidaten von SPD, Grünen, Linkspartei, Die Partei und Pro NRW behaupten. Das könnte schon wieder schwierig werden: Während die örtliche CDU ihren Spitzenkandidaten auf eine ungültige Domain verlinkt, gibt sich sein SPD-Kontrahent ein ganzes Stück onlineaffiner.

Wuppertal ist mit seinen knapp 350.000 Einwohnern allerdings nicht die einzige Kommune, in der im September wieder über die Großstadt-Tauglichkeit der Union philosophiert werden kann. Auch in Köln, Leverkusen, Bonn oder Essen wird ein neuer OB gewählt.

Vielleicht müssen die Parteien am Ende tatsächlich einen zweistelligen Millionenbetrag investieren, um den Ursachen ihrer urbanen Misserfolge auf die Spur zu kommen. Auf 13,1 Millionen Euro bezifferte die Konrad-Adenauer-Stiftung im Jahr 2006 die Kosten für 820.000 Telefoninterviews, die eventuell zu verlässlichen Ergebnissen kommen könnten. 2015 dürfte das Ganze noch ein wenig teurer werden.