Beschränkte Entgrenzung
Seite 2: Wir beherrschen die Natur nicht, sondern befinden uns in ihr
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Der Philosoph Bernhard Waldenfels hat dies als etwas beschrieben, das erworben und gestaltet und nicht bloß vorgefunden wird:
Aus der Lebenswelt als dem universalen Boden und Horizont unseres gemeinsamen Weltlebens wird eine Kernzone ausgesondert, eine Heimwelt, die sich vom Hintergrund einer Fremdwelt abhebt. Die Heimwelt zeichnet sich einmal aus durch Vertrautheit und Verlässlichkeit; sie bildet eine Sphäre, in der wir uns auskennen - und dies in dem doppelten Sinne des Kennens und Könnens. Die Vertrautheit wurzelt in einer affektiven Verankerung. (…) Mangelnde Strukturierung, die zu Monotonie und Gleichförmigkeit führt, fördert die Austauschbarkeit der Umweltaspekte. Mangelnde Zentrierung, die mit einer Übermobilität zusammenhängt, schwächt die Verankerung im Raum und gleicht den Lebensraum dem homogenen Raum an, der nur noch austauschbare Raumstellen enthält. (…) Die Geborgenheit sucht man im ländlichen Raume, in der größeren Ursprungsnähe des Ländlichen, oder in der Zeit, in der größeren Ursprungsnähe früherer Epochen. Provinzialismus und Historismus steuern das ihrige bei zu dieser doppelten Fluchtbewegung, die sich in der Architektur mit Händen greifen lässt. Politisch gesprochen bedeutet dies den Rückgang auf die vorpolitische Sphäre des Oikos, des ehemaligen Hauswesens, das geschrumpft ist zum Heim der Kleinfamilie. Der heimische Mikrokosmos wird zum Ersatz für den verlorengegangenen Kosmos im Großen.
Bernhard Waldenfels: Heimat in der Fremde. In: Informationen zur Raumentwicklung, Nr. 7-8, Bonn, 1987, S. 488 ff.
Bezogen auf die Sphäre des Urbanistischen besteht somit eine Aufgabe bei der Transformation der Stadt darin, erstens die Verknüpfungen zu verbessern und die Systemgrenzen "aufzuweichen" und durchlässig zu machen, zweitens aber auch darin, Systeme wieder zu überlagern und wieder mehrfach zu kodieren: Gesellschaft krankt nicht nur räumlich an der Isolierung und Verfestigung von Teilsystemen, Gesellschaft wird in Zukunft auch kulturell und wirtschaftlich nur noch in der Überlagerung und vielfachen Vernetzung von Teilsystemen vital und konkurrenzfähig bleiben.
Stadt – in welcher Form auch immer – verlangt, dass jedes gebaute Element und jede Institution nicht nur sich selber dienen, sondern einen Teil zum Ganzen der Stadt beiträgt.
In Friedrich Engels eher wenig beachteten Schrift Die Dialektik der Natur gibt es eine Passage, die sich dem Verhältnis von Mensch und Natur und dessen unbeabsichtigten Nebenfolgen widmet.
Seine zentrale Botschaft darf man so zusammenfassen: Wir beherrschen die Natur nicht, sondern befinden uns in ihr. Engels Argumentation fußt dabei auf drei Einsichten:
Erstens, die Natur ist nicht bloß des Menschen Umwelt, sondern seine Mitwelt und sein Fundament. Am Ast, auf dem man sitzt, zu sägen: Das ist keine gute Idee.
Zweitens, der Mensch sollte der Natur nicht als Eroberer begegnen, sondern als guter Treuhänder, der durch Schenkung Erworbenes ("Gratisleistungen der Natur") gleich gut oder verbessert an nachfolgende Generationen weitergibt.
Drittens, der Mensch greift in die Natur ein. Er muss sie bebauen, um seine eigene Existenz zu sichern. Aber er sollte sie aus Eigeninteresse auch bewahren und deshalb die Wirkungen seines Handelns bedenken, sei es im Nahraum oder in der Ferne. Gerade unumkehrbare Folgen sollte er zu vermeiden trachten und potenzielle Kipp-Punkte im Auge behalten.
Wenn man das nun übersetzt in unseren Alltag, dann geht es beim öffentlichen Raum, dann geht es bei Parks, Plätzen, Uferzonen verstärkt darum, sie aufgrund der stetigen Nachverdichtung der Städte immer wieder auf ihre Funktionalität, ihren Zustand und ihre Gestaltung zu überprüfen und an aktuelle Bedarfe und Herausforderungen anzupassen.
Pathetisch ausgedrückt: Der urbane Freiraum ist der Ort, an dem das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung neu austariert – und an dem das Gemeinwohl sowohl unter Krisen- als auch Digitalisierungsbedingungen ausbuchstabiert wird.