Beschränkte Entgrenzung
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Wie die Pandemie die Digitalisierung des urbanen Lebens vorangetrieben und entzaubert hat: über Krisen, Digitalisierung und die Wonnen des Nahraums
Der französische Philosoph Bruno Latour verarbeitet in seinem neuen Buch Où suis-je? (Wo bin ich?) Lektionen aus dem Lockdown – und entdeckt den Menschen als ortsgebundene Kreatur.
Aus der Illusion eines unendlichen Raums, an die uns das wissenschaftliche Weltbild seit vier Jahrhunderten gewöhnt habe, als wären alle Grenzen nur zum Durchbrechen und Überschreiten da, hätten wir (endlich!) zur realen Ortserfahrung als terrestrische Wesen zurückgefunden.
Gleichzeitig – und dem nicht widersprechend – nimmt die Teilhabe an der Digitalisierung rapide zu. Die Auswirkung des Corona-Virus verstärken einen Trend, der bereits vor einiger Zeit eingesetzt hat.
Viele Dinge, die sonst in der physischen Welt stattfanden, sind nun in die digitale Welt hinübergewandert. Es wirkt, als seien die Tore zum Cyberspace sperrangelweit geöffnet, und alles eile, ihn in Besitz zu nehmen und zu besiedeln. Aber ist dem wirklich so?
Was 1995 William J. Mitchell in City of Bits als Zukunftsvision schlechthin skizzierte, ist doch längst verblasst zu einem grauen Alltag, der zwar Elektronik und Virtualität zu festen Größen in der Gesellschaft, nicht aber den realen Raum obsolet gemacht hat.
Allerdings ist dieser Raum nicht mehr derselbe wie früher: Er sieht in weiten Teilen anders aus, er wird anders genutzt, und er hat auch eine andere Bedeutung als etwa in der Bürgerstadt des 19. Jahrhunderts. Auch die seit der Renaissance gültige Beziehung zwischen Subjekt und Objekt hat sich grundlegend verändert.
An die Stelle der rein visuellen Wahrnehmung tritt ein Vibrieren und Oszillieren; urbaner Raum und Körper entgrenzen sich wechselseitig. Das Äußere findet seine Bühne im Inneren, so wie das Äußere als Projektionsfläche gleichsam animiert wird.
Die Konsequenzen zeigen sich auch im Sozialverhalten: Räumliche Nähe (proximity) mit dem Zwang zur Rücksichtnahme wird heute oft als persönliche Einschränkung empfunden und deswegen durch Erreichbarkeit (accessibility) ersetzt.
Das mündet in ein bestimmtes Siedlungsverhalten – namentlich einem ausufernden Eigenheimbau – und geht auch mit einer bedenklichen Abnahme der örtlichen Toleranz gegenüber Nachbarn und Geräuschen einher.
Zwar scheinen Form und Gestalt der heutigen Stadt hinreichend raffiniert und ausbalanciert genug, um allen denkbaren Ansprüchen gewachsen zu sein. Aber die Mischung im Behälter hat sich verwandelt.
Im urbanen öffentlichen Raum etwa werden kaum noch Konventionen gepflegt, vielmehr findet die wachsende Individualisierung hier das Forum, um sich variierte Interessen neu auszuhandeln (wenn sie nicht von Covid-19 in die Schranken gewiesen werden).
Ob nun die Rapper-Szene oder Flaneure, Party-People, erlebnishungrige Shopper oder Menschen, die sich einfach Wind, Luft und Sonne aussetzen wollen: Sie suchen sich ihre Räume. Und sie verändern sie dann jeweils - durch Flashmobs etwa, durch Skaten, durch Genuss von Grillgut und alkoholhaltigen Getränken, aber auch mittels Verabredung zum Tangotanzen. Sie beanspruchen für sich eine eigene Öffentlichkeit.
Das stört manche Zeitgenossen, andere halten es für gut. Doch auf elementare Art und Weise geht es um die res publica. Freilich sollte man da keine falschen Erwartungen hegen.
Sinnvolle Überlagerung der analogen mit der digitalen Welt
Besonders bildhaft wird dies auf den Piazzas und Plazas, die man aus Italien oder Spanien kennt: Klare räumliche Fassung, erkennbar historisch und gewachsen, immer etwas los, das Wetter stets warm und sonnig. Hat das mit unserem Lebensalltag nicht ähnlich viel zu tun wie das "Traumschiff" oder andere zuckrige Vorabendserien?
Es wäre naiv, sich den öffentlichen Raum als Ort des Wohlgefallens und der Harmonie vorstellen, und ihn nach einem entsprechenden Strickmuster zu gestalten.
Zugleich geht es um die Frage, wie wir eine möglichst sinnvolle Überlagerung der analogen Welt mit der digitalen schaffen, und zwar nicht allein kommerziell gesteuert.
An dieser Stelle kommt – Stichwort Hochwasserkatastrophe – ein weiterer Aspekt ins Spiel. Dass nämlich ein (zu) hoher Grad an Rationalisierung und Spezialisierung in der Siedlungsstruktur sich in Zeiten immer unvorhersehbarer Bedrohungen als nur unzulänglich flexibel erweist.
Denn die Effizienz einzelner Räume oder Bauwerke beruht auf einem zu engen Verständnis ihrer funktionalen Einbettung in ein System, in dem sie selbst nur eine sehr begrenzte Breite von urbanen Funktionen übernehmen.
Vielfach fehlt es an Nutzungsflexibilität und Anpassungsfähigkeit gegenüber demografischen und strukturellen Entwicklungen. Wir brauchen städtische Strukturen – physische wie auch institutionelle –, die nicht bloß ein Mittel zur einseitigen Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen oder eine Verbindung zwischen Produzent und Konsument darstellen, sondern als lernendes, flexibles System vielfältige Rollen innerhalb der Stadt übernehmen können.
Mit anderen Worten: Beim Ausdeuten von Corona oder anderer Desaster wäre es ein Irrtum, das Paradigma der "Keimfreiheit" auch im Urbanen anzuwenden, gleichsam einen sterilen Städtebau zu betreiben. Richtig ist eher das Gegenteil.
Stadtplanung hat die Aufgabe, Möglichkeitsräume zu erschaffen. Widersprüche und Brüche sind dabei nicht Makel, sondern häufig wichtiger Katalysator für Neues.
Der öffentliche Raum war nie begehrter als während der Pandemie, die Menschen wollen sich treffen und austauschen, das Cocooning ist ja eher eine Zwangshandlung.
Zugleich warfen die entsprechenden Sicherheitsvorschriften (z.B. social distancing) ein grelles Schlaglicht auf das Miteinander in der Stadt.
Und so, wie das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Krise neu ausgehandelt wurde, so wäre es - wie umgekehrt auch die Individualität - als ein dialektisches System zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit zu denken. Konsequenterweise müsste diese Erkenntnis in einen Städtebau einmünden, die anderen Parametern folgen: Nämlich in der Beachtung und behutsamen Gestaltung der Grenzen. Will man Zusammenhalt und Gemeinschaft in Nachbarschaft, Quartier und Stadt fördern, muss man Privatsphäre und uneingeschränkten Rückzug im Privaten gewährleisten.
Das Private ist Basis für die Gemeinschaft. Gleichzeitig müssen im Umkehrschluss Räume für die Gemeinschaftsbildung angeboten und gestaltet werden.