Bildung und Lernen: "Schule muss anders"
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Gegen Mängelwirtschaft im Schulwesen regt sich Widerstand. Aber: Weniger Opposition gilt dem gar nicht so heimlichen "heimlichen" Lehrplan, der aus den Strukturen der Schule folgt. Was falsch ist am Unterricht.
Seit zwei Jahren gibt es in Berlin eine Kampagne, die "Schule muss anders" heißt. In ihr sind Eltern, Schülerinnen, Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen und Erzieherinnen engagiert.
Sie organisieren Veranstaltungen und Demonstrationen für die Ziele "Mehr Personal und mehr Ausbildungsplätze", "Teams aus unterschiedlichen Berufen an die Schulen", "Mehr Zeit für Beziehung und Team – Entlastung für alle".
Nach Angaben des Deutschen Lehrerverbandes fehlen 2022 bundesweit 40.000 Lehrer. Die Schulbauten sind häufig in marodem Zustand. Das Lehramtsstudium und eine gründliche didaktische Ausbildung gelten den Bildungsbehörden faktisch zunehmend als unnötiger Luxus. Sie halten eine behelfsmäßige Anlernung im Schnellverfahren für ausreichend.
"Breite Bildungsbewegung"
Laut dpa-Meldung vom 28.7.2021 sind mittlerweile in Berlin bereits 7.000 "Quereinsteiger" unter den 33.000 Lehrer. Einer Forsa-Umfrage zufolge geben zwei von drei Schulleitungen bundesweit an, dass Quereinsteiger nicht systematisch pädagogisch vorqualifiziert werden – an Grundschulen sagen das sogar drei von vier Schulleitern (Hoock 2019).
Die in der Kampagne "Schule muss anders" Engagierten wollen in Berlin eine breite "Bildungsbewegung" auf die Beine stellen.
Angesichts der Misere wären eigentlich bei ihren Demonstrationen mindestens 15.000 Teilnehmer statt der bisher regelmäßig knapp 1.500 zu erwarten. Die materielle Misere steht allerdings so im Vordergrund, dass Zurückhaltung herrscht in Bezug auf weitergehende Kritik an Formen und Strukturen der Schule.
Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Schule ab der 5. Klasse.
Stoff-Fülle, Zusammenhangslosigkeit und Wechsel der Themen im Stundentakt
Die Stoff-Fülle, die in den Unterrichtstag gedrängt wird, sorgt für Zeitdruck und Hektik. Ein Pädagogikprofessor aus Linz schreibt (Stangl 2003):
Selbst die Grundregeln der Lernpsychologie werden nicht berücksichtigt: Man kann maximal 4 Stunden konzentriert lernen – verteilt auf den ganzen Tag. Wenn man eine einstündige Lerneinheit hinter sich hat, ist das Gehirn bis zu zwei Stunden lang damit beschäftigt, diese Inhalte abzuspeichern.
Gewiss bestehen Schulstunden aus verschiedenen Phasen. Schüler nehmen nicht die ganze Zeit etwas Neues auf. Gute Lehrer räumen dem abwechslungsreichen Üben Zeit ein. Wer die Stoff-Fülle kritisiert, gerät leicht in das Fahrwasser, Bildungsansprüche zu reduzieren.
Das Argument, man habe für seine spezielle Berufstätigkeit viele Schulinhalte nicht gebraucht, legt einen problematischen Maßstab an. Häufig resultiert die Überforderung auch daraus, dass vor lauter Stoff die Fächer den Schülern nicht didaktisch so nahegebracht werden können, dass sie ein Verständnis und eine Wertschätzung für den spezifischen Zugang zu einem Teil der Wirklichkeit erlangen.
Geschieht das nicht, so stöhnen Schüler zu Recht darüber, dass sie mit den Kernfächern kaum zu Rande kommen, und erfahren Nebenfächer als zusätzlich überfordernde Zumutung.
Etwas wissen sollen Schüler schon. Die Schule gewöhnt sie aber häufig daran, dass ihrem eigenen weiteren Nachfragen und -forschen enge Grenzen gesetzt sind. Kaum beginnen Schüler, sich in etwas zu vertiefen, steht bereits der nächste Lernstoff oder ein anderes Lernfach auf der Tagesordnung.
Die Schüler hüpfen von Thema zu Thema, von Stoff zu Stoff. Es ist ihr Problem, ob sie den Informationssalat jemals unter einen Hut bekommen. Keinen kümmert es.
Waldrich 2007, 51
Schüler werden an die Zusammenhangslosigkeit des Wissens gewöhnt. Ein Thema wie z. B. England kommt zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Schulfächern (Englisch, Geschichte, Geographie, Sozialkunde) verdünnt und vereinseitigt vor. Einerseits wird Wissensdurst mobilisiert. Ohne ihn ließen sich keine Kenntnisse erwerben. Andererseits wird der Appetit auf Wissen immer wieder gestoppt.
Der Wechsel der Themen im Stundentakt bereitet Schüler darauf vor, keine "Umschaltschwierigkeiten" haben zu sollen bei völlig disparaten Anforderungen.
Schüler und Lehrer dürfen sich geradezu nichts "unter die Haut gehen lassen", sie dürfen sich nicht ernsthaft auf die Materie einlassen, sie sind sonst für die nächste Stunde nicht mehr fit. [...] Die Stundeneinteilung verhindert, dass die geistigen Gehalte irgend tiefer in den Kern der Person eindringen.
Rumpf 1966, 160f.
Auch Jahrzehnte später ist der Anteil des fächerübergreifenden Unterrichts klein, der ein Thema aus verschiedenen Perspektiven behandelt. Absprachen zwischen Lehrern über die Behandlung eines Themas in verschiedenen Fächern stoßen auf viele Hindernisse.
Die Zersplitterung des Wissens entspricht einer Gesellschaft mit hoher Arbeitsteilung und Spezialisierung. Das Wissen bleibt fragmentiert und beschränkt sich häufig auf pragmatisch, technisch oder sozialtechnologisch zu lösende Fragen. Experten wissen viel über wenig. "Das Ganze existiert [...] überhaupt nicht" für sie (Waldrich 2007, 81).
Diese Schule bereitet auf eine Existenz vor, "in der auf sich ständig ändernden Märkten höchste Flexibilität, Wechsel und rapide Anpassung zweckdienlich sind" (Ebd., 100). Schülergehirne ähneln dann Festplatten, auf denen allerhand gespeichert ist sowie die Routine, die Kenntnisse bei passender Gelegenheit abrufen zu können.
"Prozessbezogene Kompetenzen"
Eine Gegentendenz zur Dominanz von abfragbarem Wissen besteht in prozessorientierten Kompetenzen. Schüler sollen in Bezug auf ein ihnen präsentiertes offenes Problem selbständig die Lösungswege auswählen und ihre Vorgehensweise begründen können.
In den bundesweit 2005 neu formulierten Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz wurde diesen langfristigen Kompetenzen ein gleichwertiger Rang neben den inhaltsorientierten Zielen eingeräumt.
Folgerichtig testen die obligatorisch vorgesehenen Vergleichs-Arbeiten (Vera) in der 3. und 8. Klasse im großem Umfang prozessorientierte Kompetenzen. Faktisch wird oft auf die Vera-Testung kurzfristig trainiert. Lehrer üben dann die Vera-Aufgaben der letzten Durchläufe, um sich nicht zu "blamieren". Dies widerspricht jedoch einer langfristig anzulegenden Entwicklung von prozessorientierten Kompetenzen. Sie haben gewiss ihren Wert, zu ihrer Überschätzung besteht aber kein Anlass.
Zum Problem werden sie, wo es um mehr geht als um isolierte Aufgaben und deren jeweilige "Lösung". (Dem Alltagspragmatismus gilt das als das non plus ultra bzw. als unübersteigbar. Zur Fragwürdigkeit des Alltagspragmatismus vgl. Creydt 2022.)
In Bezug auf psychische, soziale und gesellschaftliche Probleme sind übergreifende Strukturen zu begreifen. Erst das ermöglicht eine Antwort auf "die Frage, warum jeweils gerade dieses und kein anderes Problem sich stellt oder gestellt wird, aus welchen Zusammenhängen das Aufkommen des Problems selbst wieder zu verstehen ist" (Holzkamp 1976, 354).
Die im günstigen Fall kreative "Lösung" bestimmter einzelner Probleme ist häufig ein Vorgehen, das das Bewusstsein für die not-wendige Transformation des jeweiligen "Ganzen" blockiert.
Diese Herangehensweise passt zu einer Situation, in der die Nutznießer des jeweiligen familiären, organisatorischen oder gesellschaftlichen Systems wissen:
Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles verändert.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa