Bildung und Lernen: "Schule muss anders"

Seite 2: Umfassendes Lernen

Folgen Schülern intensiv ihrem inhaltlichem Interesse an einem Thema und vertiefen sie sich darin, so können sie angesichts der Eile des Durchmarschs durch den Lernkanon in anderen Fächern ins Hintertreffen geraten.

Der ständige Zeitdruck führt zur oberflächlichen Behandlung der Themen. Er fördert die Immunisierung gegen Inhalte. Es kommt zum "Verlust ihrer subjektiven Bedeutsamkeit" (Boenicke u. a. 2004, 16).

Das "vorzügliche Lernkind" gleicht einem Schwämmchen, "welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung ins Ich aufgespeichert hat" (Robert Musil). Tiefere Dimensionen des Stoffs zu erschließen, erfordert affinitives im Unterschied zu definitivem Lernen (Galliker).

"'Affinitive' Zu- und Abwendungen" sind im Unterschied zu "'definitiven' gekennzeichnet durch […] ein 'Sich-Zurücklehnen', Übersicht-Gewinnen, […] die Aufhebung von Festlegungen und Beschränkungen durch das In-den-Blick-Nehmen des 'Ganzen'" (Holzkamp 1995, 328).

Thematisch dominiertes expansives Lernen ist demnach [...] immer auch ein Prozess der Vermeidung von Einseitigkeiten, Fixierungen, Verkürzungen, Irrwegen, Sackgassen beim Versuch der Gegenstandsannäherung. Dies wiederum kann nicht durch eine angespannte operative Lernplanung und konsequente Zielverfolgung o. ä. gelingen.

Holzkamp 1995, 480f.

Benotung und instrumentelles Verhältnis zu den Unterrichtshalten

Der Unterricht gewöhnt die Schüler häufig an eine Zielverschiebung. Das Kriterium ist dann nicht mehr, "was von der Sache her und für sich selbst betrachtet bedeutsam ist." Stattdessen lautet nun die Frage: "Was bekomme ich dafür, wenn ich mir etwas einpräge, diese Handlung ausführe, mich so und so verhalte oder wenigstens ein bisschen so tue" als ob ? (Waldrich 2007, 93, vgl. a. 22).

Die Benotung legt es Schülern nahe, nicht zu viel Mühe in Themen zu investieren, die sich nicht in relevanten Noten auszahlen bzw. von darauf bezogenen Aktivitäten ablenken. Die Benotung erschwert es dem Schüler in einer dem Lernen abträglichen Weise, sich Rechenschaft abzulegen von seinem Nichtwissen, statt es zu vertuschen.

Schon in der Schule lernen Schüler vor allem, eine Leistung eigener Art zu erbringen. Sie gewöhnen sich daran, etwas oft Unangenehmes und für sie Uneinsichtiges (das Lernen eines Stoffes, dessen Bedeutung ihnen oft nicht klar ist) hinter sich zu bringen, weil sie vorrangig über die erzielte Note etwas vom Lernen haben.

Soweit Schüler auswählen können, werden sie aufgrund der schulischen Dominanz der Note über den Inhalt jenen Stoff vorziehen, bei dem sie (durch Vorwissen oder Neigung etc.) leichter eine gute Note erzielen. Das Nachsehen haben diejenigen Inhalte, von denen sie vielleicht gern mehr wüssten, dies aber eben auch mehr Arbeit nach sich zöge.

Damit aber nicht genug. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen wird auch in puncto schulisches Wissen gern so getan, als ob es sich nur um Mittel handele, über die das souveräne Subjekt später frei verfügen könne, wenn es die Lehrjahre hinter sich und die "Herrenjahre" erreicht habe.

Diese Fiktion sieht von den abträglichen Effekten des instrumentellen Verhältnisses zu Inhalten auf die Subjektivität ab.

Wer die Schule durchlaufen hat, dem fällt oft gar nicht mehr auf, dass ihm auch ein ganzes Stück seiner Lebendigkeit und des wirklichen Interesses an der Welt genommen wurde. Wie kommt es sonst, dass auch Akademiker häufig keine Bücher lesen, dass ihnen philosophische oder weltanschauliche Fragen gleichgültig sind.

Waldrich 2007, 93

Der Satz "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir" bekommt angesichts dieser negativen Effekte schulischer Sozialisation eine bittere Bedeutung.