Bio ist eine Produktion für die verwöhnten Söhne und Töchter von Wohlstandsgesellschaften

Seite 3: "Die größte Lüge ist, dass es 'gesunde' Lebensmittel gibt"

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Aber welche sind nach Ihrer Meinung denn die größten Lügen der Lebensmittel- und Wellness-Industrie?

Udo Pollmer: Dass es "gesunde" Lebensmittel gibt. Das Wort "gesund" hat in unserer Kultur den Begriff "fromm" ersetzt. Früher brauchte man genauso Priester, die haben die Äcker mit Weihwasser besprengt und erklärt, welche Produkte "heilig" und welche des Teufels sind. Um die Menschen zu disziplinieren, gab es ausgedehnte Fastenzeiten.

Allerdings verfolgt der Begriff "gesund" heute eher einen teuflischen Ansatz: Es handelt sich stets um Produkte, die kaum jemand mag. Alles was gerne gegessen wird, ist im Umkehrschluss "ungesund". Also wenn Kinder Pizzen mögen, dann handelt es sich um böses Fastfood. Lehnen sie den bitteren Brokkoli mit dem Hinweis ab, "diese Bäume ess' ich nicht", dann muss das natürlich gesund sein. Dabei haben Kinder einen weitaus natürlicheren Instinkt als Mütter, deren Empfindungen durch boshafte Ernährungsaufklärung destabilisiert wurden.

Pizza ist eine abwechslungsreiche, nahrhafte Speise. In Italien wurden Generationen von Bambini mit Pizza und Pasta aufgezogen, damit sie groß und stark werden. Kaum mögen unsere Kinder das genauso, ist das ganze Geschwätz von der "Mittelmeerkost", die so rasend gesund sei, vergessen und es folgen verlogene Kampagnen für eine "gesunde Kinderernährung" mit fettarmen Körnern. Hauptsache die Kinder mögen es nicht, kriegen Bauchweh und haben dauernd Hunger. Damit lassen sich Familien zerstören.

"Wie die Zucht, so die Frucht" - die Wiederkehr der ach so gut gemeinten "Schwarzen Pädagogik" ... Kann es sein, dass der ganze, inhaltlich entleerte Öko-Hype als rein lebensstilistische Attitüde seit den 70ern den realen, subkulturellen Kern ökologisch berechtigter Kritik völlig verhunzt hat und sich zum seelischen Selbstzweck und zum eigenen Geschäftsmodell entwickelt hat?

Udo Pollmer: Die Zeiten ändern sich: Die Industrieproduktion in den Nachkriegsjahrzehnten scherte sich herzlich wenig um die Umwelt oder gar "Rückstände". Man war berauscht von den technischen Möglichkeiten, vom Überfluss nach Jahrhunderten des Mangels. Und so kam, was kommen musste: eine Gegenbewegung, die sich mit den Nebenwirkungen, mit den Schadstoffen in der Muttermilch, mit dem Schwinden der Wildnis durch Kultivierung befasste.

Vergleicht man beispielsweise den Rhein, der in der damaligen Zeit die "Kloake Europas" war, mit heute, so ist er dank der Umweltschutzbewegung wieder ein sauberes und fischreiches Gewässer. Die aktuellen Diskussionen um Stickoxide aus dem Automobilverkehr, das Nitrat im Grundwasser, die Pestizidrückstände in Nahrungsmitteln sind im Vergleich zu 1980 geradezu lachhaft niedrig.

Damals wurde von der Lebensmittelüberwachung einmal Kalbfleisch angetroffen, da hatte eine Portion die Östrogenwirksamkeit von 2000 Antibabypillen, heute sucht man Rückstände mit hochempfindlichen Methoden oft vergebens. Also stilisiert man harmlose Stoffe zum "Supergift" hoch wie Acrylamid - obwohl der Mensch eine Evolution mit dem Feuer hat und bestens an Röstprodukte angepasst ist. Hinter diesen Kampagnen steckt nicht die Sorge um Gesundheit, Umwelt oder Tierschutz, sondern der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Bereicherung durch leicht gesammelte Spenden.

Können Sie sich erklären, warum man in Deutschland denkt, dass eine original italienische Pizza besonders knusprig sein muss - in Italien landet so etwas als verbrannter Keks im Mülleimer!? Mit Lebensmittel-Mythen ist es ja wie mit dem Stille Post-Spiel: Latte macchiato ist in Italien eigentlich völlig unbekannt, gilt aber als typisch italienisch, Sushi hält man für gesunde, japanische Alltags-Kost, ist aber dort in Wirklichkeit Festessen ...

Udo Pollmer: Auch in Italien finden sich ganz unterschiedliche Pizza-Philosophien. Ich habe dort auch schon in einer Hafenkneipe Süditaliens wunderbare knusprige Pizzen gegessen - ohne dass diese von ausländischen Gästen frequentiert worden wären. Womöglich spielt bei uns aber auch die Kultur des Flammkuchens und der Crepes herein, die ja sehr dünn sind.

Sind Deutsche nördlich der Rhein-Main-Linie denn überhaupt charakterlich fähig, gutes Essen zu genießen? Und mal ehrlich: Gibt es außerhalb von Bayern denn überhaupt eine kulinarische Kultur?

Udo Pollmer: Ach was, es sind doch viele Bayern als Kulturboten in aller Welt unterwegs. Als gebürtiger Norddeutscher weiß ich es zu schätzen, wenn man verschont bleibt von der ewigen Nörgelei über das Salz im Rettich, Alkohol im Bier und Fett im Käse. Wer einer sinnvollen Arbeit nachgeht, braucht Energie und speist mit Freude und Genuss - egal ob er am Bau oder im Büro schafft, er verzichtet dankend auf blähende Rohkostteller und fettarme Sojawurst, er prahlt nicht mit seinen Ernährungsmarotten, sondern lässt sich's gut gehen. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.

Sie sind ja von Hause aus Lebensmittel-Chemiker … Gibt es ein Food-Produkt, dass Sie professionell als grässlich einstufen würden - das aber trotzdem total gut schmeckt?

Udo Pollmer: In Bayern gibt es eine hübsche Redewendung: Für den, der's mog, is dös des Hekste. Jeder Mensch ekelt sich vor Speisen, die andere lieben. Nach der Landung der US-Truppen im Zweiten Weltkrieg in Europa griffen sie in der Normandie die Molkereien an und zerstörten sie, weil ihnen dank des reifenden Käses ein Duft nach "verwesenden Leichen" entströmte. Warum etwas als "grässlich" abwerten, das andere mit Hingabe essen? Die eigenen Vorlieben können niemals als Maßstab für andere Menschen dienen.

Nach all den Jahren Ihrer kritischen Interventionen, Herr Pollmer: Haben Sie noch Hoffnung, dass die Menschen irgendwann einfach mal das essen, was gut ist - und das ihnen gut tut?

Udo Pollmer: Die meisten Menschen auf dem Globus essen seit jeher genau das, was ihnen gut tut, sofern es verfügbar ist und das nötige Kleingeld vorhanden ist. Man sieht es ja am weltweit steigenden Konsum hochwertiger tierischer Lebensmittel. Die verrückten Ernährungsideologien in den arroganten und saturierten Ländern Mitteleuropas und Nordamerikas sind ein Zeichen von Dekadenz und Lebensüberdruss.

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