Bio ist eine Produktion für die verwöhnten Söhne und Töchter von Wohlstandsgesellschaften

Udo Pollmer, renommierter Lebensmittel-Experte, erklärt im Interview, warum er Fastfood aus Süditalien bevorzugt - statt Neujahrs-Diäten, Veggie-Superfood und Vagina-Gurken

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Zum Welternährungstag gab es neue Zahlen: Der Hunger in der Welt nimmt wieder zu. Gleichzeitig verkaufen sich in Deutschland zwischen Oktoberfest und der Adventszeit Diät-Bücher am besten.

"Wir Deutschen haben uns großgehungert!" - sagte die Nazi-Internatsdirektorin mit protestantischem Stolz im Romy-Schneider-Film "Mädchen in Uniform". Nachdem die Deutschen durch die kulinarisch-ästhetische Re-education nach dem WWII gelernt hatten, dass die Welt auf und um den Küchentisch nicht nur aus Kartoffeln und alemannischer "Kartoffeligkeit" (Jan Böhmermann) besteht, kehrte hierzulande erst einmal ansatzweise lukullisch-zivilisatorischer Normalzustand ein. Die Boches lernten, dass Essen nicht nur der Ernährung dient, sondern eine eklektische Kulturleistung und ein körperlicher Genuss ist - was kurioserweise seit den 80ern den angeblich typisch osmanischen Döner in einer vom türkischen Original sehr stark abweichenden Variante ja gar zum meistverkauften Imbiss in diesen nordischen Breiten werden ließ, denn nicht nur die Knoblauchsauce dazu ist in Istanbul oder Izmir völlig unbekannt.

Durch die Kaugummi-Invasion im Gefolge der GIs wurde "alles so schön zuckrig, klebrig, süß hier" (Tocotroinc). Die Verkaufszahlen von Kartoffeln sanken in den letzten Jahrzehnten tatsächlich um ein Vielfaches. In den 70ern aber verspürten so manche ob der ganzen Coca Cola, Systemgastronomie und Großkonzern-Industrialisierung eine gewisse Überfremdung durch unnatürliche Kunstprodukte.Und dutzende Lebensmittel-Skandale bis heute ließen eine essenskritische "Bewegung" entstehen, die auch barbarische Arbeitsbedingungen in den Ursprungsländern kritisierte. Während diese Arbeitsbedingungen unverändert existieren, entwickelte sich aus der Kritik am "Industrie-Essen" wiederum eine eigene Industrie - mit vermeintlich gegenkulturellem Anspruch, aber noch anspruchsvolleren Preisen für die Endprodukte.

Flankiert von den kalifornischen South Beach-Atkins-Aerobic-Diäten der 1980er und dem Follower der Fitness-Popkultur, dem fast globalen TV-Trend von Koch-Shows in den 90ern und dem aktuellen Vegan-Werbehype ist diese mittlerweile ebenso milliardenschwer mit den globalen Schwerpunkten von Produktion und Konsumtion in akademisch-"linksliberal" geprägten Schichten Kaliforniens und Mittel- und Nordeuropas - obwohl der vegane "organic"-Lifestyle ursprünglich als umfassend politisch-individualistische Lebenshaltung in den frühen 90ern aus der teils subproletarischen, radikal konsumismus- und werbekritischen Surfcore-Jugendkultur des Straight X im Großraum Los Angeles und Südkalifornien entstand.

Der studierte Lebensmittelchemiker Udo Pollmer - von der Politik-Zeitschrift Cicero zu den "wichtigsten Vordenkern der Naturwissenschaften" gezählt - war in Deutschland 1982 einer der ersten, der mit Sachbüchern wie "Iß und stirb! Chemie in unserer Nahrung" und TV-Docs wie "Schrott und Korn" (ARD) auf fragwürdige Methoden in der Lebensmittel-Industrie hinwies. Nach diversen Lehrtätigkeiten an Universitäten und in der Ausbildung von Ernährungsberatern war Pollmer lange Jahre Kolumnist des beflissenen und damals neuartigen Umwelt- und Politik-Magazins "Natur". In weiteren sehr quellenreichen Büchern, die auch im Ausland erschienen, setzte er sich mit Lebensmittel-Panschereien, populären Fitness- und Ernährungsirrtümern (u.a. in "Еsst endlich normal!"), dem Мythos Cholesterin, den PR-Fakes von Nahrungsergänzungspräparaten und dem vermeintlichen Gesundheits- und Ökologie-Kult einer hysterischen Nachrichten-Gesellschaft auseinander ("Wer gesund isst, stirbt früher"), die sich von Halbwissen nähre (zuletzt: "Don't Go Veggie!").

Seit 1995 ist er wissenschaftlicher Leiter des Euroäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften und arbeitet auch als Unternehmensberater. Für Frosta entwickelte er die gesamte Umstellung aller Produktlinien, die sämtlich frei von künstlichen Aromen sind. Von der Hamburger Lebensmittelstiftung wurde er mit der Konzeptionierung des Deutschen Zusatzstoffmuseums beauftragt. Seit seinem Studium publiziert Pollmer auch in nationalen und internationalen Fachperiodika wie der Zeitschrift für Allgemeinmedizin, Agro-Industry Hi-Tech, Chemical Senses oder Migration & Diffusion, u.a. zu frühkindlicher Geschmacksdispositionierung durch das Kunstaroma Vanillin, die bereichernde Kosmopolitisierung nationaler Küchenkulturen, die Handelsgeschichte einzelner Lebensmittel oder mikrobiellen Risiken.

Pollmers Untersuchungen lösen nicht selten heftige Reaktionen von Lobby-Organisationen aus, so nach einem von ihm herausgegebenem Heft-Special zu Lebensmittelzusätzen für die Zeitschrift Öko-Test. Neben seiner Kolumne in der Branchenschrift "Catering Management" moderiert er seit nun 20 Jahren das wöchentliche ARD-Radiomagazin "Mahlzeit" . Pollmer ist engagiert in der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung, die Erstunterzeichnerin des "Unteilbar"-Demonstrationsaufrufes war.

"Unterschiedlichen physiologischen Typen dieselbe "gesunde Ernährung" zu empfehlen, erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung"

Das Oktoberfest 2018 ist Geschichte - historisch erstmals ohne neuen Bierverkaufsrekord. Die essensreiche Adventszeit aber steht bevor ... Man könnte meinen, in der westlichen Welt hätten dann wieder alle ein schlechtes Gewissen gegenüber sich selber ob ihrer saisonal gesteigerten Kalorienzufuhr. Sie auch?
Udo Pollmer: An hohen Festtagen versichert sich seit jeher gegenseitig, Anhänger desselben Glaubenssystems zu sein. Es hat den gleichen Stellenwert wie das Schmücken des Tannenbaums oder das Verkleiden zur Fasnacht, nur eben deutlich lustloser. Wem es an Einsicht fehlt, der mag seine Verehrung des allmächtigen Kaloriengottes gern zur Schau stellen. Als Naturwissenschaftler und Agnostiker bin ich da außen vor.
Wenn man dem Ton so mancher Diskussionen in der Öffentlichkeit traut, stehen die Menschen in den Industrieländern ja alle kurz vor schweren Krankheiten, weil sie fast alle falsch essen. Ist das so?
Udo Pollmer: Wer das nötige Einkommen hat, wird leicht Beute der Schakale im Gesundheitswesen. Dazu stilisiert man allerlei Missbefindlichkeiten zur drohenden Krankheit hoch. In Deutschland gibt es laut Google schon zwei Dutzend "Volkskrankheiten Nummer 1". Je mehr Angst die Menschen haben, desto leichter kann man sie als Patienten abfischen. Dann lassen sie sich wie eine Weihnachtsgans ausnehmen.
Der Hinweis auf "ungesunde Ernährung" löst bei vielen Menschen Schuldgefühle aus. Sie entfalten zerstörerische Kräfte. Übrigens: In meiner Kindheit bekamen Männer, die sich zum Hausarzt verirrt hatten, gewöhnlich vom Arzt den Ratschlag, weniger Sex zu haben, denn der schwäche den Körper. Die damals populäre Idee vom Rückenmarksverlust ist um nichts absurder als die moderne Vorstellung, "Fast Food" führe zu den üblichen "Volkskrankheiten Nr.1".
Eigentlich können ja auch nur Menschen oder Tiere gesund sein, aber nach sprachlicher Definition ein Lebensmittel nicht, höchstens gesundheitsfördernd o.ä. Aber woher soll der dumme Durchschnittsbürger denn nun erkennen, was gesundheitsfördernd ist?
Udo Pollmer: Das ist eigentlich ganz einfach: Jene Lebensmittel, denen unsere Ernährungsdamen alle Krankheiten dieser Welt an den Hals dichten, können Sie problemlos essen, solange Sie Appetit darauf haben und auch vertragen. Aber sobald eine ungeliebte Speise das schmückende Beiwort "gesund" trägt, halten Sie lieber Distanz. Essen muss bekömmlich sein, weil Unbekömmliches niemals "gesund" sein kann.
Und lebt jemand wirklich besser oder länger, wenn er auf sein Salat-Dressing verzichtet? Braucht man wirklich Obst und Gemüse? Schließlich gibt es keinen bekannten Fall, dass Leute an täglicher Tiefkühlpizza mit Salami verstorben sind ...
Udo Pollmer: Da passt ein Exkurs in die Evolution des Menschen: Nomaden sind auf tierische Lebensmittel eingestellt. In den Savannen Afrikas oder der Eiswüste der Arktis gedeihen kaum essbare Pflanzen. Dieser Personenkreis wird von Pflanzenkost krank. Pflanzen enthalten, da sie nicht weglaufen können, gewöhnlich Abwehrstoffe, sog. Antinutritiva. Ihre Aufgabe besteht darin, dem Fraßfeind den Appetit zu verleiden und seine Gesundheit spürbar zu schädigen, damit er sich an Konkurrenzpflanzen gütlich tut.
Die Aufgabe, diese Abwehrstoffe zu entgiften, übernehmen in unserem Körper die Sulfotransferasen. Ihre eigentliche Aufgabe besteht allerdings darin, Stresshormone abzubauen, wenn die Gefahr vorüber ist. Eine dauerhafte Anflutung dieser Hormone führt über kurz oder lang zum metabolischen Syndrom. Bei Nomaden reichen die Sulfotransferasen gewöhnlich nur zum Abbau der körpereigenen Stresshormone. Müssen diese Transferasen Pflanzenstoffe entgiften, bleiben die Stresshormone unbehelligt und schädigen den Organismus. Auch in den westlichen Industrienationen gibt es genug Menschen mit dieser Nomaden-Genetik.
Jäger und Sammler, bzw. deren Nachfahren sind besser an Pflanzenkost angepasst. Ihr Körper produziert so viel Sulfotransferasen, dass diese sowohl zum Entgiften als auch zum Stressabbau ausreichen. Um jedoch Stärke in größerer Menge zu vertragen, bedarf es weiterer genetischer Voraussetzungen. Die Menschen, die an den Ackerbau angepasst sind, verfügen über einen präabsorptiven Insulinreflex und aktivere Amylasen. Diesen ganz unterschiedlichen physiologischen Typen - die hier stark vereinfachend skizziert wurden - ein und dieselbe "gesunde Ernährung" zu empfehlen, erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung.
Wissenschaftliche Studien ergeben nach Meinung vieler ja eh immer nur das, was sich der bezahlende Auftraggeber als Ergebnis wünscht? Gibt es dann überhaupt wahre und klare Erkenntnisse, da ja auch der akademische Betrieb in Europa durchökonominisiert ist und es immer politisch-strukturelle Verbindungen in Institutionen gibt, aber auch in vermeintlich neutralen, eher linken NGOs?
Udo Pollmer: Früher haben Staat und Wirtschaft vorgegeben, was bei kritischen Themen veröffentlicht werden durfte und was nicht. Seit Jahren sind die Daten, die die Industrie abliefert, zumindest in Deutschland belastbar, wenn auch nicht immer vollständig. Wissenschaftlich wertlos sind viele Publikationen der NGO. Die dienen gewöhnlich nur zum Beschmieren der Leimruten, damit mehr Spendengelder kleben bleiben. Die bemühen sich schon gar nicht mehr um den Anschein von Wissenschaftlichkeit oder Seriösität.
Und wie bewerten Sie dann Organisationen wie die WHO?
Udo Pollmer: WHO und FAO sind hilfreich, solange sie sich Problemen wie der Bekämpfung des Hungers oder der Verbesserung der Hygiene in Ländern der 3.Welt widmen. Inzwischen zielt man eher auf das Geld der Menschen in den Industrienationen. Denen wollen sie Medikamente verkaufen, die keiner braucht, man denke nur an die sinnlose Vogelgrippe-Impfung vor einigen Jahren.
Just follow the money … Die Lebensmittelindustrie ist die milliardenstärkste der Welt, aber auch mit den Abermilliarden, die weltweit in "Gesundheits"-Kampagnen ausgegeben werden, könnten wohl der Hunger und Armutskrankeiten global abgeschafft werden. Agenturen, Funktionäre, Campaigner - alle leben sehr gut davon, nur die Betroffenen nicht. Muss man sich mittlerweile einfach nur selber das Label "sozial" geben, um über jede Kritik und die kritische Nachfrage nach den real positiven Auswirkungen des eigenen Tuns sakrosankt erhaben zu sein?
Udo Pollmer: So ist's. Offenbar haben diese Gruppen im Hintergrund Gönner. Auch "umweltbewusstes", "soziales" und "gerechtes" Treiben kann unerwartete Folgen zeitigen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Das Internet hätte ja ganz allgemein ein globales Zeitalter universaler Aufklärung für jeden einläuten können. Jeder kann gegensätzliche Informationen divers gegenchecken und den wahren Gehalt herausfiltern. Kurioserweise aber befördert es den Wahnsinn … Kann es sein, dass die Menschen gar nicht klug und vernünftig werden wollen - selbst, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu schenkt?
Udo Pollmer: Die Internet-Unternehmen sind nicht dazu da, Suppe an die Armen zu verteilen. Wenn die Verbreitung von Unsinn, von gefährlichen Unsinn, wie im Falle der Ernährungspropaganda, mehr einbringt, als Hilfreiches und Rettendes, dann geht das Geschäft vor. Jeder Schaden, der entsteht, ist für andere von Nutzen. Man hat damit ein Instrument geschaffen, das die Begehrlichkeiten aller weckt, die unsaubere Ziele verfolgen. Der Bürger ist Nutzer des Internets, nicht Eigentümer, und er bezahlt für die Leistungen meist nicht. Hier gilt die alte Regel: Wenn der Kunde für eine Leistung nicht bezahlen muss, ist er selbst die Ware. Zu verschenken hat niemand etwas.
Gerade beim Alltagsthema Ernährung hypen angeblich unkommerzielle Influencer permanent neue Must haves, die schon beim ersten Anschein völlig absurd sind wie Superfood oder der Mega-Trend "leichte Mittelmeerkost", der mit dem wirklichen deftigen Essen der Menschen in Marokko, Israel, Andalusien, Katalonien oder Neapel Null übereinstimmt - und es wird ein Milliardengeschäft … Da fällt einem fast schon ein Satz von Goebbels ein, wonach eine Lüge nur groß genug sein muss, damit die Menschen sie auch glauben!?
Udo Pollmer: Na bitte! Weil den Veganerinnen das Grünzeug schon zum Hals rauskommt, stecken sie sich die Gurken nun in die Vagina, nicht nur, um diese durch geschickte Bewegungen zu "reinigen", sondern auch, um so "Vitamine und Mineralstoffe" aufzunehmen. Mit dieser debilen Idee haben vegane Influencer einen Volltreffer gelandet. Andere haben angefangen, weil es Celebrities vorgemacht hatten, den Mutterkuchen, d.h. die menschliche Nachgeburt, zu essen, es mangelt im Internet nicht an Rezepten. Statt Bratwurst gibt's jetzt halt "Kuchen" von Muttern. Wir streben also wieder dem Kannibalismus zu. Das ist dann echtes Superfood, denn der Mensch enthält logischerweise alles, was der Mensch braucht. Manchmal bleibt einem nur noch der Sarkasmus.

"Das Wort 'gesund' hat in unserer Kultur den Begriff 'fromm' ersetzt"

Tja, Gott schenkt uns die Speisen, aber der Teufel schickt uns die Köche ... Besonders pervers wirken bestimmte Ernährungstrends wie z.B. low carb ja vor dem Hintergrund, dass durch die interkontinentalen Handelsmechanismen immer Menschen woanders darunter leiden und sterben: Palmöl, Geflügel, Fischfang, Tomaten, Milchpulver etc. etc.!?
Udo Pollmer: Die einen heischen durch "gesunde Ernährung" nach dem Ewigen Leben, die anderen wollen durch "bewusste Ernährung" die Welt vor dem Untergang "retten". Ersteres ist Zeichen von Narzissmus, letzteres ein Nullsummenspiel. Die verpönten Ölpalmen produzieren gigantische Mengen an Öl, andernorts müsste man dafür die zehnfache Fläche roden.
Wirklich schädlich für die Umwelt ist doch die aberwitzige Idee von der Energie vom Acker. Rein mengenmäßig ist das für die Energieversorgung bedeutungslos, hat aber massive Folgen für die Versorgung mit Lebensmitteln und das Preisniveau. Dafür wird gerodet und zerstört! Dabei dürfen wir auch den Ökolandbau nicht vergessen. Die Erträge pro Hektar sind deutlich niedriger als bei sachgerechter Produktion. Man benötigt also die doppelte Fläche für den gleichen Ertrag. Wollten wir die Menschen mit "bio" verköstigen, bräuchten wir noch einen zweiten Globus im Kofferraum. Es ist eine Produktion für die verwöhnten Söhne und Töchter von Wohlstandsgesellschaften.
Von Präsident Obama ist bekannt, dass er starker Raucher ist und sich hauptsächlich von Hamburgern ernährt, während die First Lady milliardenschwere Kampagnen dagegen initiierte. Das klingt nach Wasser predigen, aber Wein trinken. Kann es sein, dass politisch Verantwortliche sich Sachen gönnen, die sie den "Menschen da draußen im Lande" (Bundeskanzler Kohl) missgönnen - Prinzip Ceaucescu?
Udo Pollmer: "Gutmenschen" sind halt oft Heuchler. Was Frau Obama den Schulkindern zugemutet hat, war aus Sicht ihrer Schützlinge vielfach nur "zum Kotzen". Die Kinder waren so verzweifelt, dass sie das "gesunde" Zeug reihenweise in den Müll kippten. Wenigstens eine Schule musste sogar die Ernährungstrulla entlassen, um die Gebühren für die Müllabfuhr bezahlen zu können.
Apropos "bezahlen" - wieviel Geld benötigt man eigentlich, um gut und gerne in Deutschland satt und köstlich zu leben?
Udo Pollmer: Das ist eine Frage des Anspruchs. Dennoch sind heute die Kosten für den Inhalt des Kühlschranks dank der hohen Produktivität unserer Landwirtschaft kein großes Thema - zum Glück.
... zumindest im globalen Vergleich, denn alles ist relativ, gell.
Udo Pollmer: Das wird aber nicht so bleiben. Es steigen die Mieten samt Nebenkosten, die Gebühren, die allerorten erhoben werden, die Finanzierung des Sozialsystems über die Betriebe, der vom Staat erzwungene Verwaltungsaufwand, die Finanzierung des Wahnsinns der "Energiewende". Das schlägt natürlich auch auf die Lebensmittelpreise durch und verteuert sie, so dass der eigentliche Warenwert einen immer geringeren Anteil des Verkaufspreises ausmacht. Eigentlich absurd. Die geplante "Agrarwende" wird ebenfalls zu einer deutlichen Verteuerung führen und erhebliche Umweltschäden nach sich ziehen. Mir schwant da nichts Gutes.
Gut gemeint ist eben schlecht gemacht ... Einen Vegetarier erkennt man ja bekanntlich daran, dass er es einem gleich erzählt. In der Veggie-Hauptstadt Berlin gibt es inzwischen schon eine Art postmoderner Portemonnaie-Apartheid zwischen Dinkel-Kiezen und Hartz IV-Ghettos. Sind bestimmte Ernährungstrends und Weltrettungsweisheiten nicht ganz einfach infantile Luxusprobleme und narzisstische Ausflusshobbies überverwöhnter Wohlstandsbürgerkinder, die zu viel Zeit und zu große Kühlschränke haben - im unverdienten Glück, ins Paradies geboren worden zu sein … während andere zu den Sozialtafeln müssen?
Udo Pollmer: Sie sprechen ein wahres Wort gelassen aus. Danke!

"Die größte Lüge ist, dass es 'gesunde' Lebensmittel gibt"

Aber welche sind nach Ihrer Meinung denn die größten Lügen der Lebensmittel- und Wellness-Industrie?
Udo Pollmer: Dass es "gesunde" Lebensmittel gibt. Das Wort "gesund" hat in unserer Kultur den Begriff "fromm" ersetzt. Früher brauchte man genauso Priester, die haben die Äcker mit Weihwasser besprengt und erklärt, welche Produkte "heilig" und welche des Teufels sind. Um die Menschen zu disziplinieren, gab es ausgedehnte Fastenzeiten.
Allerdings verfolgt der Begriff "gesund" heute eher einen teuflischen Ansatz: Es handelt sich stets um Produkte, die kaum jemand mag. Alles was gerne gegessen wird, ist im Umkehrschluss "ungesund". Also wenn Kinder Pizzen mögen, dann handelt es sich um böses Fastfood. Lehnen sie den bitteren Brokkoli mit dem Hinweis ab, "diese Bäume ess' ich nicht", dann muss das natürlich gesund sein. Dabei haben Kinder einen weitaus natürlicheren Instinkt als Mütter, deren Empfindungen durch boshafte Ernährungsaufklärung destabilisiert wurden.
Pizza ist eine abwechslungsreiche, nahrhafte Speise. In Italien wurden Generationen von Bambini mit Pizza und Pasta aufgezogen, damit sie groß und stark werden. Kaum mögen unsere Kinder das genauso, ist das ganze Geschwätz von der "Mittelmeerkost", die so rasend gesund sei, vergessen und es folgen verlogene Kampagnen für eine "gesunde Kinderernährung" mit fettarmen Körnern. Hauptsache die Kinder mögen es nicht, kriegen Bauchweh und haben dauernd Hunger. Damit lassen sich Familien zerstören.
"Wie die Zucht, so die Frucht" - die Wiederkehr der ach so gut gemeinten "Schwarzen Pädagogik" ... Kann es sein, dass der ganze, inhaltlich entleerte Öko-Hype als rein lebensstilistische Attitüde seit den 70ern den realen, subkulturellen Kern ökologisch berechtigter Kritik völlig verhunzt hat und sich zum seelischen Selbstzweck und zum eigenen Geschäftsmodell entwickelt hat?
Udo Pollmer: Die Zeiten ändern sich: Die Industrieproduktion in den Nachkriegsjahrzehnten scherte sich herzlich wenig um die Umwelt oder gar "Rückstände". Man war berauscht von den technischen Möglichkeiten, vom Überfluss nach Jahrhunderten des Mangels. Und so kam, was kommen musste: eine Gegenbewegung, die sich mit den Nebenwirkungen, mit den Schadstoffen in der Muttermilch, mit dem Schwinden der Wildnis durch Kultivierung befasste.
Vergleicht man beispielsweise den Rhein, der in der damaligen Zeit die "Kloake Europas" war, mit heute, so ist er dank der Umweltschutzbewegung wieder ein sauberes und fischreiches Gewässer. Die aktuellen Diskussionen um Stickoxide aus dem Automobilverkehr, das Nitrat im Grundwasser, die Pestizidrückstände in Nahrungsmitteln sind im Vergleich zu 1980 geradezu lachhaft niedrig.
Damals wurde von der Lebensmittelüberwachung einmal Kalbfleisch angetroffen, da hatte eine Portion die Östrogenwirksamkeit von 2000 Antibabypillen, heute sucht man Rückstände mit hochempfindlichen Methoden oft vergebens. Also stilisiert man harmlose Stoffe zum "Supergift" hoch wie Acrylamid - obwohl der Mensch eine Evolution mit dem Feuer hat und bestens an Röstprodukte angepasst ist. Hinter diesen Kampagnen steckt nicht die Sorge um Gesundheit, Umwelt oder Tierschutz, sondern der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Bereicherung durch leicht gesammelte Spenden.
Können Sie sich erklären, warum man in Deutschland denkt, dass eine original italienische Pizza besonders knusprig sein muss - in Italien landet so etwas als verbrannter Keks im Mülleimer!? Mit Lebensmittel-Mythen ist es ja wie mit dem Stille Post-Spiel: Latte macchiato ist in Italien eigentlich völlig unbekannt, gilt aber als typisch italienisch, Sushi hält man für gesunde, japanische Alltags-Kost, ist aber dort in Wirklichkeit Festessen ...
Udo Pollmer: Auch in Italien finden sich ganz unterschiedliche Pizza-Philosophien. Ich habe dort auch schon in einer Hafenkneipe Süditaliens wunderbare knusprige Pizzen gegessen - ohne dass diese von ausländischen Gästen frequentiert worden wären. Womöglich spielt bei uns aber auch die Kultur des Flammkuchens und der Crepes herein, die ja sehr dünn sind.
Sind Deutsche nördlich der Rhein-Main-Linie denn überhaupt charakterlich fähig, gutes Essen zu genießen? Und mal ehrlich: Gibt es außerhalb von Bayern denn überhaupt eine kulinarische Kultur?
Udo Pollmer: Ach was, es sind doch viele Bayern als Kulturboten in aller Welt unterwegs. Als gebürtiger Norddeutscher weiß ich es zu schätzen, wenn man verschont bleibt von der ewigen Nörgelei über das Salz im Rettich, Alkohol im Bier und Fett im Käse. Wer einer sinnvollen Arbeit nachgeht, braucht Energie und speist mit Freude und Genuss - egal ob er am Bau oder im Büro schafft, er verzichtet dankend auf blähende Rohkostteller und fettarme Sojawurst, er prahlt nicht mit seinen Ernährungsmarotten, sondern lässt sich's gut gehen. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.
Sie sind ja von Hause aus Lebensmittel-Chemiker … Gibt es ein Food-Produkt, dass Sie professionell als grässlich einstufen würden - das aber trotzdem total gut schmeckt?
Udo Pollmer: In Bayern gibt es eine hübsche Redewendung: Für den, der's mog, is dös des Hekste. Jeder Mensch ekelt sich vor Speisen, die andere lieben. Nach der Landung der US-Truppen im Zweiten Weltkrieg in Europa griffen sie in der Normandie die Molkereien an und zerstörten sie, weil ihnen dank des reifenden Käses ein Duft nach "verwesenden Leichen" entströmte. Warum etwas als "grässlich" abwerten, das andere mit Hingabe essen? Die eigenen Vorlieben können niemals als Maßstab für andere Menschen dienen.
Nach all den Jahren Ihrer kritischen Interventionen, Herr Pollmer: Haben Sie noch Hoffnung, dass die Menschen irgendwann einfach mal das essen, was gut ist - und das ihnen gut tut?
Udo Pollmer: Die meisten Menschen auf dem Globus essen seit jeher genau das, was ihnen gut tut, sofern es verfügbar ist und das nötige Kleingeld vorhanden ist. Man sieht es ja am weltweit steigenden Konsum hochwertiger tierischer Lebensmittel. Die verrückten Ernährungsideologien in den arroganten und saturierten Ländern Mitteleuropas und Nordamerikas sind ein Zeichen von Dekadenz und Lebensüberdruss.

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